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Ausgabe:

1984

Spalte:

651-660

Autor/Hrsg.:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

Titel/Untertitel:

Selbstverwirklichung - ein seelsorgerliches Programm? 1984

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 9

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Selbstverwirklichung - ein seelsorgerliches Programm? *

Von Ernst-Rüdiger Kiesow, Rostock

Gert Hacndler zum 60. Geburtstag

I 'orbemerkung

Unser TitclbegrifT ist seit Anfang der sechziger Jahre sehr populär
geworden; er begegnet uns nicht nur in der sogenannten Humanistischen
Psychologie und in der Seclsorgeliteratur, sondern auch bei
marxistischen Autoren und sogar schon im Alltagssprachgebrauch.
Für manche Theologen und Gemeindeglieder hat er den Charakter
eines Reizwortes, das verdächtig nach egoistischer Anspruchshaltung
, nach hybridem Individualismus und nach Selbsterlösung
klingt.' E. Jüngel hat recht apodiktisch erklärt: ..Weil der Mensch
niemals das Ergebnis seines Wirkens sein kann, kommt die - in der
gegenwärtigen Theologie mitunter in größter Harmlosigkeit rezipierte
- Kategorie der Selbstverwirklichung nur per nefas in Betracht.""
Auch bei W. Pannenberg kann man in seiner Anthropologie einen
ähnlichen Satz lesen, der allerdings durch den Zusammenhang etwas
differenzierter wirkt: „Das auf die Ganzheit des eigenen Seins gerichtete
Streben nach Selbstverwirklichung ist also in der Tat als Ausdruck
der Sünde, des Willens ,zu sein wie Gott' zu verstehen."1 Alsein
drittes Beispiel für den theologischen Protest und als eine mögliche
Antwort auf die obenstehende Frage sei Heide-Linde Bach zitiert:
„Ziel der Seelsorge kann nicht die Identitätsfindung oder Selbstverwirklichung
des Menschen sein, sondern seine (Er)lösung aus der Ichverkrümmung
in die überwältigende Beziehungsrealität des Gottes,
dersich in Christus als Heiland offenbart hat."

Wir können und wollen auf das lebhafte Für und Wider der
inzwischen breiten Diskussion über dieses Problem in Theologie und
Kirche der BRD hier nicht im einzelnen eingehen; bemerkenswert
erscheint, daß Theologen, die der seelsorgerlichen oder psychologischen
Beratungspraxis näher stehen als ihre akademischen Kollegen
, nicht so neuralgisch reagieren und dem Reizwort auch einen
positiven Sinn für das christliche Menschenverständnis abzugewinnen
vermögen.5 Eine gründliche systematisch-theologische Untersuchung
zum fraglichen Gegenstand ist mir bisher noch nicht bekannt
geworden. Wenn wir für die kirchliche Arbeit in der DDR nach einer
Antwort auf die Frage des Themas suchen, die sowohl psychologischen
wie theologischen Kriterien standhält, sollten wir es unter
Berücksichtigung unseres eigenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen
Kontextes tun. Das ist in der ersten Stellungnahme eines
offiziellen kirchlich-theologischen Gremiums zur Sache offenbar
nicht geschehen:

Die 2. Theologische Kommission des Bundes der Evangelischen
Kirchen in der DDR hat in ihrem „Bericht" vom 10. 12. 1980 „über
ihre Arbeit zur Beobachtung der theologischen Gesamtentwicklung
im Bereich des Bundes" u. a. das Thema „Annahme und Rechtfertigung
" bzw. „Annahme und Selbstverwirklichung" kritisch erörtert.''
Während zum Verhältnis von Annahme und Rechtfertigung vorher
und nachher einzelne Theologen aus der DDR sich äußerten,7 ist
m. W. bei uns bisher überhaupt keine theologische Publikation über
Selbstverwirklichung erschienen. Die Kommission des Bundes hat
sich also bei ihren z. T. sehr dezidierten Urteilen (vgl. Anm. 6) nicht
auf eine eigentliche literarische Debatte im eigenen Bereich beziehen
können und sie hat auch keine Andeutungen dafür gegeben, daß sie
die einschlägigen Diskussionen unter marxistischen Philosophen und
Psychologen aus der DDR oder der Sowjetunion berücksichtigt hat.
J. Helm z. B. behandelte in dem von ihm mitherausgegebenen Band
„Klinische Psychologie" bereits 1979 eine unserem Thema parallele

* Unter dieser Fragestellung stand die Fachtagung 1984 der Arbeitsgemeinschaft
Für Seelsorge und Beratung in der DDR; Anregungen, die ich den dortigen
Aussprachen verdanke, sind in die vorliegende Neufassung meines Referats
eingegangen.

Fragestellung: „Sclbstverwirklichung als Therapieziel'.'"1' Er plädierte
, trotz, aller Einwände gegen die ideologischen Implikationen des
Selbstverwirklichungskonzepts bei den Vertretern der Humanistischen
Psychologie, für eine positive Aufnahme des Anliegens in den
sozialistischen Kontext. Wir wollen im folgenden gerade auch solche
Standpunkte in die Überlegungen einbeziehen, zuvor aber einen
kurzen Blick auf die immerhin schon beachtliche geistesgeschichtliche
Tradition des angeblichen Modewortes werfen.

1. Herkunft und Bedeutungsbreite des Begriffs der Selbstverwirklichung
Keineswegs handelt es sich um „eine Prägung unseres Jahrhunderts
", wie sogar H. Barz, der derzeitige Leiter des C. G. Jung-Instituts
in Zürich, meinte.'' Das war eigentlich auch nicht zu erwarten, denn
die Teilelemente des zusammengesetzten Wortes, „verwirklichen"
und „Selbst", kommen schon in der deutschen Sprache des 18. Jahrhunderts
vor.1" In einer von mir angeregten Rostocker Dissertation
hat M. Brückner den bisher ersten Nachwcisdes Begriffs bei Sendling
erbringen können." Dieser spricht in seinen Münchener Vorlesungen
zur Geschichte der Philosophie (1827) vom metaphysischen Akt des
Selbstsetzens als der Selbst Verwirklichung des Absoluten im Seienden.
In heutiger theologischer Sprache würde es heißen: Die Selbstverwirklichung
Gottes in seiner Schöpfung machte den absoluten Anläng.
Von Schölling aus geht der Bcgriflfin die idealistische Philosophie des
19. Jahrhunderts ein. Aber auch bei K. Marx findet man ihn, hier
schon auf die menschliche Selbstverwirklichung in der Arbeit bezo-

12

gen.

Während Kierkegaard und Nietzsche zwar von der Sache reden,
aber das Wort nicht verwenden, verblaßt der Begriff in der deutschen
Tradition und geht in die englische sowie in die amerikanische Philosophie
als „sclf-realisation" bzw. „sclf-actualisation" über. Von
Nordamerika bringt vermutlich um 1911/1912 Hermann Graf
Keyserling Wort und Idee wieder nach Deutschland zurück. Höchstwahrscheinlich
von ihm übernimmt C. G. Jung den Begriff, den er als
Übersetzung für das von ihm zumeist verwendete Wort „Individua-
tion" angibt.'5 Jungs Konzeption hat auf Psychologen und Theologen
vielfach eingewirkt. Als wegen des deutschen Faschismus viele Psychoanalytiker
, aber auch Wissenschaftler wie der Physiologe K. Goldstein
und P. Tillich, in die USA emigrieren mußten, machte das
abenteuerliche Wort dort erneut Karriere. Sclf-actualisation wurde
zum Schlüsselbegriffder später sogenannten Humanistischen Psychologie
(E. Fromm, K. Horney, C. Bühler. A. Maslow, C. R. Rogers
u. a.). Bei Übernahme der psychotherapeutischen und pastoralpsychologischen
Impulse aus den USA in die europäische Seelsorgebewegung
Anfang der sechziger Jahre kam es zu dem großen Rück-
import für Begriff und Sache der Sclbstverwirklichung, unter dessen
Eindruck wir jetzt stehen. Natürlich haben Jung und Tillich im deutschen
Bereich auch durch die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg
hindurch weitergewirkt, wie A. D. MüllerundO. Haendlerzeigen.14

Es liegt auf der Hand, daß bei so wechselhafter Überlieferungsgeschichte
der semantische Gehalt des Wortes stark variiert wurde. Die
vielseitige Verwendbarkeit und die mangelnde Eindeutigkeit des
Begriffs hängen ursächlich mit der Wortbildung zusammen. Die
abstrakten nomina actionis mit der Endsilbe -ung sind häufig doppeldeutig
, weil sie Subjekt und Objekt der Handlung nicht ohne weiteres
erkennen lassen (z. B. vgl. Erziehung oder Untersuchung): Verwirklichung
kann als Aktiv oder Passiv verstanden werden - ich verwirkliche
mich oder ich werde verwirklicht. Der Wortteil „selbst" ist wiederum
mehrdeutig; er kann als Pronomen oder als Substantiv eingesetzt
werden. So kommt man zu mindestens vier Bedeutungsvarianten
, die jede in sich noch weiter differenziert werden könnten: