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Ausgabe:

1984

Spalte:

132-134

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kienzler, Klaus

Titel/Untertitel:

Glauben und Denken bei Anselm von Canterbury 1984

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 2

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und der freien Entscheidungsfähigkeit als einem Gnadengeschenk
Gottes zu unterscheiden (123). Seine wissenschaftliche Leistung
bestand darin, daß er das Problem der menschlichen Freiheit nicht
nur als Glaubensproblem, sondern auch als ein theoretisches Problem
erfaßt und behandelt hat (125), ohne aber wohl das zentrale Anliegen
Gottschalks - die konkrete Vermittlung der Erlösung an Ungetaufte -
in seiner Tiefe begriffen zu haben.

E.s Hauptwerk ist unbestritten Periphyseon (132-255). Offensichtlich
wollte er damit „die christliche Wahrheit gegen Irrlehrer und
Zweifler mit den Mitteln der Wissenschaft" sichern (134). E. bekennt
sich zum wissenschaftlichen Streben nach Weisheit, er will das Ewige
und Unveränderliche betrachten, die erste Ursache von allem, Gott,
und die Entstehungsgründe von allem (137). So wird Periphyseon ein
„wissenschaftliches Handbuch der christlichen Wahrheit in ihrer
Gesamtheit" (138,246), also nicht ein Hexaemeron, wenn es auch auf
der Exegese von Gen 1-3 aufbaut. Daß nur die christliche Wahrheit
die wahre Weisheitslehre ist, will E. wissenschaftlich sichern. Die
„divisio naturae" ist ihm eine „logische Einteilung der Wirklichkeit
im Ganzen, die diese in ihrer Ganzheit beläßt" (154). Die Glaubenswahrheit
will er als die eindeutige, mit keiner anderen Wahrheit in
Widerspruch stehende Wahrheit aussagen (242). So verwirklicht E. in
seinem Hauptwerk, was er zuvor im Prädestinationsstreit gefordert
hatte, nämlich den Dreischritt Schriftbeweis - Erweis der wissenschaftlichen
Vernünftigkeit - Autoritätsbeweis. Vf. hat das an Hand
einer ausführlichen Inhaltsangabe des Werkes aufzuweisen versucht,
dabei aber auch festgestellt, daß E. den zweiten Schritt, auf den es ihm
doch vor allem ankommt, nicht unwesentlich modifiziert hat. Da ihm
im wesentlichen eine Erzählung in mystischem Gewand vorlag, also
keineswegs schon eine Aussage in wissenschaftlicher Form, hat E. zur
allegorischen Exegese gegriffen, um mit deren Hilfe „die einzelnen
Wahrheiten von der Ebene der Bildsprache umzusetzen in die Ebene
der Begriffssprache" (244). War bisher die christliche Wahrheit eine
Wahrheitsbehauptung, für deren Richtigkeit sich die Autoritäten
Gott, Kirche und Väter verbürgten, so ist sie jetzt eine zusätzlich wissenschaftlich
gerechtfertigte Wahrheitsbehauptung. Christliche Theologie
ist durch E. strenge Wissenschaft geworden. Die Geltung des
Widerspruchssatzes steht über der des Autoritätsbeweises (2 54 f).

Zuletzt untersucht Vf. den Begriff der Entstehungsgründe („primordiales
causae", 256-295), wobei erder Frage nachgeht, ob es E. gelungen
ist, „aus dem Blickwinkel der Entstehungsgründe auf in seinem
Sinn wissenschaftliche Weise die gesamte Wirklichkeit als ein in sich
geordnetes Ganzes zu erweisen" (256). Ob E. den Begriff neu gebildet
hat oder nicht, hält Vf. für unentscheidbar, doch hat E. ihn in die
wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Er soll „Schöpfung und
Schöpfer als eine ungeschiedene Einheit aussagbar machen, in der die
Unterschiedenheit von Schöpfer und Schöpfung nicht nur aufgehoben
, sondern als notwendig begriffen ist" (264). Der Begriff hat sich als
eine nähere Bestimmung des Begriffs der Idee erwiesen (280). E. weiß,
daß der Begriff im Licht der Heiligen Schrift als Bezeichnung
bestimmter Erscheinungsweisen Gottes ausgelegt werden muß (287).
Dem Menschen soll es ermöglicht werden, Gottes Gedanken, die in
der sichtbaren und unsichtbaren Welt zum Ausdruck kommen, nach-
zuvollziehen und so zu einem anderen Gott („Gott kraft Gnade", 294)
zu werden, der Einsichten in die Wirklichkeit erlangt. Das ist ein
neuplatonischer Gedanke, der bei Nikolaus von Kues wiederkehrt.
Aber diese Linie zieht Vf. leider nicht aus.

Auf dieses - für E. oft hervorgehobene und evidente - neuplatonische
Erbe hätte Vf. in seiner Untersuchung wohl mehr eingehen
sollen. Sein Verdienst liegt aber darin, daß er in seiner Untersuchung
einmal eine gute Einführung in das von Alkuin inaugurierte karolin-
gische Bildungskonzept gegeben hat, daß er weiterhin E. nicht nur
klischeehaft als Vater der abendländischen Mystik oder als Vermittler
pseudo-dionysischen Gedankenguts darstellt, sondern daß er E. wohl
weithin in seiner Eigenart gerecht wird, wenn er sein Prinzip der
wissenschaftlichen Vernünftigkeit als das Neue in seinem Denken
hervorhebt. Seine Zeit hat E. nicht verstanden, aber auch nicht formlich
verurteilt. Seine Gedanken haben das mittelalterliche Denken -
sowohl orthodoxes wie heterodoxes- erheblich beeinflußt. Die Untersuchung
stellt zweifellos eine Bereicherung der Eriugena-Forschung
dar.

Freiberg Karl-Hermann Kandier

' M. A. Schmidt, Scholastik, in: KiG, Bd. 2, Lieferung G (2. Teil), S. 80f.

2 G. Haendler, Geschichte des Frühmittelaltcrs und der Germanenmission,
in: KiG, Bd. 2, Lieferung E, S. 59 und 61, Anm. 99.

A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, Gütersloh 21972, S. 25
bis 30 (ZitatS. 26).

4 F. Brunhölzl, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters,
Band 1, München 1975, S. 471 (beiSchrimpf S. 2 zitiert).

Kienzier, Klaus: Glauben und Denken bei Anselm von Cantcrbury.

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1981.413 S. gr. 8°.

Das Buch ist eine Freiburger Habilitationsschrift (1979), sein Autor
(seit 1980) Professor für Fundamentaltheologie in Augsburg.

In einer Vorbemerkung skizziert K. den „Forschungsstand", notiert
neues Interesse an Anselm, aber das Fehlen einer Monographie, die
sich mit der Methode und dem Denken Anselms im ganzen befaßt -
mit Ausnahme des Buches von H. Kohlenberger: Similitudo und
Ratio (Bonn 1972), der für ihn unersetzliche Vorarbeit geleistet habe.
Auch K. will das Gesamtwerk und das ganze Denken Anselms verstehen
.

Uber die sechs Kapitel des Buches sei einiges im einzelnen referiert
:

1 Vorverständnis von (ilauhcn und Denken

Wenn für Anselm die ratio (dieser Begriff freilich nicht im Sinne
neuzeitlicher Philosophie, 71) prineeps, Ursprung und Anfang von
allem ist (33), dann eine ratio, die ursprünglich auf das Sein bezogen
ist (wie es im weiteren der eine große Rolle spielende similitudo-
Bcgriff näher aussagt). Das Sein selbst drängt zur Wahrheit. „Es ist
nicht das Denken, das das Sein hervorbringt, sondern das Sein bringt
sich selbst zum Denken." (43) (Das erinnert an Hegel.)

Näher verhandelt wird Anselms Prinzip sola ratione, remoto
Christo, mit dem Anselm ohne Glaubensvoraussetzungen, allein aus
inneren Notwendigkeiten des Denkens, zu rationalen Entsprechungen
der Glaubensaussagen kommen will. „Es kann zwar von dieser
konkreten Glaubensgestalt abgesehen werden, damit der Anfang des
Denkens als Anfang zu sich frei wird, aber dieses eigene Anfangen des
Denkens stellt die Vorgegebenheit des Glaubens selbst nicht in
Frage." (49) Auch der Glaube ist Anfang, und K. zeigt, wie er das
Denken anregt (64), in Denken umschlägt (62, 67). „Unser Vorverständnis
weist auf Anselms Denken als Ganzes hin, dem es fortwährend
um die Einheit von Glauben und Denken geht. Das zeitgeschichtlich
und darüber hinaus bleibend Neue an diesem Denken ist
die besondere Betonung der .ratio', durch die aber die sicher scheinende
Position der ,Fides' ihrerseits wiederum provoziert wird. Wie
geht demgegenüber Anselms Denken konkret vor?" (69) Das führt
zum zweiten Kapitel.

2 Programm der ..ratio"

K. stellt fest, daß Anselm (in Monologion 1) damit einsetzt: Alle
Menschen strebten nach dem, was sie Für gut hielten (82ff). Anselm
beginne also mit dem bonum. Sein Gedanke ist nun der Schluß von
einer „unzähligen Vielfalt des Guten" (89) zu einem obersten Guten,
einem durch sich selbst Guten (per se bonum) (91), einem letzten
Grund alles Guten. „Wie aber das Denken im 1. Kapitel vom .bonum'
über ein ,unum aliquid' auf ein höchstes Gutes, ,summe bonum',
schloß, so schließt es im 2. Kapitel aus dem .magnum' auf ein höchst
Großes, .summe magnum', und im 3. Kapitel von dem Seienden