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Ausgabe:

1984

Spalte:

893-895

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Liebeschütz, Hans

Titel/Untertitel:

Synagoge und Ecclesia 1984

Rezensent:

Stemberger, Brigitte

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 12

894

Formeln gibt es zunächst nur im Zusammenhang mit Klostergründungen
(115). Im 8. Jh. werden „consilia seniorum" erwähnt, die ein
König nicht verletzen soll (120). H. zeigt, „daß die Aera der Historiographie
, die die königliche Gewalt im politischen Handeln an den
Konsens der Großen oder den fiktiven populus bindet, mit der karo-
lingischcn Hauschronik in den austrasischen Fortsetzungen des
Fredegar beginnt" (133). Die Formel vom adligen Mitspracherecht
entstand „zur Rechtfertigung der karolingischen Usurpation und zur
Legitimierung- post festum- ihrer über die ehemals gleichgeordneten
adeligen Parteigänger und Mitgenossen immer weiter herauswachsenden
Stellung" (151). Die Kapitularien sind eine wichtige Quelle.
Pippins und Karlmanns Kapitularien zur Reform der Kirche sind die
ersten Kapitularien überhaupt, „mit ihnen setzt auch die feste Installierung
des consensus- und consilium-Elements als Mitwirkungsfor-
mel ein" (170). Das Kaisertum Karls „bringt in der Konsensfrage
keine Änderung" (180). Die Kapitularien Ludwigs des Frommen
werden weitschweifiger begründet; „regelmäßig wird der Konsens
der Großen hervorgehoben" (184). Die Untersuchung der Fürstenspiegel
lassen H. an seiner These festhalten: Rückschlüsse auf
germanische Traditionen lassen sich nicht ziehen. Isidor von Sevilla,
spamsch-westgotische Konzilien, irische Kanoncssammlungen und
Pseudocyprian zeigen eine „UnUnterscheidbarkeit von alttestamentarischer
Königsherrschaft und Bischofsherrschaft" (224). Das Wort
consilium kann auch auf das Alte Testament zurückweisen (206). Der
um 775 geschriebene Cathwulf-Brief nennt Karl den Großen den
Statthalter Gottes, unterstützt „vom consilium und der tatkräftigen
Mithilfe der episcopi und comites probati" (227). Ein „Concordia-
Konzept" führt von Karl d. Gr. zu Ludwigd. Fr. (237-244). Ermoldus
Nigellus bemühte sich. Für Ludwig „die Realität eines gefolgschaftlichen
Kriegsrates, in dem die kriegs- und beutelüsternen Großen
dem jungen und unerfahrenen König die Entscheidung aufgezwungen
haben, in ein geordnetes Schema ... zu verwandeln" (249). Der
Begriff „ministcrium" ist doppelsinnig: Einerseits soll er die Unterordnung
des Adels bestärken, andererseits legten Adlige Wert auf
• Teilhabe am von Gott verliehenen Ministerium, das sie auch unabhängig
vom König innehatten" (275). Als letzter Zeuge erklärt
Paschasius Radbertus: Einem Herrscher, der „sein officium, die Sorge
luT die ihm von Gott anvertraute ecclesia und die res publica durch
Untätigkeit vernachlässigt hat, muß eben von den Männern der
Kirche und der Welt Widerstand geleistet werden". Diese sind in
einem solchen Falle „divinituscoacti" (284).

Die Untersuchung gilt der Reehtsgeschichte; aber rechtsgeschicht-
•iche Quellen des frühen Mittelalters sind eng mit der Kirchenge-
Khichte verbunden. Diesen Zusammenhang betont H. mehrfach. Die
Wurzeln jener Entwicklung sieht er in der Antike, während er Rück-
hezüge zu germanischen Traditionen kritisch einschränkt.

Rostock Gert Haendler

Liebeschttz, Hans: Synagoge und Kcclesia. Religionsgeschichtliche
Studien über die Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum
im Hochmittelalter. Aus dem Nachlaß hrsg., mit einem Nachwort
und einer „Bibliographie Hans Liebeschütz" versehen von A.
Patschovsky. Mit einem Geleitwort von F. Martini u. P. de
Mendelssohn. Heidelberg: Schneider 1983. 260 S. gr. 8* = Veröffentlichungen
der Deutschen Akademie Für Sprache und Dichtung
Darmstadt, 55. Lw. DM 56.-.

Es ist das Anliegen der Deutschen Akademie Für Sprache und Dichtung
, dafür zu sorgen, daß bedeutende Schriften, deren Veröffentlichung
der Nationalsozialismus verhindert hatte, dem deutschen
Publikum zugänglich werden. Im Nachlaß des in Liverpool verstorbenen
deutschen Gelehrten Hans Liebeschütz (1893-1978) fand sich ein
Manuskript über die Beziehung der Kirche zum Judentum im Mittelalter
, und Marie-Louise Bulst. die die Akademie darauf aufmerksam
machte, und Alexander Patschovsky gaben es. korrigiert und mit

einem auf den neuesten Stand gebrachten Anmerkungsapparat versehen
, nun heraus. Diese Studie war die Frucht von Arbeitsgemeinschaften
, und Liebeschütz, der an der Lehranstalt Für die Wissenschaft
vom Judentum in Berlin von 1933 bis 1938 unterrichtete, reichte sie
am 7.11.1938, zwei Tage vor der Reiehskristallnaeht. beim
Schocken-Verlag in Berlin zur Vorzensur ein. Natürlich konnte sie in
Deutsehland nicht mehr erscheinen und Liebeschütz veröffentlichte
in der Emigration einzelne Kapitel daraus, wie ,Die Stellung des
Judentums im Dialogus des Peter Abaelard-, das auf Deutsch in der
MGWJ83, N. F. 47 (1939), auf Englisch erweitert in JJS 12 (1961)
erschien. Dieses Kapitel wurde vom Herausgeber aus dem vorliegenden
Band herausgenommen. Sicher ist es ein Wagnis, ein Werk, das
vom Autor nie endgültig überarbeitet und durchkorrigiert worden ist
und außerdem gar nicht in der Originalfassung, sondern nur in einer
Abschrift vorhanden war, weil das Manuskript beim Versuch, es in
den USA drucken zu lassen, verloren ging, zu veröffentlichen. Doch
Bulst und Patschovsky bemühten sich darum mit gutem Grund.
Erstens war Liebeschütz ein Gelehrter von Rang, der sich auch stets
bemühte, dies heikle Thema mit der größtmöglichen Objektivität zu
behandeln. Er versuchte stets, voll Verständnis Für die christliche Seite
die wirtschaftliehen und geistigen Hintergründe Für die antijüdischen
Einstellungen aufzuspüren. Auch ist es von unschätzbarem Wert, ein
Werk über christlich-jüdische Beziehungen zur Verfügung zu haben,
das noch nicht von den Verfolgungen des Nationalsozialismus überschattet
ist. Und schließlich ist auf diesem Gebiet in neuer Zeit nur
wenig erschienen, das einen so umfassenden Horizont aufweist.

Liebeschütz sah es als seine Aufgabe an, den Verflechtungen von
kirchlichem Denken und jüdischer Wirklichkeit nachzugehen, aus
denen die mittelalterlichen Anschauungen über das Judentum hervorgegangen
sind. Er zeigt, wie stark die Haltung des vom symbolischen
Denken geprägten mittelalterlichen Menschen durch eine
bestimmte Typologie beeinflußt wurde. Das Bild vom Juden wurde
weniger vom alltäglichen Umgang mit den Juden geprägt als vom Bild
des die Erwählung verwirkt habenden Gottesvolkes. Der Autor befaßt
sich eingehend mit der Entwicklung des Judenbildes von Paulus und
von den Kirchenvätern an; vor allem das Thema, daß sich das Judentum
durch die Ankunft Jesu von Nazareths überlebt habe, bleibt
lebendig bis herauf zu Thomas von Aquin. Er schildert aber auch die
Schwierigkeiten, die die Lehre von der Bewahrung des Judentums als
Zeuge Für das Christentum, dem Verständnis des Volkes, vor allem in
Zeiten großer religiöser Erregung bereitete. Sehr interessant ist das
kurze Kapitel über die Katharer, Für die das Judentum heilsgcsehieht-
lich irrelevant war, weil sie nicht so historisch dachten wie die offizielle
Kirche. Liebeschütz widmet ein breites Kapitel der sozialen
Stellung der Juden im Karolingerreich und der Judenfeindschaft des
Lyoner Bischofs Agobard. Er zeigt, daß Agobard generell Kritik an
den Zuständen im Reich unter Ludwig dem Frommen und seiner
Gemahlin Judith übte, doch daß gerade die Judenfrage das Feld
wurde, auf dem der Bischof den Kampf gegen die Regierung am offensten
füll ren konnte. Die Saat des Judenhasses Agobards ging erst
später, vor allem zur Zeit der Kreuzzüge, auf. Dieser widmet
Liebesehütz auch ein sehr interessantes Kapitel, das unter dem Titel:
'The Crusading Movement in its Bearing on the Christian Attitüde
towards Jewry' in JJS 10 (1959) inzwischen erschienen ist. Erbenützt
dafür die Untersuchungen Erdmanns zur Kreuzfahrermythologie.
Liebeschütz zeigt, wie durch die Volksbewegung und kriegerische
Ausrichtung der christlichen Heilserwartung die Symbole, unter
denen man das Judentum begriff, vergröbert wurden und der Kampf
gegen das Judentum brutal wurde: statt der früher erwarteten freiwilligen
Bekehrung des Judentums am Ende der Tage sollte die zwangsweise
Bekehrung die Endzeit herbeizwingen.

Die christliche Reformbewegung, die mit dem 11. Jahrhundert
beginnt, trägt durch ihre Verteufelung der Profitwirtschaft und des
Geldes zur Abwertung des Sozialstatus der Juden bei, die sich vor
allem im Geldhandel etabliert hatten. Gerade Für diese Wirtschaftsform
brachten die christlichen Theologen kein Verständnis auf. Schon