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Ausgabe:

1984

Spalte:

904-906

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Reith, Karl Friedrich

Titel/Untertitel:

Mikrologie 1984

Rezensent:

Gerber, Uwe

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 12

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Konkretheit als ebenso ,,reale" wie „irrationale Größe" (vgl. I 17), das
„Unbewußte" (82) gegenüber der künstlichen Welt des idealisierenden
Bewußtseins, wird zu dem Ort, an dem das Kommen Gottes
erwartet wird. Kutter geht in seiner Krifik am religiösen Subjektivismus
so weit, daß er den Heidelberger Katechismus nicht mehr im
Konfirmandenunterricht verwendet, weil er aus dem Christentum
eine „Seligkeitsanstalt" (104) mache, sondern ausschließlich anhand
des Römerbriefes unterrichtet. An die Stelle der Seligkeit der Seele
tritt eine „leibliche Auffassung des Heiles" (128), wobei möglicherweise
durch Blumhardt vermittelte Elemente von Octingers Denken
rezipiert werden. In den Briefen an seine Frau läßt sich mitverfolgcn,
wie in diesen Jahren Subjektivismuskritik, Vitalismus und Rcichs-
Gottes-Erwartung zu jener eigentümlichen Mixtur zusammenwachsen
, die Kutters Veröffentlichungen nach der Berufung an das Neumünster
in Zürich auszeichnet. Die Briefe dieser Zeit dokumentieren
zugleich das ungemein spannungsgeladene Verhältnis Kutters zu
Blumhardt, in dem er einerseits „das Göttliche" zu spüren glaubt, sich
aber andererseits von der Art enthusiastischer Verehrung distanzieren
will, die er bei vielen „Bollern" mißbilligt. In diesen Spannungen
reflektiert sich die Unsicherheit Kutters über seinen eigenen Weg. Der
ursprüngliche Plan, theologischer Lehrer an der Universität zu werden
, wird im Laufe der Zeit aufgegeben. Nachdem seine erste Lizen-
tiatenarbeit „Die Natur des hohenpriesterlichen Amtes Christi nach
dem Hebräerbrief' 1893 von der Berner theologischen Fakultät -
nach Kutters Vermutung wegen der darin vertretenen Blumhardt-
schen Gedanken (vgl. 159) - abgelehnt wurde, wird die zweite Arbeit
„Clemens Alexandrinus und das Neue Testament" 1896 angenommen
. Kutter, dem Blumhardt rät, nicht „ein Professor der bloß systematischen
Theologie", sondern ein „Mann des Zeugnisses" (161) zu
werden, setzt dennoch seine patristischen Studien bis zu seiner Berufung
nach Zürich fort, wie Briefe an Franz Overbeck belegen.

In Zürich, so scheint es, entlädt sich die über Jahre aufgebaute
Spannung in Kutters in rascher Folge erscheinenden Büchern, deren
prophetischer Ton („Wer kein Prophet ist, sollte nicht von Gott
reden." 166) auch in seinen Briefen fortlaufend anklingt. In „Das
Unmittelbare" (1902) werden die unterschiedlichen Elemente in
Kutters Wirklichkeitsverständnis durch seinen vitalistischen Ansatz
integriert. Die Rückkehr zum unmittelbaren Leben, das im Willen
Gestalt gewinnt und dessen Widersacher Erkennen und Reflexion
sind, bedeutet hier für Kutter zugleich die Rückkehr zum lebendigen
Gott. Was hier in philosophischer Meditation erschlossen wird, wird
in „Sie müssen" (1903) als revolutionärer Fanlärenstoß auch politisch
konkret. Dieses Buch bringt Kutter die Zusammenarbeit mit Leonhard
Ragaz, der allerdings von Anfang an die Sozialdemokratie unter
dem Aspekt des Gerichts als „Geißel Gottes" deutet und nicht wie
Kutter als „direkte Trägerin seiner Gedanken" (vgl. den ersten Brief
von Ragaz an Kutter vom 21. 12. 1903. 177f). Gerade der Briefwechsel
von Ragaz und Kutter in den Jahren von 1904 bis 1908 bietet
wichtige Einblicke in das Entstehen der religiös-sozialen Bewegung in
der Schweiz und illustriert die unterschiedlichen Akzentsetzungen in
der Deutung der sozialen Frage bei Kutterund Ragaz. Die anfängliche
Kampfgemeinschaft zwischen Kutter und Ragaz zerbricht lange vor
den öffentlichen Auseinandersetzungen in den Jahren 1910 bis 1912.
Grund dafür sind einerseits Differenzen in der Frage der Organisation
der religiös-sozialen Bewegung und hinsichtlich einer Sozial- und
Wirtschaftsethik. Ragaz drängt zum Zusammenschluß der religiössozialen
Pfarrer und Laien mit dem Ziel, auch sozialpolitische Reformen
durchzusetzen, während Kutter zunächst ausschließlich die
Pfarrer zu einem tieferen Verständnis ihrer Verkündigungsaulgabe
aufrufen will („Wir Pfarrer" 1907) und angesichts der ersten religiös-
sozialen Konferenz im April 1907 formuliert: „Unser Beitrag zur
sozialen Frage ist eine neue Predigt, nichts sonst. Es handelt sich um
Gott allein." (245) Andererseits wird eine weitere Zusammenarbeit
zwischen Kutter und Ragaz dadurch erschwert, daß Kutter auf die
persönlichen beruflichen Entscheidungen seines Freundes in einer
Weise direkt Einfluß zu nehmen versucht, die Ragaz verletzt.

Was Kutter von Ragaz trennt, die ausschließliche Betonung einer
neuen Predigt von Gott, verbindet ihn mit der neu sich formierenden
dialektischen Theologie. Hier wirkt Kutter weniger direkt auf seinen
ehemaligen Konfirmanden und Vikar Emil Brunner und mehr auf
Karl Barth und Eduard Thurneysen. Es ist manchmal verblüffend zu
sehen, wie viel das Selbsty erständnis des „frühen" Karl Barth und die
wichtigsten Stichworte seiner Theologie den Anregungen Kutters verdanken
. Noch im Juni 1920 schreibt Kutter an Thurneysen zu dessen
zusammen mit Barth publizierten Buch „Zur innern Lage des
Christentums": „Sie haben in eindringliche Worte gefaßt, was ich seit
20 Jahren auf alle mögliche - und oft sehr schwache! - Weise in die
Welt hinausgepredigt." (422) Doch je mehr Barth und Thurneysen
zur Formulierung einer Theologie weitergehen, desto mehr distanziert
sich Kutter: „Soll jetzt das Wort unseres großen und herrlichen (iottes
im Munde Jesu wieder eine Theologie werden - und grad auf unserm
Boden?" (27. 3. 1922, 429) 1925 versucht Kutter mit dem Hinweis,
die Kanzel sei „die eigentliche Arena des Reiches (iottes" (475), Barth
oder Thurneysen für seine Nachfolge am Zürcher Neumünster zu
gewinnen. Jedoch ohne Erfolg: Nachfolger Kutters wird 1926 Robert
Lejeune. Nach 1928 wird Kutter zum scharfen Kritiker „von Thurn-
eysens Gesetzespredigt und der Barth'schen Einpuppungstheologie":
„Die Herren haben zu viel Theorie, zu viel Phlegma, zu viel falsche
Gegenwartsduselei und zu wenig Zukunftskraft, zu wenig vom
Kommen Gottes im Unterschied vom schon Gekommensein!"
(28. 3. 1928, 560) Kutter deutet Barths Theologie zuletzt als „theologische
Korrektur des Pietismus, ein theozentrischer Pietismus"
(10. 12. 1929, 595), deren Bedeutung für die Theologie er nicht
bestreitet, der es aber am ..Durchbruch zu Gott selbst" fehle, worin
dcrGrund für ihren Akosmismus zu sehen sei.

Kutters vitalistische Betonung der Unmittelbarkeit des Lebens als
des Ortes, in dem sich das Kommen Gottes ankündigt, die ihn die
Gemeinschaft mit der dialektischen Theologie autkündigen läßt, als
diese sich als theologische Position konsolidiert, führt ihn auch in die
Nähe des deutsch-völkischen Irrationalismus eines Houston Stewart
C'hamberlain und eines Wilhelm Stapel. Diese höchst problematische
Seite von Kutters Predigt des Unmittelbaren dokumentiert sich nicht
nur in den Briefen an C'hamberlain und Stapel, sondern auch gerade in
der Korrespondenz (z. B. mit seinem Verleger Eugen Diederichs), die
sich mit seinen „Reden an die deutsche Nation" 1916 befaßt. Barths
weitsichtige Bemerkung, daß „der größere Teil der lesenden Menschheit
" nicht ahnen werde, „daß auch diesmal das Vergängliche ein
Gleichnis sein könnte", bezeichnet genau die Gefährlichkeit der
Identifizierung der Zeichen des Kommens Gottes mit geschichtlichen
Ereignissen und „völkischen" Bewegungen.

Diese hervorragend edierte Briefsammlung macht unübersehbar
deutlich, daß Kutter allenfalls als „Weckrufer" (A. Pfeiffer) der religiös
-sozialen Bewegung interpretiert werden kann, aber keinesfalls als
Sozialtheologe. Kutter erscheint als prophetischer Prediger des
Kommens Gottes in der Unmittelbarkeit des Lebens, und darin gehört
er zu den Vätern der dialektischen Theologie ebenso, wie er manchmal
in gefahrliche Nähe zu einem völkischen Irrationalismus kommt.
Es wäre zu wünschen, daß von dieser Edition ein Neuanstoß zur
bisher vernachlässigten wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kutters
Werk ausginge, von der auch die Fragen, die von der Korrespondenz
aufgeworfen werden, weiter geklärt werden können.

Marburg(Lahn) Christoph Schwöbcl

Systematische Theologie: Allgemeines

Reith. Karl Friedrich: Mikrolofde. Reflexionen zu einer kritischen
Theologie. Frankfurt/M.-Bern: Lang 1982. 126 S. 8' = Europäische
Hochschulschriften, Reihe XX: Philosophie. 93. Kart.sfr. 31,-.

Intention mikrologischcr Theologie ist. die herkömmliche Theologie
in den kritischen Diskurs über sich selbst und die christliche Tradi-