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Ausgabe:

1984

Spalte:

774-775

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Titel/Untertitel:

Erneuerung der christlichen Erziehung 1984

Rezensent:

Kehnscherper, Günther

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773

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 10

774

Behinderte in Vergangenheit und Gegenwart in Welt und Kirche zu
kurz kommen. Ihre Grundthese lautet, daß Koexistenz mit Behinderten
nur dann möglich ist, wenn wir „die Grundnormen und Verhaltensmuster
in der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft hinterfragen" (142
und oft). Sie tut das im Teil A „Behinderung im Kontext unseres gegenwärtigen
Gesellschaftssystems" gründlich und kommt zu dem Ergebnis,
daß alle staatlichen Hilfsmaßnahmen und Gesetzgebungen in ihrer
Heimat, der Bundesrepublik Deutschland, eigentlich die Norm eines
normalen, leistungsfähigen Menschen voraussetzen, so daß eo ipso
„behindert sein" nicht als „normal" empfunden werden kann.

Sie findet diesen Befund weder durch die Anschauungen über
„Krankheit und Heilung im Umkreis Israels" (44ft) noch im Alten
Testament (47ff) widerlegt. Während im Umkreis Israels schwache
und behinderte Kinder als nicht lebensfähig galten und oft ausgesetzt
wurden, verhinderte die Anschauung einer Krankheit als Strafe Gottes
im Alten Testament eine positive Deutung von Behinderung und
Krankheit ganz allgemein. An eine Förderung und Entwicklung der
Heilkunst war unter diesen Umständen nicht zu denken.

Eine Wendung tritt mit Jesus ein, der feststellt (82 im Zshg. mit
einer Auslegung von Lukas 13,1-5), daß „der Kranke oder Behinderte
vor Gott keine andere Stellung hat als der Gesunde, er ist gleichwertig,
seine körperlichen oder geistigen Defizite haben mit seinem Gottesverhältnis
nichts zu tun". Im Blick auf das Kommen des Reiches
Gottes, das ein „leibliches und geistliches Heilwerden" bringen wird,
hat der Kranke und Behinderte schon jetzt einen Anspruch darauf,
daß alle Kräfte für seine Heilung eingesetzt werden. Das Reich Gottes
und die Integration in das Reich Gottes sind das Ziel und nicht die
Integration in eine Leistungsgesellschaft. Durch Paulus wird dieser
Einsatz wieder infragegestellt, weil er - Vfh. legt 2Kor 12 entsprechend
aus - das Leiden verklärt und zu einem „Nicht-Leiden"
umfunktioniert (90ff). Somit fällt der Anreiz fort, Leiden zu
bekämpfen.

Die Kirche ist nach Meinung der Vfh. dem Ansatz des Paulus treu
geblieben und hat sich so mitschuldig gemacht, daß es zu wirklicher
Koexistenz Behinderter nicht kommen konnte.

In einem dritten Teil „C. Behinderung als religionspädagogisches
Problem" versucht Vfn. kleine Schritte zu zeigen vor allem im Unterricht
mit Behinderten wie auch mit Nichtbehinderten, und zwar
kleine Schritte, die dazu helfen können, daß sich „Grundnormen und
Vcrhaltensmuster der Gesellschaft" ändern. Eine christliche Anthropologie
(115 fT) stellt alle Geschöpfe gleichwertig auf eine Stufe und
verhilft ihnen so dazu, ihre Schwächen offen einzugestehen, selbstverständlich
zu teilen wie auch einander zu ergänzen in einer solidarischen
Koexistenz.

Das Buch füllt eine schmerzliche Lücke, obwohl es nur einen
Anfang des Nachdenkens für die christlichen Kirchen setzt. Auch in
der DDR ist für die Gemeinden das Problem immer noch, wie man
Behinderte wirklich integriert! Es gibt inzwischen eine Fülle von
Modellen der Arbeit mit Behinderten in Heimen. Förderkreisen, zu
Behindertentagen usw. Es gibt aber kaum Beispiele von Gemeinden,
die Behinderte wirklich integrieren, d. h. die sich über der Integration
von Behinderten wirklich geändert haben in ihren „Grundnormen
und Verhaltensmustern". Behinderte werden oft nur betreut -
oder aber sie werden von Gemeinden hervorgehoben, in eine Ausnahmestellung
versetzt, im Rollstuhl ausgestellt, damit die Gemeinde auf
diese Weise zu ihrem diakonischen Alibi kommt. Das Buch kann zu
einem Neuansatz im Denken verhelfen. Es wäre hilfreich, wenn einer
eventuellen Neuauflage ein Bibelstellenverzeichnis beigegeben werden
könnte.

Zittau Dietrich Mendt

Fischer. Wolfgang: Das Diakonissenamt in der EKD. Anmerkungen zum
Lima-Text der Kommission fürGlauben und Kirchenverfassung (Diakonie 10.
1984 S. 102-105).

Mannermaa. Tuomo: Das Wesen der Diakonie im Sinne Martin Luthers
(Diakonie 10. 1984 S. 110-116).

Praktische Theologie:
Katechetik/Religionspädagogik

Erneuerung der christlichen Erziehung. Eine Stellungnahme der
Christlichen Initiative Brennpunkt Erziehung. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus Gerd Mohn 1983. 176 S. 8*. Kart. DM 9,80.

Über .Glauben", insbesondere über seine kirchliche, gesellschaftliche
und religionspädagogische Bedeutung und seine Zukunftsaussichten
ist in letzter Zeit manches Kluge geschrieben worden. Ist das
ein Zeichen steigenden Interesses, oder ist es das Symptom einer
gefährlich zugespitzten Krise des Glaubens in der Welt von heute?
Wie immer die Antworten ausfallen, auch extreme Bewertungen
kommen an der Tatsache nicht vorbei, daß wir es mit einem für die
Entwicklung der Zukunft von Kirche und Gesellschaft maßgeblichen
Faktor zu tun haben.

Die durch Polemik, Apologetik und Frontenstellungen der „Schulen
" vor allem in der Religionspädagogik oft verzerrte Diskussion um
„Glauben" hat zu einem in der öffentlichen Meinung geradezu unterentwickelten
Wissen in der Sache, bei den Religionspädagogen
zumindest zu einer Desorientierung und Verunsicherung gefuhrt.

Euphorische wie kritische Veröffentlichungen vertiefen die Gräben
und verhindern mit fatalen Alternativen, wie „restaurativ" und „fortschrittlich
", das gerade aufkommende Gespräch zwischen allen am
Glauben und glaubwürdigen Verhalten überhaupt noch Interessierten
.

In dieser Situation legt die Trägergruppe der „Christlichen Initiative
Brennpunkt Erziehung" (Sitz in Münster-Sprakel) eine Stellungnahme
vor, die aus der Besinnung auf die Quellen des christlichen
Glaubens neue Perspektiven für ein zuversichtliches pädagogisches
Handeln entwickelt. In einer engagierten Stellungnahme werden die
christlichen Eltern, Erzieher. Religionspädagogen und Mitarbeiter in
Jugendarbeit und Gemeinde herausgefordert, über die biblisch-theologischen
Dimensionen ihrer Praxis nachzudenken: Was bedeutet mir
mein christlicher Glaube im Umgang mit jungen Menschen, in meiner
eigenen Familie', mit den Kollegen? Wie gebe ich weiter, woran
ich glaube? Welcher Stellenwert kommt dem Glauben in der Auseinandersetzung
mit fachlichen und politischen Problemen zu?

Die Stellungnahme skizziert zunächst einmal in einer längeren Einleitung
die Ausgangspunkte (13-22). Dann folgen in einem Hauptteil
I: „Ansatzpunkte und Herausforderungen" (24-1 14). Die Untertitel
lassen erkennen, daß es tatsächlich um Kernfragen der gegenwärtigen
Diskussion in der Religionspädagogik geht.

Gibt es das: Erziehung zum Glauben? - Die Familie muß kompetenter
werden - Der Erzieher als Mensch und Christ muß sich selbst
einbringen - Weltanschauliche Neutralität und/oder christliches
Engagement? - Das Dilemma wissenschaftsbestimmter christlicher
Bildung- um nur einige Ansatzpunkte zu nennen.

Der Hauptteil II bietet dann den „Umriß christlicher Erziehung"
an (I 16-176). Im Umgang mit der Bibel Glauben lernen, im christlichen
Miteinander den Glauben auch leben und bewähren, sind die
Schwerpunkte dieser biblisch-ekklesiologischcn Besinnung.

Die Möglichkeit des Kindes, zu einem eigenen selbständigen Glauben
zu kommen und im Glauben zu wachsen, werden vom Lebensstil
des eigenen Milieus, von der Echtheit der menschlichen Haltung, von
dem Erziehungsvorbild, von der Art der Beziehungen zu den Erwachsenen
, mit denen das Kind zu tun hat, und von der didaktischen und
theologischen Qualität der religionspädagogischen Angebote mit
abhängig gemacht (26).

Interessant ist auch, daß in der Stellungnahme die Fragen der Ansprechbarkeit
und der religiösen Voraussetzungen in der christlichen
Erziehung neu aufgeworfen werden (I 5). Handelt es sich in der Erziehung
der heranwachsenden Generation junger Christen nicht einfach
um eine Hilfe zum Menschscin, um eine „Einführung ins Menschliche
" (K. E. Nipkow)? Werden dabei aber nicht die Sachgehalte des