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Ausgabe:

1984

Spalte:

282-283

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Das Bild Lessings in der Geschichte 1984

Rezensent:

Schultze, Harald

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281

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 4

282

liegt mit dem Beitrag über die Naturtheologie F. Chr. Oetingers vor.
E. Mazet (Lille) gibt einen gründlichen Einblick in die Materie-
Konzeption bei Martinez de Pasqually (t 1779). N. Jacques-
Chaquin (Paris) bestimmt die Naturphilosophie im Werk von L.-Cl.
de Saint-Martin. D. A u 11 (Berkeley/USA) beschreibt (mit bes. Bezug
auf die sprachphilosophisch-hermeneutischen Problemstellungen)
Aspekte der Begegnung und Auseinandersetzung W. Blakes mit dem
Werk Newtons. A. Fai vre (Bordeaux) stellt die Grundpositionen der
Philosophie Baaders vom Blickwinkel der baaderschen Beurteilung
und Würdigung der modernen Naturphilosophen aus dar, wobei u. a.
Hegel, Sendling, Goethe, Carus, Schubert, A. G. Werner Beachtung
finden. Über Schelling und die Naturphilosophie steuert J.-F.
Marquet (Tours) einen von der Textinterpretation ausgehenden
Beitrag bei.

Ein besonderes Gewicht haben - im Rahmen der Gesamtkonzeption
- die Ausführungen von Pagel, Zimmermann, Müller-Jahncke
und Faivre und - unter theologisch-kirchengeschichtlichem Aspekt -
die Beiträge über V. Weigel und Oetinger.2 Festzuhalten ist. daß alle
,,Naturmystiker", die nach J. Böhme gelebt und gewirkt haben, diesem
wesentliche Einsichten verdanken; das gilt für Czepko von Rei-
gersfeld, für Oetinger, Baader und Schelling wie für Saint-Martin und
W. Blake.

Trotz unterschiedlicher Ausgangsposition und Handschrift der
einzelnen Autoren stellt der Band als Ganzes ein die interdisziplinäre
Zusammenarbeit forderndes Unternehmen dar, das die Forschung bereichert
und vertieft: Zur Phänomenologie der Naturmystik, zum
Traditionskonsensus bzw. zu den im Vollzug einer Neuorientierung
eingetretenen Akzentverschiebungen im Denken der behandelten Exponenten
der Näturmystik werden dem Leser wichtige Aspekte erschlossen
. Es wäre wünschenswert, wenn bei einer Fortsetzung des
Unternehmens generell auch in den auf Textinterpretation basierenden
Beiträgen der jeweilige Forschungsstand kurz skizziert würde.

Besondere Beachtung verdient die Fragestellung: „Wie reagiert die
mystisch-christliche Tradition - in ihren Hauptvertretern - auf den
historischen Fortschritt der wissenschaftlichen Methoden und der Naturwissenschaften
?" (S. 448) Damit wäre über ein allgemein wissen-
schafts-, kultur- und geistesgeschichtliches Interesse hinaus die paradigmatische
Funktion der in diesem Zusammenhang verhandelten
Denkansätze und -strukturen angesprochen; die Annäherung an das
Thema wäre demnach auch für die theologische Aufarbeitung von
.Modellen' einer kontext- und situationsbezogenen Auslegung der
christlichen Botschaft in den Koordinaten der .Moderne' von Bedeutung
. Auch wenn sich eine Repristination der analysierten Versuche
verbietet, bleibt die Herausforderung, in der Begegnung mit dem neuzeitlichen
Denken die Identität des christlichen Zeugnisses neu zu gewinnen
und adäquat zu formulieren. Die Intentionen der Naturmystiker
dürften auch im interdisziplinären Gespräch über die Wiedergewinnung
eines ganzheitlichen Verständnisses der Natur nicht übergangen
werden.

So wird nicht nur die Reformations- und Pietismus-Forschung, die
Literaturgeschichte des Barock, der Klassik bzw. Romantik die Horizonterweiterung
in Anspruch nehmen, die hier geboten wird.

Jena Eberhard Pältz

1 Zum Werk des schlcsischen Mystikers D. Czepko von Rcigersfeld und der
bedeutendsten deutschen Dichterin der Barockzeit Catharina Regina von Greif-
fenberg: G. Dünnhaupt, Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur.
Teil Ii A-G, Stuttgart 1980, 558-566 bzw. 685-688.

2 In diesem Zusammenhang wäre auch auf die das Gesamtwerk der „Naturmystiker
" erschließenden Biographien von G.Wehr, u.a. über Paracelsus,
V. Weigel, J. Böhme, Saint-Martin, F. Chr. Oetinger und F. v. Baader. Freiburg
l978fT(jeweils mit Bibliogr.jzu verweisen.

Göpfert, Herbert G. [Hrsg.]: Das Bild Lessings in der Geschichte.

Heidelberg: Schneider 1981. 167 S. gr. 8° = Wolfenbütteler Studien
zur Aufklärung, IX. Kart. DM 42,-.

Aus Anlaß des 250. Geburtstages von Gotthold Ephraim Lessing
fand im Januar 1979 auf Einladung des Wissenschaftlichen Senats der
Lessing-Akademie in Wolfenbüttel ein Symposion statt, dessen Vorträge
mit dieser Publikation einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden. Unter dem Thema „Das Bild Lessings in der Geschichte
" sollten „Spiegelungen Lessings in der Geschichte seiner Rezeption
" aufgezeigt werden. Das Programm entspricht einem aktuellen
Interesse der Forschung - seit mehr als einem Jahrzehnt widmet
sich die internationale Literaturwissenschaft verstärkt der Rezep-
tibnsgeschichte. Das legt die Vermutung nahe, es handele sich hier um
Beiträge für einen kleinen Kreis von Fachwissenschaftlern. Wer aber
den Band zur Hand nimmt, erkennt bald, daß es hier um mehr geht als
um die Zusammenstellung historischen Materials. Lessing hat als Persönlichkeit
wie durch sein vielschichtiges Werk immer wieder Menschen
und Epochen in seinen Bann gezogen; selbst da, wo seine Gedanken
nicht mehr relevant schienen, wurde er doch als Legitimations
-Symbol für eigene Ideen oder Interessen in Anspruch genommen
. Dies ist das eigentliche Thema des Buches.
. Zwei Beiträge gelten der Wirkungsgeschichte Lessings in der Theologie
: Wolfgang Trillhaas gibt einen kurzen Überblick über die
Wirkung Lessings auf die evangelische Theologie, insbesondere im
19. Jahrhundert (57-67). Interessant ist ein Kontrast, den Trillhaas
beobachtet: während die produktive Wirkung Lessings eher bei
Außenseitern in der Theologie zu spüren ist, wird er in den großen
Darstellungen zur Geschichte der evangelischen Theologie, die im
19. Jahrhundert entstanden sind, überhaupt nicht erwähnt. Das wird
erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts anders, bei Karl Barth und Ema-
nuel Hirsch. Den Grund für dies eigentümliche Verschweigen sieht
Trillhaas vor allem darin, daß die Theologie des 19. Jahrhunderts das
Erbe der Aufklärung verleugnet. Außerdem gehöre Lessing nicht zur
theologischen Zunft. Er selbst hatte sich als Laie verstanden, Theologie
als Laie betrieben. Von daher ist es zu deuten, daß eher Außenseiter
wie Fichte, David Friedrich Strauß und Kierkegaard sich von Lessing
haben anregen lassen, seine Impulse weitergedacht haben. - Es ist
schade, daß der Beitrag von Trillhaas über solche zusammenfassenden
Thesen nicht zu einer tiefergehenden Analyse vordringt. - Materialreicher
und für den evangelischen Leser Neuland erschließend ist
der Beitrag des Tübinger Theologen Arno Schilson zur Wirkungsgeschichte
Lessings in der katholischen Theologie (69-92). Schilson,
der selbst durch eine gründliche theologische Studie die katholische
Lessingrezeption neu angeregt hat, zeichnet ein sehr differenziertes
Bild von der Beschäftigung katholischer Theologie mit Lessing. Johann
Michael Sailer und die katholische Tübinger Schule in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere Joh. Sebastian von
Drey, haben bestimmte theologische Einsichten Lessings aufgegriffen
und in ihr eigenes Denken eingeschmolzen. Dies läßt sich nachweisen
für Lessings Thesen zur besonderen Bedeutung der .regula
fidei': sie stehen dem katholischen Traditionsbegriff näher als der damaligen
evangelischen Schrifttheologie. Und ebenso ist der heilsökonomische
Ansatz in der „Erziehung des Menschengeschlechts" für das
spekulativ orientierte Geschichtsbild der Tübinger Schule von Bedeutung
geworden. Hier kommt zum Tragen, daß Lessing sich intensiv
mit den Kirchenvätern beschäftigt hatte. Dieser ökumenische Aspekt
der Lessing-Rezeption ist bisher noch nirgends beachtet worden.
Schilson grenzt gegenüber diesem fruchtbaren Ansatz dann die restau-
rative Phase katholischer Theologie in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts ab, in der Lessing als Repräsentant der Aufklärung
scharf abgelehnt wurde.

Die litcraturwissenschaftlichen und ideologiegeschichtlichen Beiträge
fußen auf Material, das gut erschlossen ist und auch schon vielfach
diskutiert wurde. Horst Steinmetz, der mit einem methodologischen
Beitrag zur „Rezeptionsgeschichte des Kritikers Lessing"