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Ausgabe:

1984

Spalte:

668-670

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Allmen, Daniel von

Titel/Untertitel:

La famille de Dieu 1984

Rezensent:

Schweizer, Eduard

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 9

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das Gesetz Ühertretungen schafft, ja nach 7.14-25 sogar den Menschen
in lebenslängliche Knechtschaft führt (S. 75). Nach allen drei -
miteinander nicht zu harmonisierenden - Lösungen eröffnet das
Gesetz nicht den Zugang zum Gottesvolk und Heil (Kap. 1,S. 17-64).
Es soll aber von denen ertüllt werden, die aus Gnaden aufgrund ihres
Glaubens an Jesus Christus aufgenommen sind (Kap. 3, S. 93-122),
freilich so, daß der zur Liebe führende Geist wichtig wird und daher 1.
nicht alle paulinischen Mahnungen aus dem Gesetz stammen und 2.
mindestens Beschneidung. Feiertage und Speisegebote wahlfrei bleiben
, in bestimmten Situationen auch aufzugeben sind (S. 1031).
Falsch an der Gerechtigkeit des alten Bundes ist daher grundsätzlich
nur dies, daß sie eben die alte, nicht die neue ist (S. 140 in Kap. 4,
S. 137-141). Kap. 5 (S. 143-167) faßt zusammen. Ein kurzer zweiter
Teil stellt fest, wie vorsichtig Paulus in seiner Terminologie ist. Weder
spricht er von Aufnahme der Heiden in Israel (Rom 1 1, I9F.'), wie es
Eph 2,11-22 wohl schon tut, noch nennt er die Gemeinde das „wahre
Israel" oder gar das „dritte Geschlecht", obwohl Gal6,l6 und
I Kor 10,32 (S. 173f) das faktisch besagen (Kap. 6, S. 171-179). Paulus
war bewußt nur Heidenmissionar (direkte Gegenposition aufgrund
von Apg: J. Jervell, StTh 37, 1983, 17-32!) 1 Kor 9,19-23 ist übertrieben
und bezieht sich höchstens darauf, daß er in Jerusalem jüdisch
lebte, um andere nicht zu verletzen. Nur indirekt dient seine Heidenmission
auch den Juden (Rom II, I 1 ff, Kap. 6, S. 179-199). Daß er
sich selbst als Glied der Synagoge verstand und dafür litt, zeigt
2Kor 11,16-29 (5malige Auspeitschung, S. 199). Die Zusammenfassung
(S. 207-210) formuliert die Unterschiede christlicher Existenz
von der unter dem Mosegesetz: sie ist I. als „Frucht des Geistes", 2.
als Einswerden mit Tod und Auferstehung Christi (nicht nur als
Beschneidung des Herzens) und 3. als Leben im Leib Christi verstanden
(2080- Anm. 1 auf der letzten Seite stellt die völlige Übereinstimmung
des Paulus mit dem palästinischen Judentum in der Frage nach
„Gnade und Werken" fest.

Sympatisch ist die vorsichtige und eingehende Einzelexegese mit
ihrem Wissen, daß der Verfasser (wie sein Rezensent!) seine Vorentscheidungen
nie völlig ablegen kann. Daß Paulus von der „Lösung"
her zum „Problem", von der Rechtfertigung her zur Not des Menschen
vor dem Glauben zurückdenkt, ist ebenfalls richtig (S. 150),
schließt freilich nicht aus, daß er diese in einheitlicher Weise versteht.
Zuzugestehen ist auch, daß Paulus keineswegs immer klar formuliert
und daß Rom 2 schwierig mit anderen Aussagen zu vereinen ist, wie
immer man deutet (S. 123-135). Daß Paulus nirgends erklärt, keiner
könne das ganze Gesetz erfüllen (S. 22 0 und das auch nicht als Grundlage
seiner Argumentation voraussetzt (S. 23-25) - selbst wenn er
gedacht hätte, daß faktisch jedermann sündigt -, scheint mir richtig zu
sein; er selbst war ja „tadellos in der Gerechtigkeit im Gesetz"
(Phil 3,6). Auch ist Gal 3,13 nicht darin ausgewertet, daß Gottes
Rechtfertigung des vom Gesetz verfluchten Gekreuzigten (in der Auferstehung
Jesu) das Gesetz außer Kraft setzt (S. 25) Endlich ist zuzugeben
, daß Paulus nicht ausdrücklich erklärt, die Selbstgerechtigkeit,
die gerade in der Gesetzeserfüllung zu Tage tritt, sei die eigentliche
Sünde (S. 44, vgl. die Auseinandersetzung mit H. Hübner u. a. S. 15,
Anm. 26,32-45,67f, 77-86,96f, 146-149).

Dennoch bleibt meine Frage, ob nicht dem paulinischen Denken
eine viel größere Einheitlichkeit zugrunde liegt, auch wo sie nicht
systematisch ausformuliert ist. Nach wie vor meine ich, daß Bultmann
diese grundsätzlich richtig sieht, so sehr über einzelnes diskutiert werden
muß. Schon die Tatsache, daß der Stamm kauch- („sich rühmen
") wie dik- („gerecht") in allen Briefen außer Phlm vorkommt
(beide in IThess freilich unpolemisch), läßt aufmerken. Vor allem
aber ist das „falsche Vertrauen auf das Fleisch" von Phil 3,2f, das
schon Jes 31,3; Jer 17,5; 2Chr 32,8 angeprangert wird, in V. 4-7 als
Vertrauen auf religiöse Vorzüge und eine tadellose Gesetzesgerechtigkeit
beschrieben, so daß „die eigene Gerechtigkeit" im Gegensatz zu
„der durch den Glauben an Christus, die von Gott kommt", doch
eben dieses Vertrauen aufs Fleisch bezeichnet. Daß schon nach
Rom 1,22 die Ursünde der Heiden die Behauptung ist, weise zu sein,

wie die der Juden das Richten über andere (2,1). kann doch nicht vergessen
werden. Wäre nur an einen unqualifizierten Unterschied
zwischen überholter jüdischer und neuer christlicher Cierechtigkeit
gedacht (S. 38), wie könnte dann Paulus I Kor 1,18-2,16 denselben
Gegensatz am griechischen Vertrauen auf Weisheit aufzeigen (S. 97),
wo wiederum, wie Sanders selbst zeigt, das Sich-rühmen der Heiden
entscheidend ist (wie auch Rom 11,17-20, S. 35)? Wie sehr dieser Gegensatz
selbst unbewußt überall mitspielt, zeigt die Beobachtung, daß
nicht nur wie im AT der Kontrast zu ..Fleisch" oft (rotl selbst und seine
Verheißung sind (Röm9,8; I Kor 1,24-26; 2Korl,l2; 10,4;
Gal 4,23.29), sondern vor allem daß Paulus Phil 3,3; Rom 8,131":
Gal 4,23; 5,18 zwar den Geist oder die Verheißung Gottes durch instrumentalen
Dativ oder diu als Subjekt des Handelns einführt, beim
„Fleisch" aber so formuliert, daß der sich nachdem Fleisch richtende,
es als Norm anerkennende Mensch Subjekt bleibt. So scheint mir die
Einheit paulinischer Theologie darin zu liegen, daß das von Gott gegebene
Gesetz zur Erkenntnis führen soll, wie sehr der Mensch auf
„Fleisch" vertraut. Das ist dort einfach, wo er alles von seinem Reichtum
oder seinen Lusterlährungen usw. erwartet und darob zum Dieb,
Geizhals oder Unzüchtigen wird. Was aber Israel aus allen andern
Völkern heraushebt, ist dies, daß nur hier, wo mit unvergleichlichem
Ernst und unvergleichlicher Freude dem Gesetz Gottes gehorcht
wurde, sichtbar wurde, daß auch und gerade der religiöse Mensch
(und nicht nur der falsche Götzen polytheistisch anbetende und sogar
abbildende Heide) zu dem werden kann, der auf „Fleisch" vertraut:
Rom 5,20; Phil 3,3-9. Eben dies ist der Mißbrauch des Gesetzes
durch die Sünde, daß sie gerade den verführte, der das Gute
tun, nämlich Gottes Gesetz erfüllen wollte (Rom 7,7-25), wobei ich
zugebe, daß dieser Gedanke, der allein die Texte einheitlich lesen läßt,
nicht ausdrücklich an dieser Stelle ausgesprochen ist. Ob das das
damalige (oder gar das heutige) Judentum trifft oder nur die Sicht des
Paulus im Rückblick aufsein eigenes Verständnis darstellt, ist eine
andere Frage (S. 154-160). Ob so oder so „Selbstgerechtigkeif' heute
ein verständnisfördernder Ausdruck ist, bleibt ebenso fraglich, weil es
Paulus um das „Vertrauen auf das Fleisch" (statt auf Gott) geht, ob
sich dies primitiv als Geldliebe oder weniger primitiv als Übersehätzung
dereigenen Weisheit oder als Moralismus manifestiert.

Das zeigt dann freilieh auch, daß die Zusammenfassung in der
„Liebe" (Rom 13,8-10; Gal 5,14) doch mehr meint als im Judentum
(S. I 15, Anm. 8: die negative Formulierung der goldenen Regel in
Shabbath 31a [= Bill I 357] und Tob 4,15), weil Liebe grundsätzlich
nicht mehr gemessen, also auch nie endgültig erfüllt werden kann
(Rom 13,8a). So ist das „Gesetz. Christi" (Gal 6,2; Rom 3,27; 8,2)
nicht einfach identisch mit dem Mosegesetz (so wenig wie das
„Gesetz" in meinen Gliedern Rom 7,23-25), auch wenn es inhaltlich
weithin mit ihm übereinstimmt. Die Begründung aller ethischen Entscheidungen
im Christuskerygma (trotz einer Vielfalt zusätzlicher
Argumente, S. 95, 107) scheint mir (mit H. von Campenhausen,
ShAW.PH 1957/2) zu zeigen, wie zentral Paulus diese grundsätzliche
und qualitative Neuheit auch der Ethik ist. selbst dort, wo er es nicht
ausdrücklich so formuliert. Daß der Glaube nicht nur für den Anfang,
sondern für das ganze christliche Leben wesentlich bleibt und daß
Paulus keine detaillierte Halaka vorlegt, sagt auch Sanders (S. 1 14,
106). Ebenso sieht er, wie selten Paulus vom „Gesetz" spricht, wenn
er das Leben der Gemeinde beschreibt (S. 112). Kann man dann wirklich
sagen, daß das von ihr Geforderte „als Gesetz" wirkt (S. 113)?

Sanders' Buch ist ein gutes Buch, weil es zur Auseinandersetzung
herausfordert und diese durch seine sorgfältige und immer auch die
Einwände dagegen loyal darstellende Exegese möglich macht.

Männedorf/Zürich Eduard Schweizer

AIhnen, Daniel von: La famille de Dieu. La symbolique familialedans
de Paulinisme. Fribourg: Editions Universitaires; Göttingen: Van-
denhoeck & Ruprecht 1981. LXVII, 330 S. gr. 8° = Orbis Biblicus et
Orientalis. 41.