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Ausgabe:

1984

Spalte:

315-316

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Rostig, Dittmar

Titel/Untertitel:

Reich Gottes und die Welt 1984

Rezensent:

Rostig, Dittmar

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315

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 4

316

Bach, Bernhard: Ernstfall der Ökumene oder: der Streit um das Ami in der
Kirche (ZEvKR 28,1983 S. 281-286).

Barth, Hans-Martin: „Alle eins" oder „Streiten verbindet"? Das Paradigma
ökumenischer Theologie stimmt nicht mehr (DtPfrBL 8.3, 1983 S. 474^4 77).

Berger, David: Jewish-Christian relations: a Jewish perspective (JES 20,
1983 S. 5-32).

In C hristus - Huffnung für die Welt. Ein Studienheft für die Siebente Vollversammlung
des Lutherischen Weltbundes Budapest, Ungarn 22. Juli - 5. August
l984(LWB-Dokumentation 1983, Nr. 13,59 S.).

Metropolit Philaret: Kirchliche und Heilige Überlieferung in ihrer Bedeutung
tür die Einheit der Kirche. Gastvortrag nach der Ehrenpromotion an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg(SOrth 1984, H. 2 S. 29-36).

Price, Robert M.: An evangelical Version ofthe „double covenant": new pos-
sibilitiesfor Jewish-fundamentalist dialogue(JES20, 1983 S. 33-42).

Roensch, Manfred: Wird die Frage nach dem kirchlichen Amt zur Schick-
salsfragederÖkumene?(LThK 1983 S. 121-134).

Thurian, Max: Wie steht es mit der Ökumene? Theologische Konvergenzen,
Kirchen in Gemeinschaft (ÖR 32, 1983 S. 399^17).

Haidberg, Ch.: Grundtvig und Luther. Das Abendmahl in ökumenischer
Sicht(KuD30,1984 S. 19-40).

Referate über theologische
Dissertationen in Maschinenschrift

Rostig, Dittmar: Reich Gottes und Welt. Eine religionssoziologisch-
sozialethische Studie zur Struktur und Funktion des Reiches Gottes
bei Leonhard Ragaz. Diss. Leipzig 1983.2 Bde., 456 S.

Der derzeitige Stand der Ragaz-Forschung ermöglicht es, Ragaz'
Theologie von ihrer Mitte her zu entfalten. Daher ist es das besondere
Ziel der Studie, die Beziehungsvielfalt zwischen Reich-Gottes-Ver-
heißung und Weltwirklichkeit systematisch aufzuarbeiten. Diese
systematisch orientierte Problemstellung leistet zugleich einen eigenständigen
Beitrag (am Beispiel von Leonhard Ragaz [1868-1945]), um
Rezeptionsmöglichkeiten religiös-sozialen Gedankengutes für Kirche
und Theologie kritisch zu erschließen.

Die Zielorientierung der vorgelegten Studie steht bewußt im Widerspruch
zu Ragaz' System-, Theorie- und Theologiekritik. Das
materiale Zentrum von Ragaz' theologischer Arbeit, Jesu Botschaft
vom Reiche Gottes, bildet jedoch eine zureichende Basis, um sein
Denken, das nach Karl Barth der „irregulären Dogmatik" zuzuordnen
ist, systematisch zu explizieren. Zugleich gilt es, die prinzipiellen
und bleibenden sozialethischen Anliegen dieses Theologen von den
zeit- und auch schweizerisch ortsbedingten Erörterungen abzugrenzen
und kritisch zu sondern. Diesem Anliegen kommt der eigene innertheologische
Ansatz der Arbeit entgegen. Er nimmt die lutherische
Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auf und weist so den
Zugang zu Weltverantwortung und Weltgestaltung. Das führt zu kritischer
Auseinandersetzung, mit einzelnen Positionen in Ragaz'
Denken.

Der theologiegeschichtliche Ort, an dem sich Ragaz' Verständnis
vom Reiche Gottes ausformt, steht im Spannungsfeld zwischen der
ethischen Ausprägung des Reiches Gottes bei Albrecht Ritsehl und
dessen eschatologischer Neubestimmung durch Johannes Weiß.
Ragaz nahm Weiß' Entdeckung des eschatologischen Charakters des
Reiches Gottes als bleibenden Impuls in sein Denken auf, ohne daß er
dessen ethische Konsequenzen teilte; er übte aber auch an Ritschis
Ansatz Kritik und skizziert ihn als eine „Theologie des Bestehenden",
da jener die Hoffnung des Reiches Gottes als eine gebändigte Hoffnung
interpretiert, die sich innerhalb der Grenzen der vorhandenen
Weltordnungen erschöpft. Ragaz' unverwechselbares, durch und
durch dynamisches Reich-Gottes-Verständnis gewinnt in seiner Basler
Periode (1902-1908) zunehmend Gestalt. Bereits in seiner Gottesanschauung
erweist sich dieses dynamische Element als bestimmend.
Anschaulich spiegelt es sich in der Begrifflichkeit des „lebendigen"

und „zukünftigen Gottes" wider. Während der erste Begriff Gott als
einen Gott der Geschichte und Gegenwart beschreibt, wird der zweite
gleichsam zum Terminus technicus lür dasjenige Handeln Gottes, das
sich in die Zukunft hinein erstreckt.

Ragaz' Beschreibung des Reiches Gottes als Herrschaft Gottes weist
die Richtung, in der er die Frage nach Herkunft, Wesen, Struktur und
Funktion des Reiches Gottes entfaltet. Seine stereotype Antwort auf
die erste Frage lautet: Gottes Reich ist nicht „von" dieser Welt, es
wirkt aber „in" ihr und ,Jiir" sie. Stellt die negative Bestimmung, daß
das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist, die Verschiedenheit von
Gottes Reich und Welt heraus, so ergänzt Ragaz diese Aussage nicht
unwesentlich, indem er die Erlösung der Welt von dem in sie einbrechenden
Reich Gottes erwartet.

Eine weitere Konkretion der Reich-Gottes-Vorstellung nimmt
Ragaz insofern vor, als er das Reich Gottes in Jesus Christus fundiert.
Einerseits knüpft er an die Botschaft des historischen Jesus an (Bergpredigt
, Gleichnisse), andererseits beschreibt er Jesus Christus als die
Offenbarung des Reiches Gottes unter den Gesichtspunkten Inkarnation
, Zwei-Naturen-Lehre, Kreuz, Auferstehung und Wiederkunft.
Sein gesamtes theologisches Denken fallt im Grunde mit der Entfaltung
der Reich-Gottes-Botschaft zusammen und ist, was die Vielfalt
der neutestamentlichen Texte betrifft, vorrangig an den Synoptikern
orientiert.

Der Herzschlag seines theologischen Denkens ist freilich erst dort
zu spüren, wo er den Weltbezug des Reiches Gottes verdeutlicht und
die Erörterung bis an den Punkt vorantreibt, wo er die Lebensmächte
Politik, Revolution und Wirtschaft mit der orientierenden und kritischen
Funktion des Reiches Gottes in Berührung bringt. Der mitunter
geäußerte Vorwurf, daß Ragaz das Reich Gottes als immanente Größe
verstehe und mit dem Sozialismus identifiziere, ist zurückzuweisen.
Er unterscheidet Reich Gottes und Soziaiismus, auch wenn er beide
Größen aufeinander bezieht. Allein die doppelte Struktur des
Reiches Gottes (Transzendenz und Immanenz), die sein theologisches
Denken prägt, entkräftet diesen Einwand. Gerade sie wirkt als ein
Korrektiv, um Vereinseitigungen im Verständnis des Reiches Gottes
(Verjenseitigung, Verindividualisierung) abzuwenden. Die Spannung
zwischen Transzendenz und Immanenz löst Ragaz nicht auf, aber er
betont, daß die Richtung des Reiches Gottes primär auf die Erde
weist. Charakteristisch seine Formulierung: „Wir beten nicht: ,Laß
uns in dein Reich kommen", sondern: ,Dein Reich komme zu uns'."
Es führt allerdings auch über das Grab hinaus.

Die Herrschaft Gottes verheißt den Anbruch einer neuen Welt. Sie
entfaltet sich da, wo sich die Maximen des Reiches Gottes, also die
Gotteskindschaft des Menschen und die Bruderschaft, verwirklichen,
wo der von Gott befreite Mensch über Mammon und andere Gewalten
triumphiert, wo Glaube, Liebe, Hoffnung und Gerechtigkeit walten
. Indem der im Glauben befreite Mensch, der bußfertige Mensch,
diese Verheißung annimmt, wirkt sie als eine Motivation und Orientierung
, um das, was menschlicher Gestaltung obliegt, auf diese
Verheißung hin auszurichten. Konkret verwirklicht sich die Revolution
der Bibel in der Umkehr von den Götzen zu Gott und richtet sich
in ihrer gesellschaftlichen Ausprägung gegen Strukturen, in denen
Selbstsucht, Gewalt und Mammon vorherrschen.

Die Verheißung des Reiches Gottes ist aber nicht als Gesetz und
politisches Programm zu verstehen. Ragaz steht allerdings in der
Gefahr, das Reich Gottes als Politik zu praktizieren. Wo er hingegen
Reich Gottes und Welt eine stärkere Eigenständigkeit zuerkennt,
ohne beide Größen in eine Beziehungslosigkeit treten zu lassen, wo er
Reich Gottes und Politik auf ihre Analogiefähigkeit prüft (im Negativen
wie im Positiven), wird die Konnexion von Reich Gottes und
Politik auch für die Gegenwartsdiskussion relevant. Denn die Verheißungen
des Reiches Gottes richten sich auf diese Welt, gehen in sie
ein, überschreiten sie allerdings auch von ihrem Grund und Ziel her.
Daher bleibt die Spannung zwischen biblischer Verheißung, die ihre
endgültige Erfüllung im Eschaton findet, und politischem Programm
ein Signum der sich erneuernden Weltwirklichkeit.