Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1984

Spalte:

375-377

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hasler, Ueli

Titel/Untertitel:

Beherrschte Natur 1984

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

375

Theologische Lileraturzeilung 109. Jahrgang 19X4 Nr. 5

376

Hasler, Ueli: Beherrschte Natur. Die Anpassung der Theologie an die
bürgerliche Naturauflassung im 19. Jahrhundert (Schleiermacher,
Ritsehl, Herrmann). Frankfurt/M.-Bern: Lang 1982. IV, 367 S. 8' =
Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen
Theologie, 49. Kart, sfr 66.-.

Bei der Arbeit von Ueli Hasler handelt es sich um eine sehr gediegene
, gut lesbare und anregende theologiegeschichtliche Untersuchung
, die unser Interesse und größte Beachtung verdient.

Über die von ih.m befolgte Methode schreibt der Autor: „Mit dem
hier eingeschlagenen Weg wird der Versuch unternommen, die her-
meneutisch-interpretative Methode, die ideologiekritische und sozialgeschichtliche
Methode sowie bestimmte Gesichtspunkte der Wissenssoziologie
miteinander zu verknüpfen. Es entspricht dies der
Intention dieser Arbeit, den Naturbegriff einerseits im immanenten
Verstehenszusammenhang der befragten Texte und im Gesamtkontext
der jeweiligen dogmatischen und ethischen Konzepte zu interpretieren
und ihn andererseits auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen
Prozesse in seinem meist unbewußten Bezug auf die faktischen
Verhältnisse und in seiner unausgesprochenen legitimatorisehen Bedeutung
verständlich zu machen." (S. 22) „Was hier als Beitrag zur
Interpretation von Schleiermacher, Ritsehl und Herrmann vorliegt,
ist mithin das Ergebnis eines doppelten Auslegungsvorgangs: der Auslegung
des jeweiligen NaturbegrifTs aus dem immanenten theologischen
Sinnzusammenhang und der Auslegung theologischer Zusammenhänge
aus den meist unbewußten Einflüssen der vorausgesetzten
Naturkonzeption. Erst durch dieses methodische Vorgehen lässt sich
die Vermutung erhärten, daß die Theologie des 19. Jahrhunderts sich
an die bürgerliche Naturkonzeption angepasst habe."(S. 25)

Ganz unzweifelhaft ist nun die rein immanente, theologiegeschichtliche
Darstellung wesentlich überzeugender gelungen als der Versuch,
diese theologiegeschichtliche Entwicklung einer erschreckenden Naturentfremdung
der Theologie des 19. Jahrhunderts als „Anpassung
der Theologie an die bürgerliche Naturauffassung" zu interpretieren
.

Sehr eindrückheh belegt der Autor aus den Primärquellen und im
ständigen Gespräch mit Sekundärdarstellungen, daß der Naturbegriff
bei allen drei Theologen eine, in theologiegeschichtlichen Darstellungen
nicht immer voll erkannte und gewürdigte, wesentliche Rolle
spielt und daß es dabei von Schleiermacher über Ritsehl zu dem frühen
und dann späten Herrmann seit etwa 1890 eine Entwicklung in
der Verhältnisbestimmung des Glaubens und der Theologie zur Natur
gibt, die er durch die vier Stichworte charakterisiert: Vermittlung,
Überwindung, Restriktion, Annihilation.

Die Analyse ist jeweils sehr subtil und differenziert und zugleich im
ganzen recht überzeugend durchgeführt, so daß jede Zusammenfassung
den Wert der Arbeit unter den Scheffel stellt, weil sie die Arbeit
dann notgedrungen auf jene großen Linien verkürzt, die nicht unbedingt
ganz neu sind. Es steckt aber gerade in mannigfachen Details
eine neue Sehweise. Trotzdem sei um des Informationsbedürfnisses
willen eine Art globaler Zwischenzusammenfassung des Autors
zitiert:

„Von Schleiermachers Konzeption einer Theologie, die auf der Grundlage
der dialektischen Vermittlung von Subjekt und Objekt, von Physik und Ethik,
von Naturabhängigkeit und religiöser Naturüberwindung eine Versöhnung zwischen
dem christlichen Glauben und dem Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaften
anstrebte, hat Herrmann sich mit seinem Wissenschafts- und Naturverständnis
so weit als möglich entfernt. Ritschis Kulturtheologie steht gleichsam
dazwischen. Dessen Betonung der Widersprüchlichkeit der Weltstellung
des Menschen und des weltüberwindenden Charakters der Religion bildet zwar
die Grundlage auch für den Herrmannschen Wirklichkeitsdualismus. Hatte
aber Ritsehl den schwelenden Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion
noch durch den wissenschaftlichen Nachweis ihrer Komplementarität beizulegen
versucht, so erscheint dies vom Standpunkt Herrmanns aus als verhängnisvolle
Inkonsequenz. Freilich, auch Herrmann geht es um die Beilegung
dieses Konflikts, und zwar um der Freiheit der Theologie willen. Aber diese Beilegung
kann und darf doch nie aus einer wie immer gearteten Versöhnung und
Vermittlung von Religion und Wissenschaft resultieren, soll die Theologie nicht

zur Metaphysik werden und sich damit der Kritik der Vernunft ausliefern Vielmehr
glaubt Herrmann, dass der Streit zwischen Glauben und Wissen dann und
nur dann zu schlichten sei, wenn die Naturwissenschalt wie die Theologie sich
auf ihre gegenseitige Nichteinmischung verpflichten, und zwar grundsätzlich."
(S. 2740

Und vom späten Herrmann urteilt der Autor dann: „Etwas anderes als die
Behauptung der Wertlosigkeit der Religion bleibt dieser Theologie auch nicht
übrig. Herrmanns Naturalisierung der Not des Menschen impliziert ein Verständnis
von Religion, in dem die Erlösung aus der Not notwendig als Erlösung
von der Natur überhaupt gedacht werden muss. Der Uebergang von der Well
des Todes zum wirkliehen Leben erseheint alsein irrationaler Sprung, den jeder
nur in der Abgeschlossenheit seines Innersten erlebt. Religion reduziert sich
dergestalt in Herrmanns Spätwerk auf die Summe punktueller subjektiver
Erlebnisse im inneren Abgeschiedensein von der Well. Der Well bleibt sie ebenso
verborgen wie sie der Welt nichts mehr zu sagen hat. Wenn die T heologie
irgendwo ihr ganzes Bemühen daraufkonzentriert hat, die Religion zur Privatsache
zu machen, dann hier."(S. 3241)

Nun sei in keiner Weise bestritten, daß es dem Autor gelingt, die
theologiegeschichlliehe Entwicklung mit Hilfe des Schlüssels des Na-
furbegriffes in interessanter und teilweise äußerst anregender Weise in
die politische, wirtschaftliche, naturwissenschaftliche und philosophische
Entwicklung der Zeit hineinzustellen und auch vom politischen
Standort der drei Theologen her zu interpretieren. Hier liegt
immer noch ein Defizit der herkömmlichen theologiegeschichtlichen
Darstellungen, und insofern ist der Versuch des Autors ein wichtiger,
weiterführender Impuls.

Aber methodisch überzeugend ist die Verbindung von Theologiegeschichte
und Sozialgeschichte m. E. noch keineswegs gelungen. Es
bleibt bei interessanten, z. T. gefährlich plausiblen Schlaglichtern
bezüglich der Einwirkung der jeweiligen Klassenposition der drei
Theologen auf ihre Fassung des Naturbegriffs, aber von einer systematisch
durchgeführten Interpretation in dieser Hinsicht kann nicht gesprochen
werden.

Wenn man sich angesichts des einer Besprechung zur Verfügung
stehenden Raumes auf eine starke Verkürzung und Vergröberung einläßt
, kann man vielleicht sagen: Weil Schleiermacher ein noch nicht
frustriertes, aufstrebendes Bildungsbürgertum repräsentiert, das mit
Fortschrittsoptimismus in die Welt sieht, ist sein „Glaube an den wissenschaftlich
-technisch-kulturellen Fortschritt. . . der Glaube an die
Humanisierung der natürlichen Bedingungen des menschlichen Daseins
, an die Befreiung des Menschen von der Sklavenarbeit und von
der Macht des bloss Mechanischen: der Glaube an die Vergeistigung
und Beseelung aller irdischen Verhältnisse." (S. 102) Er rückt dementsprechend
einen Naturbegriff ins Zentrum seiner Theologie, für den
die Vorstellung der „Vernunftwerdung der Natur" und der „Natur-
werdung der Vernunft" charakteristisch ist. Bei ihm lebt „die Religion
nicht vom Elend des Menschen (wie dann bei Ritsehl und Herrmann),
sondern in der Hoffnung auf eine von aller Not befreite Welt"
(S. 103).

Nach der gescheiterten Revolution von 1848 sieht sich die bürgerliche Intelligenz
„vom politischen Geschäft ausgeschlossen und das Interesse auf das Gebiet
der Naturwissenschaft und Ökonomie verlagert. An die Stelle der Konstruktion
umfassender Sinnzusammenhänge im System tritt die experimentelle Forschung
im Detail." (S. 46) In dieser Situation zieht mit Ritsehl „der Dualismus
als weltanschauliches Grundprinzip in die Theologie" ein (S. 177). „Im Dualismus
von Geist und Natur legt jener Teil der bürgerlichen Intelligenz, der an der
Tradition des Idealismus noch festhält, sich die Tatsache zurecht, dass das Bildungsbürgertum
, einst treibende Kraft des politischen und gesellschaftlichen
Fortschritts, die idealistische Menschheitsidee der rauhen Realität der blossen
Natur nicht mehr einzuprägen vermag. An die Stelle des Modells der Naturgestaltung
durch das Handeln der Vernunft in Richtung auf ein vollendetes Ineinander
von Idealem und Realem tritt die Theorie vom ontologischen Widerspruch
zwischen natürlicher und geistiger Realität, an dessen Lösung die Theologie
sich nun versucht" (S. 178). Ritsehl interpretiert nun „Religion als
.Kompensation' der Ohnmacht gegenüber der Natur" (S. 183). „Ritsehl hat
dem durch die Reaktion einerseits und durch die fortschrittliche Arbeiterbewegung
andererseits gehemmten Bürgertum seine Reverenz nicht nur durch die
Umdeutung dieser Hemmungen in naturgegebene gesellschaftliche Uebel
erwiesen, sondern auch durch seine praktische Aufforderung an die Christen-