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Ausgabe:

1984

Spalte:

771-772

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidbauer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Helfen als Beruf 1984

Rezensent:

Schmidt-Rost, Reinhard

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Seite 1

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771

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 10

772

Praktische Theologie: Diakonik

Schmidbauer, Wolfgang: Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe.
11 .-18. Tsd. Reinbek: Rowohlt 1983.256 S. 8'.

Nächstenliebe muß gekauft werden, sie wird in diesem Buch als
wirtschaftliche Existenzgrundlage eines neuen Berufszweiges, der
Helfer-Berufe, identifiziert. Spontane, hilfreiche Zuwendung zum
Mitmenschen ist unter den Lebensbedingungen der westlichen
Industriegesellschaften offenbar nicht mehr möglich. Der Druck des
Leidens unter den gegenwärtigen Lebensverhältnissen, der die „neuen
Helfer" hervorgerufen hat und sie nun selbst belastet, hat W. Schmidbauer
zur Analyse ihrer psychischen und sozialen Situation bewogen
in der Absicht, aufzuklären und zu entlasten.

In seinem ersten Buch zum Thema, „Die hilflosen Helfer" (1978),
hatte er die psychische Genese der Bereitschaft, einen therapeutischen
Beruf zu ergreifen, mit den Interpretationsmethoden der Tiefenpsychologie
untersucht. Diesmal geht es um die sozialen Determinanten
der Praxis beruflichen Helfens, ihre Wirkung auf die Psyche der Helfer
und auf die Struktur der therapeutischen Kommunikation (28), um
die Frage also, wie sich „der Konflikt zwischen zweckrationaler
Leistungsfähigkeit und spontaner Gefühlsreaktion, zwischen Technik
und Natur", der „das Leben in den Industriestaaten bestimmt", „in
den helfenden Berufen darstellt" (10). Auswahl und Auswertung seiner
Beobachtungen vollzieht Vf. „eher assoziativ als systematisch"
(10) im analytischen Interpretationszirkel von Symptombeschreibung
und Deutung.

Die „neuen Helfer" werden vorgestellt (I) als Experten der psychosozialen
Versorgung, mit der die Industriegesellschaft systembedingte
Störungen mit den Mitteln des Systems bearbeitet: Lebenshilfe
geschieht als Dienstleistung. Die alten „Professionen" (Arzt, Rechtsanwalt
, Pfarrer) können sich um so besser behaupten, je mehr sie
durch Verwissenschaftlichung und professionelle Spezialisierung die
Lebensformen und Legitimationsweisen der Industriegesellschaft
übernehmen (vgl. V.). Nötig wurde die neue Professionalisierung der
Hilfe durch den Zerfall der überschaubaren Lebensräume („das
.ganze' Haus", 30), möglich wurde sie durch eine kompensatorische
Überbewertung der Sinnhaftigkeit emotionaler Beziehungen gegenüber
einer als sinnleer erlebten Berufsarbeit.

Den Ansprüchen, die mit der Beziehungsorientierung des Berufs,
der „Arbeit in der Intimsphäre" (II), auf die neuen Berufs-Helfer
zukommen, müssen diese durch eine je individuelle Gestaltung des
Verhältnisses von Berufsarbeit und Privatsphäre begegnen (48-67).
Eine Überforderung durch diese Dauerreflexion auf die Grundlagen
der beruflichen Praxis scheint unvermeidlich (73); Vf. sieht die Helfer
in der Gefahr, in der unerquicklichen Verquickung von Beruf und
Intimsphäre eine Sucht nach Helferbezichungen zu entwickeln (4311).
„Helfen als Droge" zu genießen. Individuelle Lösungen der Helferproblematik
sind nur im Durchgang durch die Alternative „Anpassen
oder Aussteigen?" (III) zu erreichen. Angezogen von der Verlockung
des „Aussteigens" sind offenbar jene sozialen Helfer, die auf eine
sichere Etablierung in der Gesellschaft und auf eine eindeutige Definition
ihrer Rolle ebenso zu verzichten bereit sind wie auf eine rational
wissenschaftliche Begründungstheorie und die Konstruktion von
Behandlungstechniken, gerade weil sie Konsequenzen aus ihrer
Erkenntnis zu ziehen versuchen, daß sie als Experten für emotionale
Beziehungen gegen ihre bewußten Absichten zur Stabilisierung gesellschaftlicher
Leiden beitragen. Im Widerstreit zwischen „Anpassen"
und „Aussteigen" ergeben sich Differenzierungen zwischen verschiedenen
psychotherapeutischen Schulrichtungen unter dem Gesichtspunkt
Verhaltens- bzw. Erlebnisorientierung (1310, ein Unterschied,
der selbst innerhalb der Tiefenpsychologie zu markanten Veränderungen
geführt hat (IV. Helfer-Ideologien im Wandel), der aber auch
zur Einsicht in schwerwiegende Widersprüche im ärztlichen Handeln
zwischen technischen und emotionalen Komponenten führt (V. Die

unheilbaren Widersprüche in der Medizin). Illustriert werden die
gesellschaftlich bedingten psychischen Probleme der Helfer-Berufe
abschließend an einem Fall, an Beobachtungen in einer Selbsterfahrungsgruppe
mit neuen Helfern und alten Helfern, die sich der Beziehungsorientierung
der neuen Helfer anzuschließen versuchen (VI.).

Das Buch endet mit einer Versöhnung (240) und ist doch nichts
weniger als versöhnlich. Scharfe Kritik an der quasi-industriellen
Verwertung humanen Engagements, am anpassungsbereiten Fortschrittsdenken
in den naturwissenschaftlich orientierten Human Wissenschaften
, aber auch an dem unreflektierten Umgang mit der problematischen
gesellschaftlichen Situation bei alten und neuen Helfern
verbindet sich mit resignierender Einsicht in die Hoffnungslosigkeit
aller Versuche, den Trend der technokratischen Entwicklung mit Mitteln
umzukehren, die zur störungsfreien Beförderung dieses Trends
geplant wurden.

Psychoanalytische Beiträge zur Gesellschaftskritik faszinieren
zumeist durch die überraschende Evidenz der Entschlüsselung des
verborgenen Sinns alltäglicher Phänomene, der besondere Reiz von
„Helfen als Beruf liegt in der Doppelreflexion auf die Bedeutung der
Psychoanalyse im sozialen Leben und auf die Bedeutung der sozialpsychologischen
Analyse zur Ermittlung dieser sozialen Bedeutung
der Psychoanalyse und anderer Psychotherapieformen, m. a. W.: Das
Buch regt zu der Frage an, ob es die Gestalt psychosozialer Dienste
stabilisiert, die es kritisiert, weil die Helfer, über ihre Lage aufgeklärt,
diese nun besser auszuhalten vermögen.

Unversöhnliches will einseitig sein, wird damit aber auch anfechtbar
: Stimmen die Symptombeschreibungen und Deutungen? Wird
nicht das Leiden Einzelner an der Gesellschaft überbewertet? Führt
nicht schon die Aufstellung der Alternative „Helfen aus Abwehr" und
„spontane Hilfsbereitschaft" (9) unvermeidlich zu der Konsequenz,
auszusteigen aus allem, was die Spontanität einschränkt? Auch die
vorsichtigen Lösungsperspektiven des Verfassers, therapeutische
Wohngemeinschaften (30.94). können allenfalls „Kompromißbildungen
" zwischen der Vermeidung von Anpassung und der Übernahme
von Verantwortung sein. Die Gefahr gegenseitiger Neurotisierung in
solchen nicht-institutionalisierten Institutionen durch Dauerreflexion
der Beziehungen ist mindestens gegeben. Vielleicht hätte Vf. den Helfern
durch eine Interpretation der Leitbegriftfe „Nächstenliebe" und
„Hilfe" eine neue Perspektive vermitteln können, denn der barmherzige
Samariter wird ja zum beispielhaften Helfer nur in der extremen
Ausnahmesituation, von beispielhaften Helfern im Alltag ist z. B.
Mt 25 die Rede: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht."

Der Vf. bietet seine Deutungen nur an. läßt bei aller Intensität der
Kritik dem Leser im Sinne der klassischen Psychoanalyse die Möglichkeit
, die Deutungen abzulehnen. So bleibt auch der Seelsorger, der
sich als „alter Helfer" neben dem Arzt stehen sieht, frei, sich den
Befund zu deuten. Immerhin ergeben sich dabei wichtige Anregungen
: Sollte etwa therapeutische Seelsorge als eine Transformation des
normorientierten zum beziehungsorientierten Helfen die Anpassung
an die Zwänge der Industriegesellschaft - den Psychotherapien folgend
- mitvollzogen haben? Dann wäre in der Tat nach der Gestalt
wahrer christlicher Nächstenliebe im Alltag neu zu fragen.

Tübingen Reinhard Schmidt-Rost

Szagun, Anna-Katharina: Behinderung. Ein gesellschaftliches, theologisches
und pädagogisches Problem. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1983. 159 S. 8* = Analysen und Projekte zum Religionsunterricht
. 16. Kart. DM 22.-.

Das Buch versteht sich als „Arbeitshilfe" (S. 11). und zwar „für alle
jene, die sich vor Ort auf der Ebene der kleinen Schritte organisatorisch
, pflegend, erzieherisch und unterrichtlich um die Anbahnung
einer solidarischen Koexistenz von Nichtbehinderten und Behinderten
bemühen". Vfn. ist offenbar selbst Lehrerin in einer Einrichtung
für Behinderte (142 und 143) und trotz des fast unterkühlten Stiles der
Arbeit existentiell engagiert und betroffen von der Art und Weise, wie