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Ausgabe:

1984

Spalte:

540-543

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton

Titel/Untertitel:

Ethos und Religion 1984

Rezensent:

Pfüller, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 7

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theologen. Liegt die Problematik des Buches aber nicht gerade in diesem
doppelten Ziel? Übernimmt sich der Vf. nicht mit diesem Programm
? Für ihn ist freilich die Verbindung deshalb notwendig, weil er
„Einübung in das Christentum" heute als „Einübung in die Bibel"
gefordert sieht (S. 33). Somit ergebe sich als der für die B. Th. zu begehende
Weg „das Modell einer Einübung ins Gottesverstehen durch
das Volk Israel, das in dem Juden Christus Jesus das Siegel letztgültiger
Klarheit und Unverbrüchlichkeit erhalten hat" (S. 30).

Diese Formulierung könnte so verstanden werden, als ob S. das NT
nur im Horizont des AT auslegen wollte. Jedoch verfallt der Autor
erfreulicherweise nicht jenem modernen Trend, das NT im Aussagegefalle
des AT theologisch zu nivellieren (wie es z. B. in theologisch
unverantwortlicher Weise die rheinische Landessynode 1980 getan
hat). „Grundlegung" einer B. Th. ist für S. ausdrücklich Paulus mit
seinem „Gott war in Christus" 2Kor5,l9. Er fundiert jedoch diese
Aussage über Gott im atl. „Verstehen Gottes", leh habe zwar gewisse
Bedenken gegenüber der Wendung „Gott verstehen", interpretiere sie
aber hier in bonam partem und stelle dabei fest, daß S. mit Recht nach
dem AT „das Wort Gott für Israel nahezu ausschließlieh durch den
Bezug Gottes zu seinen Menschen" bestimmt sieht (S. 36). Durch
Jesus Christus ist aber „noch Eigenes hinzugetreten, das über das Verstehen
Gottes entscheidet" (S. 48). Das Verhältnis AT-NT wird aber
dann, gerade im Blick auf 2Kor 5,19, genauer dahin bestimmt, daß
dieses neue Wort in das eingegangen ist, was die Schriften des AT über
die Singularität des Gottesverstehens zu sagen hatten (S. 52).

So erfreulich es ist, daß S. das Moment des Neuen im NT gegenüber
dem AT heraushebt, so geht er doch m. E. darin nicht weit genug. Es
ist ja nicht nur so, als ob das NT das gegenüber dem AT Neue nur in
Kontinuität zum AT sagte. Das NT steht auch und gerade in theologisch
wichtigen Aussagen in entschiedener Diskontinuität zu bestimmten
wichtigen Aussagen des AT. Daß sowohl Kontinuität wie
Diskontinuität das Verhältnis des NT zum AT charakterisiert, liegt
nicht zum geringsten darin begründet, daß das AT selbst keine theologische
Einheit ist. Sogar das Bild, das im AT von Jahwäh gezeichnet
wird, ist äußerst disparat, und zwar auch deshalb, weil unterschiedliche
religionsgeschichtliehc Einflüsse vorliegen. Was nützt es angesichts
dieses Tatbestandes, wenn S. die totale Eigenständigkeit Jah-
wähs ausgerechnet im Blick auf das blutige Kapitel I Kön 18 (V. 40
hat wohl kaum etwas mit christlichem Glauben zu tun!) betont, ohne
daß dem theologisch als Laie gedachten Leser klar wird, daß in
Jahwäh auch heidnische Gottheiten wie die Vatergötlcr oder auch
Züge kanaanäiseher Götter versammelt sind? Religionsgeschichtlich
ist Jahwäh durchaus als ein synkretistisch zusammengewachsenes Gebilde
zu sehen - theologisch freilieh beginnt nun erst die Aufgabe: Wie
steht es mit der atl. Polemik gegen die Götzen, wenn Jahwäh. den das
NT als mit dem Vater Jesu Christi und somit mit unserem Gott identisch
behauptet, synkretistische Elemente in sich birgt? Muß von daher
das ganze Problem Religionsgeschichte - Theologie nicht noch
einmal ganz neu aufgerollt werden, und zwar im Blick auf die Problematik
einer B. Th.? Zwar hat S. auch gelegentlich auf religionsgeschichtliche
Sachverhalte hingewiesen. Aber gerade hinsichtlieh der
Gottesfrage, an der ihm mit Recht so viel liegt, wäre m. E. in der Frage
nach der Identität Gottes im AT und NT das religionsgeschichtliche
Problem essentiell mitzubedenken. Das gilt auch für die Frage nach
Jahwäh als dem Schöpfer. S. geht zwar auf die Schöpfungsthematik
ausführlich ein. Aber daß das Schöpfer-Sein Jahwäh aus fremder Religion
zugewachsen ist. wird gerade nicht reflektiert.

Daß S. dem Gedanken der Diskontinuität zu wenig Gewicht beimißt
, zeigt sich symptomatisch an dem Abschnitt „Jesus und das
Recht" (S. 122fT): Obwohl er ausdrücklich sagt, daß Jesus die Autorität
Gottes für eine Änderung des Rechts in Israel in Anspruch genommen
hat (S. 128), zeigt doch der ganze Tenor dieses Abschnittes, wieS.
hier im Rahmen der Kontinuität denkt. Es ist bezeichnend, daß er
Mk7,15 in diesem Abschnitt nicht nennt. Mt 5,38-40 wird wohl
zitiert, aber gegen den Wortlaut nicht auf die offenkundige Abrogation
eines Torahprinzips ausgelegt! S. spricht im Anschluß an diesen Abschnitt
von der Aufhebung des atl. Gottesvolkes in das Reich Gottes;
doch anscheinend faßt er „Aufhebung" im positiven Sinne Hegels
(S. 137: „aufgehoben, aber nicht abgetan"). Er spricht bezeichnenderweise
von der „Kontinuität in der Aufhebung des atl. Gottesvolkes"
(S. 137).

Man müßte eigentlich Kap. für Kap. unter diesem Gesichtspunkt
durchforsten. Man würde dabei immer wieder darauf stoßen, daß
neben interessanten, ja teilweise liefen Einsichten in biblische (iehalte
das Verhältnis von AT und NT problematisch bleibt. Da diese Durchforstung
hier nicht geschehen kann, muß es bei dem soeben Angedeuteten
bleiben. Lediglieh auf die Behandlung der Torah im 3. Kap. sei
noch hingewiesen: Die paulinische Sicht des Gesetzes ist komplizierter
als bei S. dargestellt.

Alles in allem: Ich vermag noch nicht zu sehen, daß für die Art, wie
S. die Aufgabe derB. Th. aufgreift, die Zeil reif ist. Aber vielleicht vermag
er doch auch von seinen Voraussetzungen aus zumindest teilweise
meine Bedenken zu verstehen; denn an einer Stelle seiner
grundsätzlichen Erwägungen trifft er punktuell, was ich in meinem
programmatischen Aufsatz über die Aufgabe einer B. Th. (KuD 27,
1981. 2-19) gesagt habe. S. erklärt, B. Th. müsse zur Zeit von einer
Einzclwissenschaft. also in seinem Fall von der Wissenschaft des AT,
aus geschrieben werden. Auch ich bin der Meinung, daß sie zur Zeit
nur von der exegetischen Einzeldisziplin angegangen werden kann.
Doch unterscheiden sieh unsere Begründungen. Nach S. erlordert die
jeweilige Unüberschaubarkeit der beiden exegetischen Disziplinen
eine solche Bescheidung (S. 16). M. E. liegt aber die Bescheidung
sachlich darin begründet, daß - auch angesichts der atl. Forschungssituation
, nach der ein Konsens über das, wie eine Th. des AT zu entwerfen
ist, noch lange aussteht - zunächst der Nculestamentler am
Zuge ist. Geht es, mit S„ bei der B. Th. primär um die in der Bibel enthaltene
Theologie, so wird man erst zu untersuchen haben, wie die
einzelnen ntl. Autoren theologisch mit dem AT umgehen. Und das
heißt nicht, wie etwa ihre Zitierweise oder dgl. aussieht, sondern vor
allem, wie diejenigen Theologien im NT beschaffen sind, für die das
AT konstitutiv für ihre theologische Konzeption ist. so daß ohne
ihren Bezug auf das AT ihre Theologie ihr wesentliches Element verlöre
. Ansätze dazu sind von Neutestamcntlern vorgenommen worden.
Doch die entscheidende Arbeit liegt noch vor uns. Danach aber wird
der Alttestamentlcr gefordert sein, diese Arbeit der Neutestamentier
kritisch zu sichten.

Göttingen Hans Hübner

Grabner-Haider, Anton: Ethos und Religion. Entstehung neuer
Lebenswerte in der modernen Gesellschaft, Mainz: Matthias-
Grünewald-Verlag 1983. 206 S. 8°. Kart. DM 32.-.

Nach „Vernunft und Religion" (1978) sowie „Ideologie und Religion
" (1981) legt A. Grabner-Haider nun „Ethos und Religion" vor.
Wer freilich erwartet, daß damit nach der Verhältnisbestimmung der
Religion zum theoretischen Vermögen eine solche zum praktischen
Vermögen bzw. den grundlegenden Handlungsdispositioncn des
Mensehen folgen würde, sieht sieh getäuscht. Vielmehr wird eine
Untersuchung über die „Transformation von Lebenswerten" „in den
modernen, wissenschaftlich-technologisch orientierten Gesellschaften
" angekündigt (Vorw.. 7). Somit scheint statt der womöglich vermuteten
religionsphilosophischen eine sozialwissenschaftliche Untersuchung
avisiert. Indessen: auch dies scheint nur eine - wenngleich
eine wesentliche-der verfolgten Fragehinsichten.

Der Rezensent gesteht unumwunden, daß er mit dem vorliegenden
Buch Mühe gehabt hat, und er glaubt, daß solche Mühe weniger zu
Lasten seiner subjektiven Disposition geht. Den Grund dafür meint er
darin zu finden, daß dieses Buch eine unverhältnismäßig geringe
Kohärenz zu besitzen scheint. Es entstand nicht nur nach erstmaligem
Lesen der Eindruck, hier handele es sieh um ein Konglomerat, ja um
eine eklektische Kompilation von Erwägungen, die irgendwie das