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Ausgabe:

1984

Spalte:

883-885

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Maier, Johann

Titel/Untertitel:

Juedische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike 1984

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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883

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 12

884

liegende theologische Deutung zum Vorschein. Das Geschick der
Diasporajuden wird im Lichte alter Überlieferungen aufgedeckt und
veranschaulicht. Durch Haman, den Nachfahren des Amalckiter-
königs Agag, wird das erwählte Gottesvolk aufs neue vor die Bedrohung
völliger Auslöschung gestellt. Die Bewährung im persischen
Fremdland steht im Zeichen der Auszugstraditionen und der Josephsgeschichte
. Der König als Repräsentant des Fremdvolkes und seiner
Einrichtungen soll von den Juden prinzipiell positiv bewertet werden.
Vor der militanten, in der Person Hamans beispielhaft dargestellten
Judenfeindschaft, die auf totale Vernichtung des jüdischen Volkes
zielt, gibt es jedoch für Loyalität keinen Raum. Haman gegenüber darf
und muß Widerstand geleistet werden.

In der Zeichnung der beiden Gegner Mardochai und Haman
kommt der Gegensatz Weiser - Tor und Gerechter - Frevler zum Vorschein
. Durch Doppelung der jüdischen Hauptpersonen hat der
Erzähler ein Mittel gefunden, die problematische Lage der Juden differenzierter
und wirkungsvoller darzustellen, als das anhand des'
unabänderlich standhaften Mardochai möglich war. Aus Sorge um ihr
eigenes Leben will Esther zunächst nichts für ihr Volk riskieren und
muß von Mardochai zum notwendigen Einsatz bewegt werden. Um so
eindrucksvoller spielt sie in den folgenden dramatischen Geschehnissen
die Hauptrolle. „Esther, und nicht der dominante, standhafte und
schließlich ganz erhöhte Mardochai, ist die Titelfigur, weil sich an ihr
Normales und Wunderbares, fraulich Anziehendes und hintergründig
Durchtriebenes, Typisches und Beispielhaftes Für die jüdische Diaspora
am wirkungsvollsten zeigen ließen" (S. 10).

Der Zweck des Estherbuches ist paränetisch. Die bedrohten Juden
sollen in der kritischen Situation nicht passiv auf göttliche Wundertaten
warten, sondern sich mutig und ohne Einschränkung selbst einsetzen
. Erst dann können sie auf die entscheidende göttliche Hilfe
rechnen. Das Büchlein weist auf das Geheimnis des Bestehens Israels.
Es soll als Zeugnis seiner Zeit gelesen werden, ohne daß sein Verständnis
unter christliche Vorstellungen gerückt wird, die Für den Verfasser
nicht gegeben waren.

Lund GillisGerleman

Judaica

Maier, Johann: Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in
der Antike. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982.
XIV, 320 S. 8' = Erträge der Forschung, 177. Kart. DM 75,-.

Es könnte sein, daß jemand von einem Band der Reihe Erträge der
Forschung positive Ergebnisse erwartet, eine Bestätigung oder Neu-
fundierung des gesicherten und verfügbaren Wissens in einem
umgrenzten Bereich. Die von Johann Maier vorgenommene kritische
Überprüfung dessen, was man über die jüdische Auseinandersetzung
mit dem Christentum in der Antike zu wissen glaubte, führt zu einem
nahezu vollständig negativen Ergebnis. Stein um Stein trägt er das
Gebäude ab, das man als antichristliche rabbinische Apologetik zu
kennen meinte, das in Wirklichkeit kein antiker Bau war, an dessen
Errichtung vielmehr Generationen jüdischer und christlicher
Forscher der Neuzeit beteiligt gewesen sind.

Fast das ganze Werk besteht aus minutiöser Analyse von Stellen,
vor allem aus dem talmudischen Schrifttum, die bei einem größeren
oder kleineren Kreis von Interpreten als polemische Hinweise auf das
Christentum gegolten haben. Das Ergebnis lautet: „Nur wenige von
den zahlreichen Stellen in der rabbinischen Literatur, die man als
Anspielungen oder als Reaktion auf das Christentum verstehen
wollte, halten einer kritischen und kontextgerechten Überprüfung
stand. Direkte Bezugnahmen auf das Neue Testament lassen sich
überhaupt nicht aufweisen." (S. 206)

Für zwei Komplexe ist das besonders einschneidend: Für die angebliche
„Evangelium"-Stelle in b. Schabb. I I6a/b und die sog. Minäer-
bitte.

Die Frage, ob die Existenz der Evangelien, ihre Wertschätzung und
ihr spezifischer Inhalt in der talmudischen Literatur zur Kenntnis
genommen wurde, hatte schon in dem J'rüheren Band Joh. Maiers in
dergleichen Reihe .Jesus in der talmudischen Überlieferung' (EdF 83,
Darmstadt 1978) breiten Raum eingenommen. Hier bildet sie den
Einsatzpunkt, wobei sie in den großen Zusammenhang des Problem-
kreises der Heiligen Schriften, ihrer kanonischen Gültigkeit, ihrem
liturgischen Gebrauch und ihrer rituellen Bedeutung eingebettet ist
(S. 10-27). Von da aus kann Vf. sich dem eigentlichen Untersuchungsstand
in drei Stufen nähern.

Aus der Interpretation einer größeren Zahl rabbinischer Stellen
(S. 28-59) kommt er zunächst zu dem Ergebnis, „daß die sifre minim
als biblische Schriftrolle der minim anzusehen sind", die giljonim als
Bibeltexte „nicht als Buchrollcn sondern in der Form von Einzelfolien
" (S. 60), wie sie trotz rabbinischer Einsprüche weithin
gebräuchlich waren.

Auf der Stufe von b. Schabb. 115/116 läßt sich durch Vergleich von
Kontext und Parallclüberliefcrungen ein Bedeutungswandel konstatieren
: giljonim meint unbeschriebenes Schreibmaterial. Der Kontext
von b. Schabb. 116a, wo es um die Rettung von Heiligen Schriften
beim Brand geht, besagt zunächst nur „daß die sifre minim genau so
zu bewerten sind wie unbeschriebenes Schreibmaterial, daß sie also
Für eine Rettungsaktion angesichts einer Brandgefahr am Sabbat wie
leere Schreibrollen überhaupt nicht berücksichtigt zu werden
brauchen" (S. 61). Der Redaktor hat also bei giljonim schwerlich an
Evangelien gedacht.

Damit entfiele der Anknüpfungspunkt lür die Kernstelle der in
diesen Kontext eingeschlossenen Anekdote von Imma Sehalom und
den Philosophen, in der viele ein Echo von Mt5,l7 sehen. Hinter
dieser älteren Einheit steht giljonim im Sinne der verpönten Buchform
der Einzelmembran, die die Wortbildung ,wn-giljwn" provoziert
hat. Da es inhaltlich um den Konflikt von Tora und römischem Recht
geht, bezeichnet sie nicht das „Evangelium", sondern am römischen
Recht orientierte, gegen die Tora verstoßende Gesetzesblätter
(S. 70-93). Die Frage bleibt, ob mit dieser komplizierten redaktionsgeschichtlichen
Analyse das letzte Wort über diese Stelle gesprochen ist.

Negativ ist auch das Urteil in bezug auf die 12. Benediktion des
Achtzehngebets, die sog. MinäerbittefS. 130-141). Bis 135 n.Chr. (so
Joh. Maier) standen vom Achtzehngebet Themen bzw. Inhalte, nicht
der Wortlaut fest. Aber auch in talmudischer Zeit seien die in der Bitte
an dritter Stelle verwünschten minim keineswegs eindeutig bestimmt.
„Während die feindliche Weltmacht und die Apostaten bleibende
Ziclgruppen darstellen, wurde die dritte Zielgruppc der jeweiligen
Situation angepaßt, variierte daher nach Region und Zeit erheblich."
(S. 137) Unbestritten ist freilich weder die Spätansetzung noch die
variable Fassung der Bedeutung von minim, die doch auch Folge
späterer Entgrenzung sein könnte.

Mit dieser Behandlung der zentralen Komplexe ist nur ein wichtiger
Ausschnitt dessen angesprochen, was der inhaltsreiche Band dem
Leser und Benutzer bietet. Das Grundmuster ist gleichwohl erkennbar
, so daß Für die weiteren Gegenstände Aufzählungen genügen
mögen.

Angaben über abweichende Gebetspraktiken (S. 142-152) und
Festtage (S. 153-168) beziehen sich nicht auf das Christentum oder
sind erst von den mittelalterlichen Kommentatoren auf dieses gedeutet
worden. Auch in der Tora-Theologie (Verhältnis von Tora und
Offenbarung an die Völker, Frage einer neuen Tora. Bedeutung der
mündlichen Lehre) sowie in der Verteidigung von Einzelgcboten
(S. 173-195) ist eine eindeutige Frontstellung gegen das Christentum
schwer auszumachen. Ihm gegenüber konnte man auf jener Linie
bleiben, die man gegenüber nichtjüdischer Umwelt oder gegenüber
innerjüdischen Abweichlern bezogen hatte.

Anders als in den altchristlichen antijüdischen Schriften findet sich
in der rabbinischen Literatur (im Unterschied zu deren früh- und
hochmittelalterlichcr Fortschreibung) auch kein unmittelbarer
Widerhall von Christologic und Trinitätslchrc. Die Polemik gegen die