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Ausgabe:

1984

Spalte:

350-351

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Studien zur Soziologie des Urchristentums 1984

Rezensent:

Walter, Nikolaus

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 5

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gemacht - ein sehr verdienstliches Unternehmen! Denn noch bedarf
es dringend einer sachlichen, sich von allzuleicht ideologisch mißzu-
verstehenden Schlagworten (wie „Materialistische Bibellektüre")
freihaltenden Einführung in und Übersicht über das, was soziologische
Fragestellungen und Arbeitsweisen für die Bibelwissenschaft
austragen können, um Mitforscher und Studenten für dieses Arbeitsfeld
zu interessieren. Das sollte mit diesem Büchlein, dem in
wohltuender Weise jeder apologetische oder propagandistische Ton
fehlt, wohl gelingen können! Auf diesem Feld hat bekanntlich die
nordamerikanische akademische Bibelwissenschaft einen Vorlauf
(beginnend mit der Chicago-Schule seit den 20er Jahren)', der auch
H. C. Ree die genügende Sicherheit gibt und ihn auf scheinrevolutionäre
Töne verzichten lassen kann.

Kee erhebt nicht den Anspruch, hinsichtlich der exegetischen
Materialien und der Auffassungen von Geschichte und Literaturgeschichte
des Urchristentums unentwegt Neues vorzutragen; er
setzt vielmehr weitgehend die allgemein approbierten Ansichten
voraus. Auf seine Sicht, seine Arbeitskonzeption kommt es an.
und die vermittelt dem Leser immer wieder neue Schlaglichter auf
an sich bekannte Sachverhalte und Zusammenhänge. Kee möchte
vor allem die Arbeitsweisen der Wissens- und Literatursoziologie
zur Geltung bringen; doch fehlen natürlich auch Gesichtspunkte
der Gruppensoziologie nicht. Vor allem das Stichwort „Lebenswelt"
(der verschiedenen Zweige des frühen Christentums im Kontext
der spätantiken Lebenswelt überhaupt) ist ihm wichtig, und es ist
klar, daß er auch in dieser Hinsicht weithin auf die schon geleistete
Erforschung der „Umwelt des Neuen Testaments" aufbaut2, nicht
ohne hier auch eigene Akzente zu setzen (so etwa, indem er die
Bedeutung der Isis-Religion für das Verständnis des Vierten Evangeliums
unterstreicht). Aber er führt die „Umwelf'-Forschung vor
allem in der Weise weiter, daß das „Weltbild" (gelegentlich ist,
weniger glücklich, von „Weltanschauung" die Rede) der frühen
Christenheit hinsichtlich der „Vorstellungen" nicht nur mit solchen
in der Umwelt verglichen wird (gar unter den Leitfragen nach
Herkunft, Beeinflussung oder Abhängigkeit), sondern in der Weise,
daß die „Vorstellungen" als sprachlicher Ausdruck eben dieser
„Lebenswelt" und der in ihr erfahrenen Not, Angst oder dann:
Befreiung verständlich gemacht werden.

Diese anthropologische und wissenssoziologische Sicht beherrscht
vor allem die Kapitel 2 („Der Kosmos entsteht", S. 35-57) und 5
(„Kultus und Kultur", S. 102-129), in denen es um die Entwicklung
urchristlicher Anschauungen im Feld zwischen Judentum und Hellenismus
, um die Adaption sozio-kulturell tradierter Erfahrungswerte
in die neue, eigene Lebenserfahrung hinein geht. Dabei ist in Kap. 5
besonders interessant die Absage an den „reinen" Strukturalismus
von C. Levi-Strauss und der relative Anschluß an J. Piaget, der die
gegenseitige Bedingtheit von sprachlich-literarischen Strukturen und
geschichtlich-sozialem Prozeß betont (S. 104-109). Aus den Erörterungen
über „Mythoskonstruktion im frühen Christentum"
(S. 109-116) ergeben sich m. E. wichtige Impulse für die Aufschlüsselung
der neutestamentlichen Christologie in einer Weise, wie sie
die „klassische" philologisch-historische Exegese nicht bieten
konnte. - Gruppensoziologische Aspekte werden in Kap. 3 behandelt
(„Führung und Autorität", S. 58-76), in dem es um verschiedene
Führertypen geht, die sowohl in der (nachösterlichen) Deutung
Jesu als auch in der Geschichte der urchristlichen Gemeinschaften
wichtig werden. Kap. 4 ist anthropologisch orientiert („Persönliche
und gesellschaftliche Identität in der neuen Gemeinschaft",
S. 77-101) und behandelt Aspekte der Soteriologie wie die „Bekehrung
" und die Heilserfahrung und deren Ausprägung in verschiedenen
Gruppen und Schichten der Urchristenheit. - Kap. 6 endlich läßt
unter literatursoziologischem Gesichtspunkt die verschiedenen
Schriftengruppen des Neuen Testaments Revue passieren („Gesellschaftliche
Funktionen der neutestamentlichen Schriften",
S. 130-173), wobei sich trotz der unvermeidlichen Knappheit des
Überblicks doch interessante Schlaglichter - etwa zur inneren Nähe

von Markusevangelium und Johannesoffenbarung oder zur politischapolitischen
Tendenz des Lukas in seinem Doppel werk - ergeben.

Dem einleitenden Kapitel 1 (..Forschungsansätze", S. 1 1-34) entspricht
leider kein wirkliches Schlußkapitel, in dem etwa die
Aspekte des Vorgetragenen (der Autor selbst charakterisiert sein
Büchlein als „Essay im ursprünglichen Sinn des Wortes . . .: als
Versuch, als ein probeweises Abfahren der Strecke", S. 8) noch
einmal gebündelt und - um im Bilde des Zitats zu bleiben - außer
wichtigen Weichenstellungen auch noch ein Ausblick auf die vor
der weiteren Forschung liegende Strecke vermittelt würden. Deutlich
ist aber, daß die Konzeption einer von soziologischen Erkenntnissen
und Fragestellungen geleiteten Arbeit fruchtbare Förderung für die
beiden Hauptfelder der Bibelwissenschaft verspricht: für die historische
Rekonstruktion der Geschichte des Urchristentums ebenso
wie Für die Exegese im engeren Sinne, die Interpretation der
neutestamentlichen Texte. Ohne nun die soziologische Betrachtungsweise
zu einer Art neuer Super-Methode der Bibelwissenschaft
hinaufstilisieren zu wollen - daran liegt auch H. C. Kee offensichtlich
nichts -, wird man doch sagen können, daß sie nicht nur ein
notwendiges Gegengewicht zu einer einseitigen Methode nur textimmanenter
Analysen darstellt, sondern insgesamt die Erkenntnis
auch auf hermeneutischem Gebiet weiter bzw. tiefer treiben wird.
So etwas wie Dogmenhermeneutik - eine Voraussetzung für text-
unä zeitgerechte Interpretation - wird ohne die Einbeziehung der
soziologischen Sehweise nicht weiterentwickelt werden können. So
kann man jedem an der neutestamentlichen Forschung Interessierten
die Lektüre des Büchleins nur empfehlen.

Die Übersetzung von Marianne Mühlenberg ist vorzüglich lesbar; nur
selten sind Wendungen nicht richtig eingedeutscht (wie „im Argument der
Sadduzäer" statt „im Streitgespräch mit den Sadduzäern". S. 50) oder benötigte
man den Originaltext, um den Sinn eines Satzes zu klären (wie auf S. 49
unten: erster Satz von Kap. 2,1V). Warum bei Bibelzitaten zumeist der in
solchem Kontext besonders altertümelnd wirkende Wortlaut der älteren
Lutherbibel gewählt wurde, ist freilich nicht recht einsichtig. Nicht einheitlich
sind die bibliographischen Angaben gehandhabt: in den Anmerkungen zum
Teil nach amerikanischem Stil mit Verlags- statt Ortsangabe, im Literaturverzeichnis
(S. 174-180) nach deutschem Usus. Wer ist E. D. Hirsch, der auf
S. 33 ohne Litcraturvcrwcis genannt wird? Druckfehler sind selten und meist
leicht zu korrigieren, etwa Th. S. Kuhn statt Th. F. Kuhn (S. 17 Anm.), oder
„Erstlich" statt „Erstaunlich" im Harnack-Zitat (S. 14, Z. 3 v. u.) und
„gerichtetem" statt „gerichtetes" in Anm. 70 (S. 163), Z. 9. Das Inhaltsverzeichnis
wäre instruktiver, wenn es auch die Überschriften der römisch
numerierten Unterabschnitte (die jetzt nur den Seitenüberschriften zu entnehmen
sind)enthielte.

Naumburg Nikolaus Walter

1 Vgl. den von Wayne A. Meeks herausgegebenen Sammelband mit Beiträgen
nordamerikanischer Autoren „Zur Soziologie des Urchristentums", München
1979 (S.Besprechung von G. Baumbach, ThLZ 107, 1982 Sp. 676
bis 679).

2 Es ist fast verwunderlich, daß Kee in solchem Zusammenhang die
umfangreiche Übersicht über Geschichte, Kultur und Religion der Umwelt
des Neuen Testaments nicht erwähnt, die jüngst Helmut Köster in der
ersten Hälfte seiner „Einführung in das Neue Testament" (Berlin-New
York 1980; vgl. die Rezension von A. Lindemann, ThLZ 107, 1982
Sp. 735-737) gegeben hat, obwohl diese Darstellung der Konzeption Kee's
gewiß weit mehr entspricht als die „klassische" von Rudolf Bultmann (Das
Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich 1949 usw.), die
er „am wenigsten eindrucksvoll von Bultmanns Werken" nennt (S. 15).

I'heiBen, Gerd: Studien zur Soziologie des Urchristentums. 2„ erw.
Aufl. Tübingen: Mohr 1983. VI, 364 S. gr. 8' = Wissenschaftliche
Untersuchungen zum Neuen Testament, 19. Kart. DM 48,-.

Die erste Auflage des Aufsatzbandes von Gerd Theißen wurde in
ThLZ 107, 1982 Sp. 603-606 angezeigt. Die erweiterte Neuauflage
enthält neu einen - bisher unveröffentlichten - Aufsatz „Christologie
und soziale Erfahrung" (S. 318-330; dazu s. unten), eine gut geglie-