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Ausgabe:

1984

Spalte:

611-614

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schilling, Heinz

Titel/Untertitel:

Konfessionskonflikt und Staatsbildung 1984

Rezensent:

Reinhardt, Christa

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Theologische Litcraturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 8

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Vertretern." (79) Es war sein „Verdienst, in Klarheit, ja Unerbittlichkeit
aufgewiesen zu haben, daß Luther nicht Reform, sondern Revolution
bedeutete" (80). E.s Kompromißlosigkeit nahm auch das Risiko
auf sich, sich unbeliebt zu machen. [. läßt die Frage offen, „ob E. sich
aus Verantwortung für die Einheit genügend um den Gegner
bemüht oder ihn nicht vielmehr durch seine Schärfe erst zu häretischen
Konsequenzen getrieben und auf den Irrtum festgelegt hat"
(80). I. vertritt den Standpunkt E.si Luthers theologische Aussagen
werden häretisch genannt. Aber auch E.s Person und Wirken werden
immer wieder kritisch beleuchtet, z. B. wenn I. abschließend festhält,
daß bei dem Verteidiger der römischen Kirche der „formalen Gewandtheit
und der Fülle des Wissens .. . nicht immer die Tiefe" entsprach
(80, vgl. auch 46.49, 51,571). Auch die evangelische reforma-
tionsgeschichtlichc Forschung kann dankbar sein für diese gut lesbare
und gediegene Kurzbiographie des Luthergegners. Nachdenklich
stimmt die Bemerkung im Vorwort, daß E.s positivere Beurteilung
durch I. der Erfahrung zu verdanken ist. „wie schwer es ist, in einer
Zeit hochgespannter Reformerwartungen . . . dem .alten Wahren' Gehör
, geschweige denn Geltung zu verschaffen."

Bei der umsichtigen Auswertung der jüngsten Forschungsergebnisse
vermißt man A. Schneiders Hinweis auf E.s „Fructus germinis
Lutheri" als Quelle für Cochläus' „Kurzen Begriff vom Aufruhr" (Jb.
f. Regionalgeschichte 6. 1978, 195-197). Die Begründung der mangelhaften
Würdigung der Leipziger Disputation mit dem „Ausbleiben
einer Entscheidung kompetenter Theologen" (46) überzeugt nicht.
Die damals durchaus übliche Satz-für-Satz-Widcrlegung war der literarischen
Wirkung von E.s Schrift „De primatu Petri" kaum so abträglich
, wie 1. annimmt (48). Für die Vermutung, daß die Reformordnung
des Regcnsburger Konvents weitgehend auf E. zurückgeht, hätte
man gern einen Beleg (53), Egranus war bereits Prediger in Zwickau,
als E. seinen Namen in die Bulle aufnahm (51). 74 muß es wohl
„eigenständig" statt „eigenhändig" heißen.

Berlin Siegfried Bräuer

Schilling. Heinz: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie
über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in
der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1981. 443 S. gr. 8° = Quellen
und Forschungen zur Reformationsgeschichte, XLVII1. Lw.
DM 150.-.

In der als Fall- oder Feldstudie konzipierten Untersuchung folgt der
Vf. einem religionssoziologischcn Ansatz mit dem Ziel, „die Art und
Weise der Vermittlung zwischen den religiös-kirchlichen und den
politischen und sozialen Elementen des frühneuzeitlichen Gesellschaftssystems
zu ergründen sowie deren Folgen für Inhalt und Form
politisch-gesellschaftlichen Handelns zu bestimmen" (S. 15). Die
Wahl des kleinen reiehsgrüflichen Territoriums - aus der Perspektive
der „großen Politik" höchstens zweitrangig - ermöglicht dabei die
gewünschte detaillierte Aufarbeitung und gleichgewichtige Beachtung
aller sozial und politisch relevanten Bereiche, deren isolierte Betrachtung
die Gefahr einseitiger Überbewertung mit sich bringt. Aber abgesehen
von diesem zugleich systematischen und forschungspragmatischen
Cicsichtspunkt ist darauf hinzuweisen, daß das alle Reich in
erheblichem Maße aus vergleichbaren Klein- und Kleinstterritorien
zusammengesetzt war, die in ihrer Gesamtheit sowohl die Verfassungsentwicklung
als auch die Sozialgeschichte mitgeprägl haben. Die
Forderung des Vf.. den Kleinstaat als eigenen Typus innerhalb der
deutschen Geschichte zu begreifen und nicht nur eine ..Schwundoder
Kümmerstufe" darin zu sehen (S. 44). kann daher nur unterstrichen
werden. Auf derselben Linie liegt das zweite Anliegen des Vf..
auch die Städte - zumindest die größeren und gewichtigeren -
innerhalb der Territorien als politische Bildungen eigener Prägung anzuseilen
, deren volle Integration in den Tcrritorialstaat vielfach mühsamer
war und wesentlich später erfolgte, als eine an den politischen
und administrativen Leistungen der größeren Staaten orientierte Forschung
vermuten läßt.

Die Vielzahl der behandelten Einzclaspekte. die immer in den Kontext
umfassenderer politischer, verfassungs- und sozialgeschichtlicher
sowie geistig-religiöser Entwieklungen der frühen Neuzeit gestellt
werden, kann in diesem Rahmen auch nicht annähernd referiert werden
. Dies gilt insbesondere auch für die intensive Auseinandersetzung
mit der jeweils vorliegenden sozial-, verfassungs- und theologie-
geschichtliehcn Literatur.

Gegenstand der Darstellung ist die „Reformationsgeschichte" der
Grafschaft in der Zeit von etwa 1525 bis zum Dreißigjährigen Krieg,
wobei die wichtigsten Aspekte auch über diese zeitliehe Begrenzung
hinaus im Auge behalten werden. Schwerpunkte innerhalb dieses
Rahmens bilden die Reformation in den späten zwanziger und den
dreißiger Jahren des 16. Jh. und die um 1600 einsetzende „Zweite Reformation
" im ealvinistisehen Sinn unter dem politisch lähigen und
aktiven Grafen Simon VI.

Sowohl um 1530 als auch zu Beginn des 17. Jh. spielte die Stadt
Lemgo - die mit deutlichem Abstand politisch und ökonomisch bedeutendste
der Grafschaft - eine besondere, von der Entwicklung des
Territoriums insgesamt abgehobene Rolle. „Reformation als städtisches
Ereignis" ist daher ein Hauptgegenstand dieser Untersuchung.
Der Vf. weist nachdrücklich daraufhin, daß die reichhaltige Literatur
zu den „Reichsstadtreformationen" in Süddcutsehland der Ergänzung
durch entsprechende Untersuchungen in Norddcutsehland. jedenfalls
im nordwestdeutsch-westfälischen Raum bedarf. Auch hier waren
städtische Reformationen eher die Regel als die Ausnahme. In der
Mehrzahl der Fälle handelte es sieh zwar nicht um Reichsstädte, aber
um landsässige Städte mit bedeutendem ökonomischem Gewicht und
ausgeprägten politischen Traditionen. Häufig waren sie Mitglieder
der Hanse, ihre führenden Familien auch im 16. Jh. noch int Fernhandel
engagiert. Ihre Privilegien, ihre wirtschaftliche Polenz und ihre die
kleinen Territorien übergreifenden Verbindungen gaben ihnen gegenüber
den Landesherren die Stellung von Partnern, mit denen man verhandeln
konnte und ggf. mußte.

Für die in solchen Städten durchgeführte Umwandlung des Kirchenwesens
nach reformatorischen Prinzipien - häufig früher einsetzend
als entsprechende Maßnahmen auf der Seite der Landesherren
oder auch dezidiert gegen deren Option - sehlägt der Vf. die Bezeichnung
„Landstadtreformation" oder „Hansestadtreformation" vor und
gebraucht letztere bevorzugt, wobei er betont, daß die formale Zugehörigkeit
einer Stadt zur Hanse dabei nicht maßgebend ist. Vermutlieh
wäre der erste Begriff aber eher geeignet, auf andere Regionen des
Reiches übertragen zu werden, in denen eventuell vergleichbare
Reformationen in landsässigen Städten bekannt oder zu vermuten
sind.

Die trotz aller Selbständigkeit bestehende Zugehörigkeil der oben
klassifizierten Kommunen zu einem Territorium und ihre Bindung an
eine reichsfürstliehc oder -gräfliche Obrigkeit verbietet jedoch eine
isolierte Betrachtung der städtischen Reformation. Folglieh hat die
vorliegende Arbeit einen zweiten Schwerpunkt in dem Komplex
„Territorium und Reformation".

Für die Analyse der Vorgänge um die Entstehung einer lutherischen
Stadtkirche in Lemgo steht ein verhältnismäßig begrenztes Quellen-
matcrial zur Verfügung. Eine exakte Rekonstruktion des äußeren Ablaufs
ist nicht möglieh. Der Vf. kann aber überzeugend darlegen, daß
die erfolgreiche protestantische Bewegung inhaltlieh und formal von
städtischen Traditionen bestimmt wurde. Trotz ausgebildeter RatS-
verlässung. die von einer längst etablierten, sozial und ökonomisch
abgesicherten Honoratiorensehiehl getragen wurde, konnten gemeindlich
-genossenschaftliche Prinzipien aktiviert werden und politisches
Handeln entscheidend prägen. In der offenen Konfrontation
mit der altgläubigen Landesherrschaft und einem mehrheitlich altgläubigen
Rat agierte die Bürgerschaft insgesamt als Verband, der
seine lebenswichtigen Interessen auch gegen eine legale städtische