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Ausgabe:

1984

Spalte:

752-755

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kühn, Ulrich

Titel/Untertitel:

Kirche 1984

Rezensent:

Amberg, Ernst-Heinz

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Theologische Literalurzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 10

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nämlich den Weg „<A'v Verzicht*auf den philosophierenden Ausstieg
aus dem alltäglichen Lehens/usammenhang" (93).

Gelingt das, ist Tür den Philosophierenden, nicht aber für den Philosophen
das Problem gelöst. Dann ist dieser nur für den Philosophierenden
ein Philosoph, dann stellt sieh die Trage, woher das (philosophisch
selbstwidersprüchliche) Verlangen rührt, andere von ihren
philosophischen Problemen zu befreien und sieh eben dadurch als
Philosoph überllüssig zu machen. Dieses Verlangen, so Schweidler,
läßt sich nicht mehr philosophisch, sondern nur religiös begründen.
Denn indem man andere von den philosophischen Problemen und
damit sich selbst von der Philosophie befreit, macht man sich für
etwas frei. „Wofür macht man sieh frei, indem man die anderen dafür
befreit?" (150). Antwort: Für das glückliche (problemlose) l eben, das
„Geschenk der Gnade" (153) ist, die uns „den Sinn des Lebens bei
einer Person suchen (läßt), die uns auf ewig überlegen bleibt" (169). so
daß wir aus der Welt, wie sie ist, das Beste machen können, ohne uns
im Letzten an sie zu binden. Zu diesem Leben „gehört es in bestimmten
Situationen, uns anderer Menschen anzunehmen, die von ihrer
Suche nach dem wahren Sinn noch eine ungenügende Auffassung
haben" (ebd.). In diesem Sinn ist Wittgensteins ganze Philosophie in
seiner „Hingabc an die Religion" (173) begründet. Denn für den
„rückhaltlos ehrlichen Christen Wittgenstein" mußte die aus Liebe
zum Nächsten praktizierte „Philosophie die Chance eröffnen,
wenigstens partiell die Forderungen der christlichen Botschaft zu
erfüllen" (172).

Wittgensteins Philosophie als praktiziertes Programm christlicher
Nächstenliebe - das ist eine theologische Vereinnahmung Wittgensteins
, die die Belege seiner lebenslangen, von tiefen Depressionen
und ständiger Unzufriedenheit begleiteten Auseinandersetzung mit
ethischen und religiösen Problemen und seine intensive Bemühung
um das Problem des glückliehen Lebens kurzerhand in ein Bekenntnis
„zum glücklichen, christlichen Leben" (172) umstilisiert; die die
mystischen Passagen im Tractatus unbedenklich zum Ausdruck
seiner „Geborgenheit im christlichen Glauben" (171) erklärt, ohne
ein Wort über den gewiß nicht christliehen Einfluß Schopenhauers
auf Wittgenstein zu verlieren; die ignoriert, daß selbst seine engsten
Freunde von ihm sagten: „Certainly he did not have a Christian läith"
(von Wright). Hier wird zu schnell und damit kurz geschlossen. So
beeindruckend Schweidler zu zeigen vermag, daß es für Wittgenstein
ohne Philosophieren keine Philosophie gibt, so wenig plausibel bleibt
die Begründung für die Umkehrung dieses Satzes: „ohne Philosophie
kein Philosophieren" (169) und so unbefriedigend seine Auskunft, der
Entschluß zur Philosophie - im Sinne Wittgensteins - sei nur als
religiöser Dienst am Nächsten zu begreifen. Wittgensteins Philosophie
ist so wenig eine christliche Philosophie wie irgendeine andere;
und daß Wittgenstein sich selbst als christlicher Philosoph verstand,
bleibt auch nach dieser bemerkenswerten Interpretation eine nicht
ausgewiesene Behauptung.

Tübingen Ingolf U. Dalferth

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen der Religion. Ausgewählte Texte zur Religionsphilosophie
. 3., durchges. Aufl. hrsg. u. eingeleitet von A. Esser. Heidelberg
: Lambert 1983. 261 S. kl. 8' = Lambert Schneider Taschenbücher. Kart.
DM 19,80.

Göllner, Reinhard. Heinz-Jürgen Görtz u. Klaus Kienzier: Religion, Kirche,
Gott. Hrsg. von N. Winter. Leipzig: St. Benno (Lizenzausgabe des Verlages
Herder, Freiburg/Br.) 1983.235 S. 8". M 7,20.

Jones, Hugh O.: Die Logik theologischer Perspektiven. Eine sprachanalytische
Untersuchung(Habil. theol. Mainz 1983).

Kierkegaard, Sören: Eine literarische Anzeige. Aus dem Dan. übers, v.
E. Hirsch. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn (Lizenzausgabe des
Eugen Diederichs Verlages, Köln) 1983. XXX11I, 163 S. 8'= GTB Siebenstern,
614. Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke. 17. Abt. Kart. DM 24,80.

Kierkegaard, Sören: Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847. Aus
dem Dan. übertr. von H. Gerdes. Gütersloh: Gütersloher Vcrlagshaus Gerd
Mohn (Lizenzausgabe des Eugen Diederichs Verlages, Köln) 1983. XII, 378 S.
8' = Sören Kierkegaard Gesammelte Werke, 18. Abt. GTB Siebenstern, 615.
Kart. DM31,80.

Systematische Theologie: Dogmatik

Kühn, Ulrich: Kirche. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd
Mohn 1980. 225 S. gr. 8' = Handbuch Systematischer Theologie,
10. Kart. DM 35,-.

Das Handbuch Systematischer Theologie erseheint in 18 Einzelbänden
und wird entsprechend in dieser Zeitschrift einzeln besprochen
. Der vorliegende Band „Kirche" folgt dem bekannten Dreier-
sehema: Reformatoren - sog. Vätergeneration - Verbindung zur
Gegenwart. In einer kurzen Vorbemerkung umschreibt der Vf. seine
Konzeption: „Wir haben uns in unseren Überlegungen zu konzentrieren
auf die dogmatisch grundsätzlichen Fragen nach dem .Begriff
der Kirche, nach dem, was sie - unter den Herausforderungen der
jeweiligen Situation - ihrem Wesen, ihrem Sinn, ihrem Auftrag, ihrer
Gestalt nach ist" (18). Das Besondere einer Ekklesiologie wird darin
gesehen, daß Erfahrung noch mehr als in anderen I hemenbereiehen
der Dogmatik kritisch reflektiert werden muß, daß der Wandel der
Problemstellungen vom 16. zum 20. Jahrhundert noch mehr zu
berücksichtigen ist, daß das Gespräch mit den katholischen Theologen
hervorgehobene Bedeutung hat und daß schließlieh das Kirchen-
Thema einen „Ort und ein Gesehehen" betrifft, „bei dem wir auch
selbst Hand anzulegen haben und bei dem deshalb in einem besonderen
Maße Orientierung nötig ist" (18).

Grundlage lür diese Orientierung ist also in Teil A die reformatorische
Theologie. Für Luthers Kirchenverständnis ist weitgehend
der Gegensatz zu seinen „päpstlichen Gegnern" (21) charakteristisch,
auch in den Spätschriften, auf die hauptsächlich eingegangen wird-
selbstverständlich trotz des beschränkten Umfangs (21-38) auch in
Auseinandersetzung mit der Literatur. So heißt es z. B. in Abgrenzung
gegen M. Docrne (dieser hatte die Wesensbestimmung der Kirche
allein vom Wort her vollzogen): „Sosehr die Kirche aus dem Wort
lebt, sosehr hat sie nach Luther doch ihr Wesen in dem, was durch
dieses Wort ständig Ereignis wird: in ihrem Leben als im Heiligen
Geist versammeltes Volk der Christen" (23). Noch wichtiger sind
allerdings die kritischen Anfragen, die an Luther selbst gerichtet sind.
Sie betreffen das Zurücktreten des Gesichtspunktes der communio der
Christen in den Spätsehriften, die „leere Stelle" in Luthers Kirchen-
begrifT hinsichtlich gesamtkirchlicher Ordnungen sowie das Fehlen
der „missionarischen Dimension" (371).

Steht Luther (auch mit seinen Spätschriften) noch „diesseits der Absonderung
einer lutherischen Konfessionskirche von der einen katholischen
Kirche" (21), so ist das bei M e 1 a n c h t h o n schon anders (39).
Auch sonst werden Unterschiede deutlich gemacht. Wieder betreffen
sie vor allem die Frage nach dem Wesen der Kirche: „Die .Zeichen'
der Kirche sind nach Luther nicht einfach identisch mit den Wesensmerkmalen
der Kirche, während das bei Melanchthon der Fall ist"
(55). Weitere Unterschiede beziehen sich auf das Amtsverständnis sowie
das Gegenüber von wahrer und falscher Kirche. Eine Steigerung
der Tendenz zum eigenen evangelischen Kirchentum findet sich bei
Calvin (58). Zugleich treten bei ihm die „ekklesiologischen Grundsatzfragen
" zurück zugunsten der Gestaltungs- und Rechtsfragen. Insofern
läßt sich bei ihm eine „Gesetzlichkeit im Blick auf die konkrete
Gestalt der Kirche" feststellen (63). Ein gewisses Gegengewicht sieht
der Vf. aber in Calvins Unterscheidung von Fundamentalartikeln des
Glaubens und nicht fundamentalen Wahrheiten (von Bucer und Erasmus
übernommen). Dies wird als „legitime Lehrpluralität" bezeichnet
und die ökumenische Relevanz unterstrichen (63). Am Ende von
Teil A werden Calvin, Luther und Melanchthon aufeinander bezogen
und offene Fragen genannt: kirchliche Einheit (u. a. Bedeutung eines
Konzils), das Problem Kirche - Kirchenglieder (,,. . . ist die Kirche
überhaupt von ihren Gliedern her zu erfassen, ist sie primär Gemeinde
- oder etwa primär Heilsinstitution?"), weiter das Zurücktreten
des communio-Gedankens und speziell der eucharistischen communio
im Spätwerk aller drei Reformatoren, die Ämterfrage sowie das
Verhältnis von Staat und Kirche bzw. Kirche und Welt (740-