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Ausgabe:

1984

Spalte:

899-902

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wetzel, Klaus

Titel/Untertitel:

Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1984

Rezensent:

Wallmann, Johannes

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899

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 12

900

Kinder wurden von den Landsknechten mit Brot versorgt. Kinder
holte man später in die Blockhäuser." (S. 453) In Wahrheit wurden
die Verhungernden, die die Stadt verließen, zumeist von den Belagerern
zurückgewiesen und ihrem Schicksal überlassen; nur die jungen
Frauen wurden von den Landsknechten zu ihrer Belustigung aufgenommen
.

Zum Schluß versucht der Vf. eine Zusammenfassung, die besondere
Beachtung verdient. Aus den Beobachtungen und Ergebnissen sei ein
Komplex herausgegriffen. Im Blick auf die Stadträte wird nüchtern
gefragt: ..Aber waren die Nachteile, die der Rat und die hinter ihm
stehende städtische Aristokratie im Falle einer Annahme der Reformation
hinnehmen mußte, nicht größer als der Gewinn?" (S. 525)
Nun ist „der Verlust der Glaubenseinheit der Stadt" und der alten
Zeremonien (S. 525) kein gewichtiges Argument, denn die Glaubenseinheit
war auch in der evangelischen Stadt gegeben, in der neue Zeremonien
verbindlich wurden. Der Aufstand der Gilden in Werl, die
neue Rechte verlangten, führt zu dem Urteil: „So bietet sich überall
das gleiche Bild: Die machtbewußten Glaubensrebellen werden weitgehend
von materiellen Motiven getrieben, während der um das
herrschende Gesellschaftssystem bangende Rat sich schließlich zu
jedem Kompromiß mit den Aufständischen bereit findet." (S. 530)
Erlaubt aber der Umstand, daß sich in den Städten der Kampf der
Zünfte um die Beteiligung am Stadtregiment mit der Reformation verbindet
, dieses Urteil über die „Glaubensrebellen"? Muß nicht
zwischen ständischen Kämpfen und Erneuerung der Kirche unterschieden
werden? Gewiß gibt es Verbindungen zwischen beiden, wie
z. B. die Tatsache, daß kirchliche Hierarchie und städtische Aristokratie
sich in der Regel gegenseitig stützten. Der Vf. schiebt eine
Unterscheidung schnell beiseite: „Die Grundgedanken der reformatorischen
Predigt wurden in diesen Kreisen [sc. der Handwerker]
zweifellos verstanden, spielen aber keine glaubensentscheidende
Rolle. Lediglich die in der spätmittelalterlichen Kirche vorherrschende
Überbetonung der Werkfrömmigkeit, die scheinbar die
Wohlhabenden begünstigte, könnte eine stärkere Hinwendung der
Minderheiten zur reformatorischen Theologie bewirkt haben."
(S. 532) Auch schätzt er das Risiko der „Glaubcnsrebellen" gering ein.
„Die Einführung der Reformation konnte nur durch einen Rechtsakt
des Magistrats Gesetzeskraft erlangen. Eigenmächtige Eingriffe lutherischer
Gruppemin die kirchliche Verfassung der Pfarrgemeinde, wie
wir sie in fast allen Bischofsstädten erleben, galten vor dem Recht als
Rebellion. Erst wenn es der reformatorischen Bewegung gelungen
war, den Stadtrat für die Reformation zu gewinnen, stand der Konstituierung
bzw. Legalisierung der neuen kirchlichen Ordnung nichts
mehr im Wege." (S. 524) Der Vf. übersieht, was jeden verantwortlichen
Stadtrat zutiefst beunruhigen und zum Widerstand veranlassen
mußte: Die Reformation setzte das Kanonische Recht außer Kraft
und sie verstieß gegen das Reichsrecht (Wormser Edikt 1521); kein
„Anstand" konnte sie legitimieren. Reformation bedeutete ein Wagnis
, bei dem die Existenz auf dem Spiel stand. Der Glaube muß daher
eine größere Rolle gespielt haben, als der Vf. eingestehen will. Indessen
ist ihm zuzustimmen, daß es viele materielle Gründe gab. sich auf
die Seite der Reformation zu stellen.

Ostbevern b. Münster Wilhelm H. Neuser

Kirchengeschichte: Neuzeit

VVetzel, Klaus: Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen
Protestantismus. 1660-1760. Inaugural-Dissertation.
Gießen-Basel: Brunnen Verlag 1983. VII, 591 S.gr. 8°.

Die vorliegende Arbeit, eine 1982 an der Johannes Gutenberg Universität
Mainz angenommene evang.-theol. Dissertation, untersucht
ein Jahrhundert deutscher protestantischer Kirchengeschichtsschreibung
unter der Fragestellung, ob und in welcher Weise Kirchengc-

schichte theologisch betrieben wurde, was nach dem Verständnis des
Verfassers heißt, ob und in welcher Weise man imstande war. in der
Kirchengeschichte konkret vom Handeln Gottes zu reden. Ein riesiges
Quellenmaterial - über I 10 kirchenhistorische Werke von mehr als
70 Autoren, meist Gesamtdarstellungen, Kompendien oder übergreifende
Darstellungen - werden daraufhin untersucht, ob und wie sie zu
einer theologischen Deutung der Geschichte als Handeln Gottes vordringen
.

Der Verfasser hat den Zeitraum 1660-1760 nicht zufällig gewählt.
In ihm soll sich eine schicksalhafte Umgestaltung der protestantischen
Kirchengeschichtswissenschaft vollzogen haben. Freilich denkt der
Verfasser hier nicht an die von der neueren Geschichtswissenschaft in
das 18. Jahrhundert datierte „Sattelzeit", die für die Entwicklung des
modernen historischen Bewußtseins epochemachend gewesen sein
soll (Koselleck). Pate gestanden hat wohl eher der Erweckungstheo-
logc August Tholuck mit seiner „Vorgeschichte des Rationalismus",
die nicht nur im Literaturverzeichnis auftaucht, sondern auch in
vielen Anmerkungen als letztgültige Literaturangabe für bestimmte
Autoren herangezogen wird.

Wodurch ist dieser Zeitraum 1660-1760 charakterisiert? Im ersten
Drittel dieses Jahrhunderts dominiert noch die altprotestantische
Orthodoxie, im zweiten Drittel tritt der Pietismus in den Vordergrund
- beide sind noch von einer theologischen Kirchengeschichtsschreibung
im Sinne des Verfassers bestimmt. Im letzten Drittel bahnt sich
der Übergang zum Rationalismus an, dem eine Verfeinerung der
historischen Methodik gelingt, die aber mit dem Verlust der theologischen
Deutung der Kirchengeschichte, d. h. mit dem Verlust des theologischen
Charakters der Kirchengeschichtsschreibung teuer erkauft
wird. „Für den Verlust der theologischen Sinngebung von Geschichte
wurde ein Linsengericht formaler Wissenschaftlichkeit eingehandelt."
(390) Dies das Urteil über den Übergangstheologen Siegmund Jakob
Baumgarten, bei dem „das Ende der protestantischen theologischen
Kirchengeschichtsschreibung erreicht" ist (394). Bei Baumgartens
Schüler, dem Neologen Johann Salomo Semler ist „die Grenze endgültig
überschritten zu einer nicht mehr von christlichem Glauben
und Theologie geprägten Kirchengcschichtsanschauung" (395). Der
Verfasser greift also über einen mehr als zweihundertjährigen Zeitraum
des Verfalls der protestantischen Kirchengeschichtswissenschaft
zurück, um wieder Anschluß an gesunde Theologie zu linden. Im
Resümee stellt er Überlegungen an, aufweiche Weise heute wieder
theologische Kirchengeschichtsschreibung möglich sein könne. In
Abgrenzung von dem geschichtstheologischen Entwurf Pannenbergs,
nach dem nur im Blick auf das Ganze der Geschichte, nicht aber im
Blick auf das jeweilige Einzelgeschehen von Handeln Gottes geredet
werden kann, sucht der Autor nach Kriterien, die theologische
(ieschichtsdeutung heute möglich machen. Dabei meint er vor allem
bei pictistischen Autoren vom Schlage eines Philipp Jakob Spcner
und August Hermann Francke lernen zu können. Kirchengeschichte
als Geschichte „der Ausbreitung des Evangeliums in alle Welt", als
Missions- und Erweckungsgeschichte also, soll den Hebel bilden, mit
dem Kirchengeschichte wieder als theologisches Geschäft im Sinne
des Verfassers möglich sein soll, so daß wieder vom Handeln Gottes
(und auch des Teufels!) geredet werden kann. „Der Pietismus hat dies
deutlich gemacht. Gerede hier gilt es weiterzuarbeiten." (512)

Versucht man die vorliegende Arbeit thcologiegeschichtlich einzuordnen
, so kann man sie, nachdem wir eine zweite Autklärung
offensichtlich hinter uns haben, sie einer heute breit aufschießenden
„zweiten Erweckung" zurechnen. Die Parallele mit Tholuck drängt
sich überall auf. Nicht nur in der allgemeinen Tendenz, den Rationalismus
durch Darstellung seiner Vorgeschichte zu überwinden. Auch
in dem immensen Quellcnhungcr eifert Wetzel Tholuck nach. Was er
an theologischen Lehrbüchern und Kompendien herangezogen hat,
ist wirklich erstaunlich. Bedeutendes und Zweitrangiges wird unterschiedslos
nebeneinandergestellt. Manches Bedeutende bleibt freilich
aus unerklärlichen Gründen unbeachtet. So wird der zeitweilig in
Heidelberg lehrende Johann Heinrich Hottinger zwar mehrfach als