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Ausgabe:

1984

Spalte:

892-893

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hannig, Jürgen

Titel/Untertitel:

Consensus fidelium 1984

Rezensent:

Haendler, Gert

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 12

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sehe Phrasen" (etwa Hinweise auf wechselseitiges „Gedenken" oder
Besuchsankündigungen), die das Urteil erlaubten, daß sowohl Paulus
als auch seine (impliziten) Adressaten mit den Elementen der entsprechenden
Bildungstradition vertraut sind (S. 34). B. vergleicht die
Korinthcrbriefe eingehend mit Senecas epistulae morales und findet
auch hier deutliche strukturelle Analogien, „und zwar hinsichtlich
der Argumentationsformen, Beweismittel und -hilfen. Beide stehen in
der Tradition des philosophischen Lehrbriefes und auf dem Boden der
Schulrhetorik" (S. 47).

Im zweiten Teil (S. 48-76) untersucht B. die „rhetorische Disposition
" im Ersten Korintherbrief, wobei er „Rhetorik" definiert als „die
Theorie der überzeugenden Rede eines Überzeugten" (S. 49. entgegen
einem pejorativen Verständnis des Begriffes). Er geht von der Annahme
aus, daß diejenigen Abschnitte des Briefes, die eine besonders
überlegte Disposition enthalten, die in Korinth besonders umstrittene
Problematik behandeln (S. 51 f; vgl. das Ergebnis S. 750- Als erstes
Beispiel erörtert B. den Abschnitt 1,10-4,21 (den er ohne nähere
Begründung einem „Brief B" zuweist, S. 52; was dann „Brief A" wäre,
erfährt der Leser nicht); aus 1.10-2,16 wird gefolgert, die „Parteiun-
gen" in Korinth seien den wenigen Hochgestellten innerhalb der
Gemeinde zuzuschreiben (S. 53), denn Paulus reagiere mit einer „sehr
geschickt disponierten Rede, in der sieh hinter (scheinbar) sachlicher
Belehrung (1 Kor 1,18-2,16) harte Polemik (I Kor 3,1-5) und scharfe
Apologie (lKor4,l-21) verbirgt" (S. 53). Der ganze Abschnitt sei
nach dem Konzept einer schulmäßigen Rede aufgebaut (exordium
1,10-17; narratio 1,18-2,16; argumentatio I 3,1-17; peroratio I
3,18-23; argumentatio II 4.1-15; peroratio II 4,16-21; vgl. S. 72). Die
Einordnung des zentralen Abschnitts 1,18-2,16 als „narratio" wird
von B. selbst problematisiert (S. 59); dabei zeigt sich eine weitere
gewisse Schwäche (hier wohl nicht nur dieses Buches, sondern des
ganzen methodischen Ansatzes): Wenn die narratio der Rede die
Vorgeschichte des zu erörternden Falles darstellen und sich dabei um
Kürze, Klarheit und Wahrscheinlichkeit bemühen solle (vgl. Lausberg
, Handbuch, §§ 294fl), so ist klar, daß I Kor 1,18-2,16 eben keine
narratio ist (vgl. bei B. S. 122 Anm. 57 zu S. 54 und vor allem S. 59:
1,18-2,16 „ist auf der einen Seite der umfangmäßig längste Teil der
Rede, auf der anderen Seite ist aber seine Funktion von vornherein
nicht klar zu erkennen"). Dennoch wird um des formalen Prinzips
willen dann doch diese Zuordnung behauptet. - B. behandelt als
zw eiten Text das Kapitel I Kor I 5, dessen Aulbau ebenfalls völlig dem
erwähnten rhetorischen Schema entspreche (vgl. S. 72). B. meint
dabei, mit Hilfe der rhetorischen Analyse sei die inhaltliche Position
der Angeredeten deutlich als bislang möglich zu erfassen: Dort, wo
Paulus besonders sorgfältig argumentiere, sei die korinthische Position
zu suchen. I 5.1 f sei das exordium, das Paulus von der Vermutung
her formuliere, daß die Zustimmung der maßgeblichen korinthischen
Gesprächspartner zu seinen Aussagen äußerst unsicher war (daß
V. Ib das Gegenteil aussagt, wird von B. zwar gesehen [S. 135
Anm. 51 zu S. 63], es ist für die weitere Argumentation aber ohne
Gewicht).V. 3a sei ein „vollendeter Transitus vom Exordium zur
narratio; daneben erfüllt dieser Halbvers wichtige exordiale Aufgaben
, vor allem im Bereich des autorcs bcnevolcs pararc" (S. 64). Zum
Inhalt von V. 3b— 11 stellt B. wohl zutreffend fest, hier werde primär
die Rede vom Tod Jesu und vom Tod einiger Auferstehungsz.cugen
betont (S. 65), woraus sieh für B. das insgesamt ja nicht neue Fazit
ergibt, daß „die Gegner (sie!) in der Tat Enthusiasten" waren, die
„(vielleicht aufgrund ihres Sakramentsverständnisses) wähnten, die
eschatologisehc Existenz ohne alle Einschränkungen zu besitzen"
(S. 72). Formal aber soll dieser Abschnitt als narratio der Rede erwiesen
werden, was wie schon bei 1,18-2,16 nicht gelingt (vgl. S. 660.

Es fällt auf, daß B. einerseits die volle Übereinstimmung von zwei
wichtigen Abschnitten des Ersten Korinthcrbriefes mit der schul-
mäßigen Rhetorik erweisen will, daß er aber andererseits unter Hinweis
auf 2,1-5 betont, der Apostel stehe „der rhetorischen Theorie
seinerzeit kritisch gegenüber"; Paulus tue im Grunde nichts anderes,
als sich in Ausdrucks- und Redeweise den .jeweiligen Protagonisten

der gegnerischen Front (!), die offensichtlich den gehobenen sozialen
Schichten innerhalb der Gemeinde angehörten", anzupassen (S. 74).
Das zusammenfassende Ergebnis bestätigt die Ausgangsvermutung,
daß die Korintherbricfc „als literarische Produkte in das Milieu (relativ
) Gebildeter [verweisen], was gemessen an der sozialen Schichtung
der korinthischen Gemeinde heißt, daß die an der durch die Briefe
dokumentierten Kommunikation vornehmlich Beteiligten (der implizite
Leser) der oberen Schicht innerhalb der Gemeinde angehörten"
(S. 76).

In einem Anhang (S. 76-80) untersucht B. das Verhältnis von
Kerygma und Rhetorik bei Paulus, wobei er fragt, ob nicht die Rhetorik
als Teil der „Weisheit dieser Welt" dem „Wort vom Kreuz"
diametral entgegenstehe (S. 77). Antwort: Für Paulus dokumentiere
Rhetorik den „Versuch, Unmittelbarkeit sprachlich zu vermitteln";
darin zeige sich die „Gefahr, dem selbst zu Wort kommen wollenden
Gott damit ins Wort zu fallen". Paulus habe das Problem zwar
gesehen, sei aber „über intentionale Vermittlungsversuche" nicht hinausgekommen
(S. 79).

B. hat mit seiner Arbeit zweifellos auf einen bedeutsamen Aspekt
der literatursoziologischen Analyse paulinisehcr Briefe aufmerksam
gemacht, wobei vor allem der Vergleich mit Senecas Briefen bemerkenswert
ist. Aber der Ertrag für die Interpretation gerade des Ersten
Korintherbriefes bleibt am Ende doch recht gering.

Bethel Andreas Lindemann

Kirchengeschichte: Mittelalter

ILinning Jürgen: Consensus Kidelium. Frühfeudale Interpretationen
des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des
Frankenreiches. Stuttgart: Hiersemann 1982. IX, 343 S. gr. 8' =
Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 27. Lw.
DM 198,-.

Nach einem forschungsgeschichtlichen Überblick erörtert Hanning
spätrömischc Kaisergcsctze. die einen „Consensus des Senats" oder
Hinweise auf die Zustimmung führender Männer am Hof aussagen
(45). Den führenden Schichten in Gallien wurde von Byzanz her
„größere politische Selbständigkeit" gewährt (47). Diese Tradition
übernahmen die fränkischen Merowingerkönigc; zumal die Bischöfe
waren „Bewahrer des geistig-kulturellen Erbes" (50). Dagegen äußert
man sich über das früheste germanische Recht „nur noch in ganz vorsichtigen
Vermutungen" (51). Die Lex Romana Visigothorum verweist
auf Zustimmung „vencrabilium episcoporum et electorum
provincialium nostrorum". H. möchte „hier nicht auf eine vom
germanischen Eroberervolk eingelührte .Neuerung' schließen wollen,
sondern auf ein .einheimisches' romanisches Derivat, das mit der
Autonomie der Provinzialverwaltung zusammenhängt" (53). Der
Abschnitt „Konzilsprotokolle und Konsenslbrmcln in den merowin-
gischen Gesetzen" führt zu der Feststellung: „Die enge Zusammenarbeit
von Königtum und Episkopat, das Ineinandergreifen von
königlicher Satzungstätigkeit und legislativer Aktivität der Bischöfe
auf ihren Konzilien ist, wie wir glauben, ein wichtiger Grund lür die
großen strukturellen und formularmäßigen Ähnlichkeiten zwischen
königlichem Dekret und Konzilsprotokoll" (70). Bei den merowingi-
schen Königsurkunden läßt sich „der Konsens der Großen zu den
Rechtsakten, die der König mittels Urkundenausstellung vornimmt,
ziemlich lückenlos auf das weitreichende Vorbild in der kirchlich-
bischöflichen Privaturkunde zurückführen" (85). Die Frankcngc-
schichle des Gregor von Tours scheint germanische Traditionen zu
enthalten, aber H. urteilt anders: Es gab für Gregor „nicht ein gcfölg-
schaftsverbundenes germanisches Heerkönigtum"; die Merowinger
waren „Kleinkaiscr mit imperialer Vollgewalt, die durch Christlich-
keit noch gesteigert wurde zum corrector populi" (98).

Im 7. Jh. zeigen hagiographische Quellen eine Art „Hoffst", einen
„Kreis engster Gefolgsleute" (112). Aber consensus- und consilium-