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Ausgabe:

1984

Spalte:

849-851

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Möller, Christian

Titel/Untertitel:

Seelsorglich predigen 1984

Rezensent:

Müller, Hans Martin

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 11

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vor der Alternative, entweder die gefühlte Eigenbedculung einer
Situation kommunizierbar und damit befreiend zur Darstellung zu
bringen oder aber jene erlebnismäßig präsente Eigenbedeutung durch
Fehlbenennung mit einzwängenden Folgen zu verfehlen oder zu überspielen
. Diese - über die Wahrheitslähigkeit situativer Zeichenprozesse
entscheidende - Spannung ist in der praktischen Perspektive
Fleischers und Mueks nicht berücksichtigt. 2. Trägt man ihr Rechnung
, so wird auch die Kontinuität des Bedeutsamseins von Situationen
sichtbar. Jede Lebenssiluation ist für ihre Subjekte immer schon
so bedeutsam, daß Zahl und Wechsel der Partner, die Vielfalt von
Codes. Paradigmen und Syntagmen sowie schließlich die Verteilung
von darstellendem und deutendem Handeln diese Bedeutsamkeit nur
modifizieren, aber niemals konstituieren können. Dementsprechend
kann es nicht darauf ankommen, gottesdienstliche Situationen durch
Stiftung von Bedeutungen und Anstöße zu semantischer Aktivität vor
angeblicher Bedeutungslosigkeit zu retten, sondern nur darauf, ihre in
der Massivität des je individuellen Erlebens präsente Bedeutung in
den durch Tradition zur Verfügung stehenden Zeichen passend zu
kommunizieren. Und dabei gilt, daß die bloße ungezwungene Teilnahme
einer Person an einer Situation als solche immer schon ein
spezifisches, ernstzunehmendes semantisches Profil besitzt. Dieses
kann nicht aufmerksam genug wahrgenommen und bearbeitet werden
, wo die Meinung herrseht, die semantischen Profile von Situationen
müßten allererst erzeugt werden. 3. Damit wird schließlieh deutlich
, welche Art semiotischer Kompetenz von denjenigen zu verlangen
ist, die von Amts wegen lür die Gestaltung bestimmter Situationen
des Zeiehenaustausehes verantwortlieh sind. Ihre Gcstaltungsauf-
gabe sehließt wesentlich ein, die immer schon im Erleben aller Teilnehmer
manifesten semantischen Profile und das sich aus ihrer Interferenz
ergebende semantische Gesamtprofil der Situation in seiner
jeweiligen Individualität zu deuten - und nicht erst herzustellen. Es ist
eins der grundlegenden ,,Vorurteile", von denen die Institution Gottesdienst
lebt, daß die agendariseh geregelten Paradigmen gottes-
dienstlicher Kommunikation, die Herstellung aktueller Syntagmen
erlauben, die diese Deutung von niehtherstellbarcm Sinn verlangen
und ermöglichen. 4. Das setzt natürlich voraus, daß es einen möglichst
ausgearbeiteten und bewährten Begriff von der Spannweite, den
typischen Gestalten, Bedingungen und Verlaufsformen von menschlichem
Erleben und Selbstgefühl gibt, innerhalb dessen das Erlebnis-
Potential gottesdienstlieher Situationen verortet werden kann. Erst die
Orientierung an solchen materialcn Einsichten der theologischen
Anthropologie - von denen die aszetische Tradition der Kirche
minier gewußt hat und um deren Wiedergewinnung sieh neuerdings
die Seelsorgebewegung bemüht - erlaubt auch einer zeiehentheore-
•isehen Analyse von Gottesdienstvorgängen über die Feststellung hinaus
, daß die situative Zeichenkombination Sinn freisetzt, eine begründete
Vermutung darüber, welcher Sinn denn in ihr manifest werden
kann und manifest wird.

Der Band bietet immer anregende,'teilweise glänzende Texte in
Pointenreicher Ordnung und leitet seinen Leser zu bewußterem UmSang
mit einem Grundfall religiöser Kommunikation, dem Gottesdienst
, an.

München EilcrtHcrms

Praktische Theologie: Homiletik

MWler, Christian: Seclsorglich predigen. Die paraklctische Dimension
von Predigt. Seelsorgc und Gemeinde. Göttingen: Vanden-
hocek & Ruprecht 1983. 170 S.gr. 8'. Kart. DM 28,-.

I" den letzten Jahren ist eine Reihe von homiletischen Untersuchungen
erschienen, die schon in ihrem Titel eine Aufforderung
mithielten. Desiderate der Predigtpraxis zu beseitigen: Konkret predigen
; Persönlich predigen; Rhetorisch predigen; Biblisch predigen. Mit

dem vorliegenden Band scheint sieh Chr. Möller, Praktischer Theologe
an der Kirchliehen Hochschule Wuppertal, diesen Appellen
anzuschließen. Allerdings will er weder eine praktikable Anleitung
geben, „wie man's macht" (9), noch den Prediger ermuntern, es einmal
auf eine bisher noch nicht erprobte Weise zu versuchen. Vielmehr
geht es ihm um die Erschließung einer neuen Dimension der Predigt
überhaupt.

Allerdings kann er sich bei diesem Versuch auf Vorgänger berufen.
Von Anfang an hat W. Trillhaas in seiner in drei Jahrzehnten mehrfach
umgearbeiteten „Evangelischen Predigtlchre" auf die seelsorgerliche
Aufgabe der Predigt aufmerksam gemacht, was der Vf. ausdrücklich
anmerkt (69,86). Auch die alte Kirche kannte die Predigt als vorzügliches
Mittel zur Erfüllung der Hirtenaufgabe. Daraufgeht der Vf.
aber nicht ein. Sein Hauptaugenmerk gilt der gegenwärtigen Problemstellung
, die durch die sog. „Seclsorgewelle" als neues Zentrum
kirchlicher Praxis gegenüber der traditionellen Verkündigungsauf-
gabc gekennzeichnet ist. Möller erkennt, daß hier falsche Alternativen
drohen, und verfährt deswegen integrativ. indem er Zielsetzungen der
Seelsorgebewegung für die Predigt fruchtbar zu machen sucht: Christus
soll als Gabe, nicht nur als Beispiel gepredigt werden; die Predigt
soll trösten, indem sie zum Vertrauen hilft; die Gemeinde soll ein Ort
befreiten Aulätmens werden. All dies in der gottesdienstlichen Predigt
zusammengefaßt, macht die seclsorgliche (sie!) Dimension der kirchlichen
Praxis aus.

Der Vf. hat seine Darstellung durch eigene praktische Beispiele
(Predigten und Ansprachen) aufgelockert, aber auch dadurch nicht
den störenden Effekt vermeiden können, der aus der Tatsache entsteht
, daß das Buch aus ehemals selbständigen Einzelteilen zusammengefügt
worden ist. Hier wird dem Leser eine Integrationskraft
zugemutet, die dem Vf. selbst nicht immer eigen ist. So weist das Werk
eindringliehe und im besten Sinn hilfreiche Einzelzüge auf, während
der Rahmen nicht ganz überzeugt und den Eindruck einer verhältnismäßigen
Disparatheit hinterläßt.

In einem ersten Teil geht es um das Verhältnis des biblischen Textes
zur Erfahrung des Glaubens. Gegenüber der weit verbreiteten
Resignation, deren Kehrseite der Aktionismus ist. wird das schenkende
Wort im biblischen Text aufgerufen. Es erschließt sich in der
„sakramentalen Meditation", nicht in der exemplarischen Auslegung,
die zur Gesetzlichkeit in der Predigt führt. Möller beruft sieh dabei auf
Luthers Auslegungsmethode. Dabei kommt es auch zu einer Ehrenrettung
E. Fuchs' (220- Allerdings macht es sieh der Vf. zu leicht,
wenn er die historisch-kritische Auslegung, die Luther weder gekannt
noch geübt hat, ohne nähere Entfaltung mit seinem Verlähren harmonisieren
will. Sicher hat er mit der Ablehnung der Methode des
„Brückenschlags" recht, weil hier unvergleichbare Situationen zusammengebunden
werden. Und sicher ist der Hinweis, daß die tägliche
Erfahrung zur Gewissenserfahrung werden muß, hilfreich, wenn
es um die Vergegenwärtigung der Person Christi als Gabe an den
jeweiligen Hörer geht. Aber die Grundfrage der historisch-kritischen
Exegese ist damit nicht gelöst, die aus der Anerkennung der Bibel als
einer profanen Schrift entspringt. Da hilft auch der Hinweis auf Bon-
hoeffer nicht weiter, der durch seinen „größeren Horizont" (40) diese
Frage umgeht. Richtig bleibt dabei, daß die Anfechtungserlährung
auch zum hermeneutisehen Schlüssel wird, und daß ihre Überwindung
durch die Fremderfahrung, die sich im Text niedergeschlagen
hat, das eigentliche Ziel der Predigt ist. An Beispielen wird das Facit
deutlieh: v. Rad und der Vf. selbst kommen mit Psalmenpredigten zu
Wort. Daß in ihnen Erfahrungen eine große Rolle spielen, bringt sie
jedem menschlich nahe; daß in ihnen Christus als Gabe erseheint,
bleibt aber bloße Behauptung.

Darüber Führt der zweite Teil des Bandes hinaus, in dem das Thema
der seelsorglichen Predigt expressis verbis zur Sprache kommt. Der
Vf. vermißt seine Behandlung bei R. Bohren und E. Lange und lehnt
sich selbst an M. Seitz und H. Tacke an. Anders als bei Piper und
v. d. Geest kommt lür ihn dabei der Prediger selbst in den Blick: Ihm
soll der biblische Text zum „Seismographen" werden, der ihm den