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Ausgabe:

1984

Spalte:

851-853

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Advent bis Himmelfahrt 1984

Rezensent:

Bunners, Christian

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 1 1

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Hilferuf der Gemeinde vermittelt. Leider steht ihm dabei die Homiletik
der letzten Jahrzehnte hinderlich im Weg (78): Die Betonung der
Textpredigt hat verdeckt, daß es um den Christus praesens als viva
vox evangelii geht: die missionarische Attitüde hat den Blick auf die
Welt getrübt; der Narzißmus des Predigers läßt ihn vor lauter
.,Ich-Sagen" das Amt vergessen.

Demgegenüber macht der Vf. unter Berufung auf TriIlhaas deutlich
, daß in der seclsorglichen Predigt der Einzelne und sein
erschrockenes Gewissen im Mittelpunkt steht, der in der Gemeinschaft
derGetauften zum Herrenmahl geladen ist. Obwohl der Vf. sich
hier mehrmals auf Kierkegaard beruft, scheint er die einschlägigen
Erörterungen E. Hirschs zu diesem Thema nicht zu kennen.

Seelsorgliches Predigen setzt die Seelsorge an Seelsorgern voraus.
Was das bedeutet, wird an einem Beispiel aus Luthers Seelsorgepraxis
entfaltet und unter Berufung auf H. Tacke als Forderung an die kirchliche
Praxis formuliert. Hilfreich ist der Hinweis auf das Pricstertum
aller Gläubigen, das im gemeinsamen Gebet kulminiert und auch das
Amt innerlich trägt. Allerdings wird man der Forderung nach Verzicht
auf humanwissenschaftliche Spezialausbildung trotz aller Einsicht
in ihre Gelähren nicht folgen können. Hier ist nicht Askese,
sondern Auseinandersetzung nötig.

Die Erinnerung an das Priestertum aller Gläubigen führt zum
dritten Teil, zur „Entdeckung der Ortsgemeinde als charismatischer
Gemeinde" (127). Dahinter steckt die beherzigenswerte Erkenntnis,
daß die Gemeinde nicht Objekt ihrer Pfarrer und Leitungsorgane sein
darf. Vielmehr sind den Pfarrern offene Augen und Ohren für ihre
wirklichen Gemeindeglieder zu wünschen. Dann wird es zu dergegen-
seitigen Fürsprache und Fürbitte kommen, in denen das Gemeindecharisma
sich ausspricht. Die Gegenseitigkeit muß die Kirche
zugleich veranlassen, über die Spannung zwischen ihrer „Offenheit
und Verbindlichkeit" (151) nachzudenken. An dieser Stelle möchte
der Vf. von der katholischen und freikirchlichen Ekklesiologie lernen.
Es fragt sich aber, ob dies nicht auf die Vorstellung einer sakramentali-
sierten Freikirche hinausläuft, wo in familiärer Enge und Vertrautheit
alles an Mutters Schürze hängt. Jedenfalls hat das „Plädoyer für eine
mütterliche Kirche", mit der Chr. Möller seine Ausführungen
schließt, zuviel Züge einer unechten Idylle an sich, vor der man die
Welt des freien Protestantismus bewahrt sehen möchte.

Mit seinen kritischen Erwägungen hat der Vf. Schäden und Fehlstellen
des gegenwärtigen kirchlichen Handelns aufgedeckt, die sorgsamer
Beachtung bedürfen. Er bleibt nicht bei Kritik stehen, sondern
macht mutig Therapievorschläge. Diese sollten aufmerksam erörtert
werden auch da, wo man andere Wege gehen möchte. Leider fehlt dem
Band ein Register, so daß sich sein Inhaltsreichtum nicht leicht
erschließt. Hat man sich aber erst eingelesen, wird man eine Fülle von
Anregungen zum Nachdenken und Nachachten finden.

Tübingen Hans Martin Müller

Neue Calwer Predigthilfen. 6. Jahrgang Band A: Advent bis Himmelfahrt
. Hrsg. v. H. Bornhäuser, H. Breit, G. Hennig, H. D. Preuß, J.
Roloff T. Sorg. Stuttgart: Calwer Verlag 1983. 327 S. 8°. Kart.
DM 28,-.

Die Anzeige dieses Bandes zur ersten Hälfte der 6. Predigttextreihe
soll wiederum eine besondere Fragestellung akzentuieren (vgl. die Besprechung
früherer Bände in ThLZ 105, 1980 Sp. 145-147; 107, 1982
Sp. 293f; 108, 1983 Sp. 463-465). Wir fragen nach der Art und Weise,
wie auf das Kirchenjahr Bezug genommen wird.

Im Zusammenhang mit der neuen Beachtung ritueller Lebcnsvoll-
züge durch Anthropologie und Sozialpsychologic, dem wachsenden
wissenschaftlichen Interesse an Brauchtum und Volksfrömmigkeit
sowie der Suchbewegung von Frömmigkeit nach Gestaltung ihrer
selbst in gewandelter Zeit wird über das Kirchenjahr z. Z. auch in der
evangelischen Theologie wieder verstärkt reflektiert. Die Homiletik
hat ihrerseits das Thema aufzuarbeiten, - ist doch gerade die Predigt

ein hervorragendes Medium, durch das die Allianzen von altreligiösen
, neuheidnischen, kerygmatischen und spirituellen Elementen im
Kirchenjahr sowohl kritisch als auch konstruktiv dem Verstehen und
Erleben erschlossen werden könnten.

Eine Inhaltsanalyse der (von 36 Bearbeitern stammenden) 36 Predigthilfen
ergibt, daß nur für deren knappe Hälfte ein ausführlicheres
Bezugnehmen auf theologische bzw. situative Fragen des Kirchenjahrs
zu registrieren ist: eine auffällige Relation, wenn man bedenkt,
daß der Band sich auf den Teil der Textreihe bezieht, der den großen
Festzeiten zugeordnet ist; eine Relation, die freilich der Mindcrbcach-
tung des Kirchenjahres in der kirchlichen Praxis der beiden letzten
Dezennien weithin entspricht.

Nun wird man das Kirchenjahr als hermeneutischen Schlüssel für
Prcdigttexterschließung nicht überbetonen dürfen; gleichwohl ergibt
auch die Feinanalyse der Predigthilfen noch einmal, daß dcrGrad der
Auswirkung kirchcnjahrcszeitlicher Aspekte auf die homiletische
Auslegung und Einweisung im allgemeinen als niedrig zu beurteilen
ist. Das hängt nun allerdings auch mit der Systematik des in diesem
wie in den früheren Bänden angewandten Predigtvorbereitungsganges
zusammen. Die meisten Bearbeiterfassen, wo überhaupt, kirchenjahreszeitliche
Bezüge erst im vierten der Fünf Vorbereitungsschrittc -
nämlich in den „Scelsorgerlichen Überlegungen" - in den Blick. Hier
ergeben sich oft fruchtbare Anregungen, insbesondere für situative
Komponenten der Predigt. Nur wenige Bearbeiter entschlossen sich
dazu, bereits nach dem ersten Schritt, der „Textauslegung", schon im
zweiten Schritt, den „Theologischen Entscheidungen", die Hermeneutik
des Textes mit Fragen des Kirchenjahres zu verbinden (vgl. in
diesem Sinne besonders die Ausarbeitungen S. 82ff, S. 13911.
S. 24211). In diesem Befund spiegelt sich das vorrangig biblisch-dogmatisch
orientierte Grundmodell des Predigtvorbereitungsganges
wider, das die NCPH auszeichnet.

Wird aber dieses Vorgehen dem Kirchenjahr, seiner anhaltenden
und, wie es scheint, wachsenden Bedeutung gerecht? Das Kirchenjahr
stellt selbst eine wichtige Wirkungsgcschichtc biblischer Texte dar.
Freilich bedeutet es eben damit gleichzeitig eine Gefahr: derart nämlich
, daß kirchenjahrsgeprägte Vorstellungen und Erwartungen den
Eigenanspruch biblischer Texte überhörbar und stumpf machen können
. Darum ist es nötig, biblische und liturgische Hermeneutik in ein
bewußtes Verhältnis zueinander zu setzen. Erst solcherart können,
über scelsorgerlichc Bezüge hinaus, theologisch-homiletische Entscheidungen
im Blick auf das Kirchenjahr verantwortet werden. Eine
solche entwickelte Bewußtheit kommt beispielhaft zum Ausdruck,
wenn es in dem Band heißt: „Es ist (sc. für die Auslegung der Peri-
kope) unbedingt sinnvoll, sich die Situation des Kirchenjahres vor
Augen zu führen" (S. 141), bzw.: „Dennoch ist es gut, ihn (sc. den
Text) zunächst für sich zu hören; denn dann erst kann er die ganze
Fülle und Tiefe von Deutungskategorien freigeben." (S. 242)

Auffallig ist, daß säkularisierte und sentimentalisiertc Deutungsmuster
für die christlichen Festzeiten in den Predigthillen nur
schwach berücksichtigt werden, obwohl jene Muster doch alle Jahre
wieder in reicher Fülle insbesondere durch die sogenannten Massenmedien
produziert und reproduziert werden. Auch an diesen Stellen
hat die Homiletik in Anknüpfung und Widerspruch zu arbeiten, will
sie die Chancen der Festpredigt nutzen; dies aber erfordert eine
größere Intensität kritischer Vermittlung zwischen der Botschaft und
den liturgischen bzw. paraliturgischen Festbegehungen, als sie in diesem
Band im allgemeinen vorliegt.

Werden die NCPH sich mit der Vorlage der Bände zur 6. Predigttextreihe
als abgeschlossen verstehen, oder werden sie in Wiedcrauf-
lagcn mit neuen oder modifizierten Bearbeitungen weitergeführt
werden? Unsere Bemerkungen zum vorliegenden Band wollten jedenfalls
in die letztere Richtung weisen. Ein Vergleich der in dieser Zeitschrift
besprochenen Bände des in der Praxis bereits bewährten Neuen
Calwcr Predigthilfswerkes weist dieses schon nach seinem ersten
Durchgang als ein .Werk in Prozeß'aus. So sind beispielsweise im vorliegenden
Band die rhetorischen Planungsüberlegungen gegenüber