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Ausgabe:

1984

Spalte:

749-751

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schweidler, Walter

Titel/Untertitel:

Wittgensteins Philosophiebegriff 1984

Rezensent:

Dalferth, Ingolf U.

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 10

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(29-40) Bezug, natürlich vorrangig aus der Sicht Heideggers bzw. der
Philosophie (Gadamer: „Es überschreitet meine Kompetenz, die exegetische
Fruchtbarkeit des Bultmannschen Ansatzes hier zu erörtern"
-37). Immerhin bezieht G. aber doch Stellung mit folgender These: „Es
ist unmöglich, zwischen Sinn und Heilssinn eines Textes der Heiligen
Schrift einen ausschließenden Gegensatz anzunehmen" (39).

Auch in anderen Beiträgen kommt die Beziehung Heideggers zur
Theologie zur Sprache, und zwar nicht nur Bultmann betreffend, sondern
die (dialektische) Theologie der 20er Jahre überhaupt: „Aus der
fruchtbaren und spannungsvollen Berührung mit der gleichzeitigen
protestantischen Theologie . . . erwuchs dann Heideggers Hauptwerk
.Sein und Zeit'" (82) . Häufiger als diese Blickrichtung wird aber die
Bedeutung Heideggers für die Theologie betont: „Sein und Zeit" rief
die Theologie zur „Eigentlichkeit" (98, ähnlich 117). Soviel zu
Heideggers Verhältnis zur Theologie hauptsächlich der 20er Jahre (G.
berührt selbstverständlich auch die Beschäftigung Heideggers mit
Paulus. Augustin, Thomas von Aquin, Luther, Harnack). Kann man
darüber hinaus auch von der „Theologie" Heideggers sprechen? G.
äußert sich mehrfach zu diesem Problem, vor allem in den Beiträgen
„Die religiöse Dimension" (140-151) und „Sein Geist Gott"
(152-163). Hatte G. bereits in anderem Zusammenhang von einer Art
„geheimer Theologie des verborgenen Gottes" gesprochen, die ständig
bei Heidegger zu spüren sei (117), so wird im erstgenannten Aufsatz
(1981) noch weitergehend gefragt, ob Heideggers sich im Laufe
der Jahre verschärfende Kritik an der Theologie beider Konfessionen
nicht geradezu bezeuge, „daß .Gott' - der offenbare oder der verborgene
- Tür ihn kein leeres Wort war" (140). Dies macht es einerseits
unmöglich. Heidegger einen „atheistischen Denker" zu nennen -
andererseits bleibt es für G. aber auch dabei, „daß die Frage nach dem
Sein, die neu zu stellen Heideggers eigenster Auftrag war, nicht als die
Frage nach Gott verstanden werden darf (140). Was ist es aber dann
mit der Frage nach Gott? Eine gewisse Klärung gibt der schon genannte
Beitrag „Sein Geist Gott" (1976). Heidegger hat danach „auf
seine anfängliche und alles vorwärtstreibende Frage, wie man von
Gott reden könne, ohne ihn zum Gegenstand unseres Wissens zu
erniedrigen, nicht selber eine Antwort gefunden. Aber er hat seine
Frage so ins Weite gestellt, daß kein Gott der Philosophen und vielleicht
auch kein Gott der Theologen eine Antwort sein kann und daß
auch wir nicht wähnen können, eine Antwort zu wissen" (163).

Wir haben in dieser ThLZ-Rezension bewußt theologische Bezüge
in den Vordergrund gerückt. Wer in Heideggers Denken eingeführt
werden will, darf sie nicht übersehen. Der Theologe wird sie nicht
überschätzen. Eine philosophische Kritik ist nicht vorrangig seine
Sache (darin scheint er sich mit Gadamer zu treffen), aber ebensowenig
eine direkte Inanspruchnahme Heideggers4, solange jedenfalls
der Theologe bzw. die Theologie die Frage nach Gott als „eigensten"
Auftrag begreift. Daß man dies auch aus den Gadamerschen Studien
lernen kann, ist dem Vf. zu danken.

Leipzig Ernst-Heinz Amberg

' Vgl. auch Hans-Martin Gcrlach: Martin Heidegger. Denk- und Irrwege
eines spätbürgerlichen Philosophen. Berlin 1982; Wolf Dieter Gudopp: Der
junge Heidegger. Realität und Wahrheil in der Vorgeschichte von „Sein und
Zeit". Berlin 1983 (zwei marxistische Beiträge).

1 Ebcling und Fuchs werden bei Q, nicht erwähnt

1 In diesem Zusammenhang verweist G. mehrfach auf Karl Barth (12; 94).
4 An der Berechtigung solcher Beanspruchung zweifelt auch G. (140).

Schweidler. Walter: Wittgensteins Philoxophicbogriff. Frciburg-
München: Alber 1983. 186 S. 8' = Albcr-Broschur Philosophie
Kart. DM 39,-.

Einen Autor besser verstehen zu wollen als dieser sich selbst verstanden
hat. ist immerein gewagtes Unternehmen. Dieses Verständnis
gerade in dem zu suchen, wie der Autor sich nicht verstanden hat, ist

mehr als wagemutig. Nach allem, was wir von ihm wissen, hätte Wittgenstein
es wohl weit von sich gewiesen, seine philosophische Existenz
als religiös verankerten Dienst am Nächsten im christlichen
Sinn zu verstehen. Gerade das aber ist die These von Walter Schweid-
lers klugem und zur Kontroverse herausforderndem Versuch über
Wittgensteins Philosophiebegriff. Sein Essay plädiert für ein Gesamtverständnis
der Philosophie Wittgensteins als eines christlich motivierten
dialogischen Reflexionsprozesses zwischen Philosophierendem
und Philosophen, in dem es mit der situationsgebundenen Auflösung
philosophischer Probleme zur Überwindung der Philosophie
selbst und damit zur Rückführung der Reflexion in das Handeln und
Leben kommt. Sowohl seine sich auf ihn berufenden Schüler in England
und Amerika als auch seine transzendental-philosophischen
Interpreten auf dem Kontinent hätten Wittgenstein demnach nicht
verstanden. Geblendet durch Einzelfragcn und die eher zufalligen
Probleme, mit denen Wittgenstein sich abgemüht hat, wäre ihnen der
Kernpunkt des Unternehmens entgangen. Gerade den sucht Schweidler
durch die „Nachkonstruktion einer sich so bei Wittgenstein niemals
direkt findenden Gedankenbewegung" zu erschließen, um so
„ins Bewußtsein zu heben, was Wittgenstein selbst in der persönlichen
Eigenart und Zielstellung seiner Philosophie immer verschweigen
mußte" (24). Gerechtfertigt wird dieses interpretatorisch nicht unproblematische
Verfahren nicht nur mit der aphoristischen Zerrissenheit
des Wittgensteinschen Denkens, das zur bricolage herausfordert, sondern
vor allem mit dessen eigenem Hinweis, daß sich das Entscheidende
nicht sagen, sondern nur zeigen lasse. Entsprechend gründet
Schweidler seine Konstruktion vor allem auf die sich in Wittgensteins
Philosophieren zeigende Eigenart seiner Philosophie. Diese wird von
ihm als religiöser Dienst am Nächsten charakterisiert, der sich als die
therapeutische Doppclbcwegung der Überwindung des Philosophierens
eines anderen durch die Philosophie und der Selbstüberwindung
der Philosophie durch „Bekehrung" des Philosophen zur ,J?rohe(n)
Botschaft des Christentums" (1690 vollzieht.

Nach einer die Grundthesen annoncierenden Einleitung entwickelt
Schweidler seine Interpretation in 7 aufeinander aufbauenden Kapiteln
über das Philosophieren (I), die Metaphysik (II), die Beschreibung
der Philosophie (III), den Begriff der Philosophie (IV), die Durchführung
der Philosophie (V), den Lcbcns/usammenhang (VI) und den
Sinn des Lebens (VII). Durchaus überzeugend - darin liegt die Bedeutung
dieses Versuchs - wird Wittgensteins Philosophie in der Zusammenschau
scheinbar divergierender Momente und über eine Reihe
beachtlicher Einzelinterpretationcn als grundsätzlich situationsge-
hundender, am Einzelfall orientierter, personal-dialogisch strukturierter
und therapeutisch ausgerichteter Prozeß zur Darstellung gebracht
. Ich resümiere in Grundzügen: Philosophie beginnt für Wittgenstein
immer erst dort, wo jemand auf ein Problem gestoßen ist und
zu philosophieren anfangt. Gegenstand der Philosophie ist aber nicht
das jeweilige Problem, sondern das dadurch ausgelöste Philosophieren
. Denn zum Philosophierenden wird man, wenn einem bislang
Selbstverständliches zur Frage wird, und es gibt nichts, was nicht so
zur Frage werden könnte. Versucht man seine Verwirrung daher
dadurch zu überwinden, daß man sich auf das entstandene Problem
konzentriert, begibt man sich auf den Irrweg der Metaphysik, auf dem
sich die verlorene Selbstverständlichkeit des Lebens gerade nicht
wiedergewinnen läßt. Nicht worüber, sondern warum man verwundert
ist, hat die Philosophie zu bedenken. Denn die „Verwirrung
ist. . . die Substanz, nicht ein Akzidenz des philosophischen
Problems" (73). Diese Verwirrung aber hört erst auf, wenn man sich
nicht mehr verwundert, also keine philosophische Antwort mehr
sucht, sondern etwas Nichtphilosophisches als Antwort akzeptiert.
Eben dazu möchte der Philosoph den Philosophierenden bewegen,
indem er ihn durch eine rein situationsbezogene Antwort (das ist der
eigentliche Sinn der Sprachspielkonzcption!) neu in die Selbstverständlichkeit
des Lebenszusammenhangs einzuweisen sucht. Philosophie
wird damit zur Therapie des Philosophierens: „Philosoph zu
sein heißt wesentlich, einem anderen den Weg zu weisen" (90).