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Ausgabe:

1984

Spalte:

902-904

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Geiger, Max [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hermann Kutter in seinen Briefen 1883-1971 1984

Rezensent:

Schwöbel, Christoph

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Theologische Lileraturzcitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 12

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bedeutender reformierter Kirchenhistoriker gerühmt (vgl. S. 1. 23).
Seine Kirehengesehiehte wird jedoch nicht herangezogen. Caspar
Sagittarius mit seiner einflußreichen „Introductio in Historiam
ecclesiasticam" (herausgegeben von J. A. Schmidt 1723) scheint
Wetze! auch entgangen zu sein. Dafür wird man in ermüdender Weitläufigkeit
mit Dutzenden von Kleinmcistcrn bekanntgemacht. Olfen-
sichtlich hat Quantität Vorrang vor Qualität.

Was ist aus dieser voluminösen Dissertation zu lernen? Man lernt
einiges über die Art und Weise, mit der es der Kirchengeschichtsschreibung
der Orthodoxie möglieh war. vom Handeln Gottes und des
Teufels in der Kirehengesehiehte zu reden. Weithin diente dabei das
Vorstellungsmaterial der Apokalyptik als Hilfsmittel, wie überhaupt
- dies wird leider vom Autor zu wenig beachtet - die nachreformato-
rische Kirchengcschichtsschrcibung zu einem nicht unwesentlichen
Teil aus der kirchengeschichtliehen Auslegung der Johannesolfcn-
barung herauswächst. Schon Luthers Vorrede zur JohannesofTenba-
rung war ja eine Kirehengesehiehte in nuee! Wetzel kann anschaulich
machen, wie die von Melanchthon stammende Rede vom doppelten
Antichrist (Papst und Mohammed) in der Kirchengeschichtsschreibung
der Orthodoxie durchgeführt wird. Gegenüber der gewissermaßen
objektiven Rede vom Handeln Gottes und des Teufels in der
orthodoxen Historiographie wird im Pietismus die Rede vom Handeln
Gottes an die religiöse Erfahrung gebunden. In Philipp Jakob
Speners ..Wahrhaftiger Erzählung vom Pietismus" sieht Wetzel ..eine
neue Gattung von Kirchengcschichtsschrcibung" entstehen, die ihre
endgültige Form dann in August Hermann Franekes ..Wahrhaften
und umständlichen Nachricht vom Waisenhaus" erhalten soll (vgl.
S. I52ff; 159ff). Einen ersten universalkirchlichen Versuch pietistischer
Kirchcngeschiehtssehrcibung unternommen zu haben, sei das
Verdienst von Johann Wilhelm Zierold (166f. 467). Der Pietismus
konnte jedoch den Prozeß der Säkularisierung, der Loslösung der
akademischen Kirchcngeschiehtswisscnschaft von der Orientierung
an die Heilige Schrift, nicht aufhalten. Mit der pragmatischen
Methode setzt sich um 1750 die säkularistischc. untheologische und
rationalistische moderne Kirchengeschichtswissenschaft durch, die es
heute zu überwinden gilt. Friedrich Christoph Oetinger bleibt mit
seiner Schrift „Das Wichtigste in der Kirchengeschichte" (1753) die
letzte warnende Stimme des Pietismus.

Wie soll man über dieses von Buchtiteln, Namen, Zitaten. Gliederungsabschriften
. Prozentrechnungen über Stoffverteilung etc. nur so
wimmelnde Buch urteilen? Es fallen einem Zinzcndorfs Worte ein:
-Wir leben im sacculo der Vielwisscrei. Tief gehfs wohl nicht" und
Gn/endorfs daran anschließende Kluge, „daß keine suche recht
approfondirt wird: weil man von allem etwas wissen will, da wird
nicht viel ins ganze" (Londoner Predigten. II. 337). Bei der Fülle des
herangezogenen Materials bleibt dem Verfasser meist gar nichts übrig,
als an den Quellen zu nippen, selten wird wirklich daraus geschöpft.
Zuweilen hat man den Eindruck, daß mehr mit dem Taschenrechner
als mit dem Kopf gearbeitet wird. z. B. wenn in Prozcntz.ahlcn der
Seitcnumfang der nachchristlichen Kirehengesehiehte und der im
17. Jahrhundert noch zur Kirehengesehiehte gehörenden vorchristlichen
Geschichte Israels nebeneinandergestellt wird. Welche Werke
der Autor in der Hand gehabt hat. welche er nur aus der Literatur
kennt, bleibt undeutlich. Manches wird zu schnell für verschollen
erklärt, was sich mit Sicherheit noch in Bibliotheken auffinden läßt
(S. 167. 394). Manches wird für vergessen erklärt, weil Wetzel die
Literatur nicht gut genug kennt. Der nach mehrmaliger Beteuerung
„in Vergessenheit geratene" Friedrich Wilhelm Zierold ist mit dem
von Wetzel gewürdigten Werk auch schon von Albrecht Ritsehl eingehend
besprochen worden (vgl. Geschichte des Pietismus. II. Neudruck
1966, S. 383IT). Neuere Literatur wird selten herangezogen.
Uber Spcncr haben nach Tholuck auch noch andere Autoren
gearbeitet und es ist einigermaßen kühn, Speners in der neueren Literatur
vielzilicrte „Wahrhaftige Erzählung" ein Werk zu nennen, das
-wenig bekannt" sei (S. 466). Aus der neueren Literatur hätte Wetzel
auch ohne große Mühe feststellen können, daß es sich bei dem ihm

vorliegenden Bericht Franekes vom Waisenhaus von 1709 um die
dritte Auflage der berühmten ..Fußstapfen" von 1701 handelt und wie
es sich mit dem von Wetzel „nach dem Titel zu erwartenden ersten
Bericht" verhalten hat (S. 161 Anm. 673). Angesichts des Dilettantismus
bereits bei der Behandlung der für die Arbeit zentralen Autoren
und Quellen erspare ich mir die Berichtigung der vielen, bis ins Literaturverzeichnis
reichenden Fehler. Ungenauigkeiten und Flüchtigkeiten
. Daß der Begründer des Pietismus mehrmals den falschen Vornamen
„Johann Jakob" erhält (S. 22. 1 32). wollen wir freundlicherweise
dem Wirken des Teufels, hier des Druckfehlerteufels, zuschreiben,
gibt sich doch der Autor auf dem Klappentext als Mitbegründer des
Vereins „Philipp Jakob Spener-Haus" zu erkennen. Mag immer die
historisch-kritische Methode von der Aufklärungstheologie mit einem
Defizit an Theologie erkauft worden sein, die theologische Dimension
der Kirchengeschichtswissenschaft wird gewiß nicht so zurückgewonnen
werden können, daß man auf Sauberkeit und Gründlichkeit
wissenschaftlicher Methodik verzichtet und alle neueren Versuche,
historisch-kritische Methode und Theologie miteinander zu verbinden
(vgl.G. Ebeling). ganz außer acht läßt. Dies Buch mag als Zeichen
ehrlichen Wollens einer zweiten Erwcekungsbewegung Anerkennung
linden, als wissenschaftliche Leistung verdient es diese nicht.

Bochum Johannes Wallmann

[Kutter. Hermann:] Hermann Kutter in seinen Briefen 1883-1971.

Hrsg. von M. Gcigert u. Andreas Lindt unter Mitarb. von U. Hasler
u. F. Furier. München: Kaiser 1983.689 S. gr. 8° Lw. DM 78.-.

Die Edition der Korrespondenz Hermann Kutters (1863-1931) war
schon vor fast zwanzig Jahren von seinem Sohn Hermann Kutter jun.
im Vorwort seines Buches über das Lebenswerk seines Vaters angekündigt
worden. Nachdem zunächst der Basler Kirchenhistoriker
Max Geiger mit seinen Assistenten Uli Hasler und Frieder Furier, die
für den mustergültigen Anmerkungsapparat in dieser Ausgabe verantwortlich
zeichnen, die editorische Arbeit übernommen hatte, wurde
nach Geigers Tod 1978 das Werk von Andreas Lindt vollständig überarbeitet
und mit einer instruktiven Einleitung (9-27) versehen. Der
nun publizierte Band kann mit gutem Recht als ein „theologic-
gcschichtliches Ereignis" (Umschlagtcxt) bezeichnet werden, da er
nicht nur Person und Werk dieses Wegbereiters des religiösen Sozialismus
und der dialektischen Theologie neu erschließt, sondern
zugleich auch neues Lieht auf die Geistes- und Religionsgcsehichte im
Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wirft. Das beigefügte Verzeichnis
der erhaltenen Briefe von und an Hermann Kutter, die wieder
gesamte handschriftliche Nachlaß Kutters in der Zentralbiblio-
thek Zürich deponiert werden, ist Für die weitere Beschäftigung mit
Kutter eine wichtige Orientierung.

Die ersten Briefe aus dem Studium (1883-1886) an den Freund
Otto v. Greyerz und aus der ersten Plärrstelle in Vinelz am Bielersce
(1887-1898) an seine Braut und spätere Frau Lydia Kuttcr-Rohner
spiegeln die lebenslange Auseinandersetzung Kutters mit dem Neupietismus
, dem er im Elternhaus und in der von der Berner Evangelisehen
Gesellschaft geprägten Lerberschulc begegnete. Was Kutter
dort - oft „auf dem blumigen Fußweg sprudelnder Sentimentalität"
(37)- formuliert, zeigt einerseits in der Betonung des radikalen Anspruchs
des Evangeliums das bewahrte Erbe des Pietismus und andererseits
im Verständnis der christlichen Religion als ..realc(r) Macht"
(36) die schroffe Zurückweisung jedes pietistischen oder neuprotestantischen
religiösen Subjektivismus. Reste des pictistischen Erbes
mögen auch in der zudringlich moralisierenden Art deutlich werden,
mit der der junge Pfarrer an dem in Paris studierenden Freund brieflich
Seclsorge üben will, bis Greyerz das Verhältnis bis 1902. dem
Erscheinungsjahr von „Das Unmittelbare", abbricht. Die Kritik am
subjektivistischen Religionsverständnis wird durch den Einfluß
Christoph Friedrieh Blumhardts verstärkt, den Kutter von 1889 bis
1901 wiederholt in Bad Boll besucht. Von nun an steht der „lebendige
Gott" im Zentrum von Kutters Verkündigung. Das Leben in seiner