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Ausgabe:

1984

Spalte:

271-273

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Ziese, Jürgen

Titel/Untertitel:

Wibert von Ravenna 1984

Rezensent:

Diesner, Hans-Joachim

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Theologische l.iteraturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 4

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der Auslegung Gottschalks der entscheidende Bestimmungsgrund des
Prädestinationsstreites geblieben." (151) Die Untiefen bei Gottschalk
erscheinen verharmlost und rationalisiert, der Streit wird zu einem
Mißverständnis, das auf verschiedener Lebenserfahrung beruhte.

John M. McCulloh beschreibt „Das Martyrologium Hrabans als
Zeugnis geistiger Arbeil" (154-164). Wiedergeht es um Kompilation.
Unter seinen Quellen bevorzugte Hraban das Martyrologium Bedas
und das Martyrologium Hieronymianum. Andere Quellen hat er gekürzt
, so z. B. den Liber pontilicalis (158). Aber er hat auch verändert,
so z. B. beim hl. Nikolaus (162). U. Spilling beschreibt „Das Fuldaer
Scriptorium zur Zeit des Hrabanus Maurus" (165-81). Er konstatiert
eine „emsige, auf sorgsamer Schulung gegründete Schreibtätigkeit
. . . Als unverkennbar treibende Kraft steht hinler dem Aufschwung
Hrabanus Maurus." (181) W. H au bricht stellt Vergleiche
an: „Althochdeutsch in Fulda und Weißenburg - Hrabanus Maurus
und Otfrid von Weißenburg" (182-93). Otfried war ein Schüler Hrabans
. Für Bibliothek und Schreibschule in Weißenburg sind Einflüsse
Hrabans wichtig. Auch Otfrids exegetische Bemühungen hängen von
Hrabans Vorbild ab (190). Dennoch „sollte man den Einlluß Hrabans
auf den Entschluß, heilige Texte und Exegese in die Volkssprache umzusetzen
, nicht überschätzen" (192). J. Fleckenstein stellt seinen
Abschlußbeilrag unter die Überschrift: „Hrabanus Maurus - Diener
seiner Zeit und Vermittler zwischen den Zeiten" (194-208). Hraban
wurde in die Spannungen seiner Zeit hineingezogen, aber er war letztlich
immer primär Gelehrter. Sein höchstes Ziel war es, die Arbeit seines
Lehrers Alkuin fortzusetzen. Es wird daran erinnert, „ daß Europa
die Kenntnis antiker Überlieferung nahezu vollständig der hingebungsvollen
Arbeit der karolingischen Gelehrten unter der Führung
Alkuins und der von ihnen mobilisierten großen Schar der schreibenden
Mönche verdankt" (201). Alkuins Schule wurde aber „nach seinem
Tode sozusagen nach Fulda verlegt: Hrabanus Maurus war als
Lehrer an seine Stelle getreten." (202) Während des Karolingerreich
zerfällt, „entzieht sich das geistige Leben dem politischen Streit, und
es sind die Klpster, die einst Karl d. Gr. dafür ausersehen halte, die für
seine weitere Pflege sorgen, so beispielhaft Fulda, und zwar vor allem
durch die Wirksamkeit Hrabans. Das aber bedeutet zugleich, daß die
karolingischc Bildung und Gelehrsamkeit ... im ganzen überlebte."
(204) Später haben Scholastik und Humanismus noch „von seiner Arbeit
gezehrt" (207).

Bei aller Vielfalt der Gesichtspunkte und Anregungen legt man den
Band mit zwiespältigem Gefühl aus der Hand. Vieles ist ausgezeichnet
formuliert, zumal von Brunhölzl und Fleekenstein, - aber neu ist es
nicht. Um ein neues Ergebnis mühte sich Freise, der auf 58 Seiten zeigen
will, daß Hraban vielleicht erst 783 und nicht schon 780 geboren
sei: Der mit Absland längste Beitrag des Bandes. Der größte Wunsch
hinsichtlich Hrabans scheint vorerst unerfüllbar zu sein: Moderne
Editionen seiner Schriften. Brunhölzl nennt das Problem mit dem Bemerken
, daß der „Mut zu Einzeluntersuchungen" nicht groß sei (8).
Wer wird uns wenigstens mal einen Band exegetischer Schriften Hrabans
vorlegen, aus dem man im Detail ersehen kann, wie Hraban als
Kompilator alte Auslegungen übernommen bzw. aus ihnen ausgewählt
hat? Was R. Kottje Für die Bußbücher und J. M. McCulloh für
das Martyrologium leisteten, sollte fortgesetzt werden.

Rostock Gerd Haendler

Ziese, Jürgen: Wibert von Ravenna. Der Gegenpapst Clemens III.
(1084-1100). Stuttgart: Hierscmann 1982. 307 S. gr. 8° = Päpste
und Papsttum,20. Lw. DM 160-

Z. unternimmt es in dieser Habilitationsschrift, die G. Denzler viel
verdankt, eine möglichst geschlossene Biographie Wiberts von
Ravenna, der sich als (Gegen-) Papst Clemens III. nannte, zu erarbeiten
. Keine leichte Aufgabe, da die letzte Biographie (von O. Köhncke,
Leipzig 1888) fast ein Jahrhundert zurückliegt und der Gegner Gregors
VII. im Meinungsstreit seiner Zeit und in der historisch-politischen
wie konfessionellen Auseinandersetzung bis heute lebhaft umstritten
bleibt, was auch moderne Lexikonartikel widerspiegeln. Die
Quellen zum 11. und frühen 12. Jh. sind überdies durch die generelle
Konfrontation zwischen den von Cluny ausgehenden Reformern, die
mit dem Franzosen Urban IL schließlich auch die Kreuzzugsidee aufgreifen
, und ihren Gegnern, welche meist gemäßigt sind, sich im Investiturstreit
zurückhalten und somit die ghibellinische Richtung in
etwa .vorwegnehmen', gekennzeichnet. In den Quellen der Zeit ist -
bis in die Urkunden hinein -die spätmittelallerliche Libellistik bereits
stark spürbar. wasZ. auf seine Weise immerhin anmerkt.

Dies alles und die Fülle der vorhandenen und ihm offenbar greifbaren
Sekundärliteratur hat Z.s Aufgabe nicht eben erleichtert. Er
geht sie trotzdem mit Elan und doch vorsichtig an und gelangt insgesamt
zu schönen und beachtenswerten Ergebnissen. Er verbindet - wie
auch kaum anders möglieh - biographische und hisloriographische,
kirchlich-theologische und politische Gesichtspunkte miteinander, so
daß cum grano salis auch ein Gesamtbild dieser Zeit mit entsteht.
Dem Vf. kommt dabei im allgemeinen die Fähigkeit zu nüchterner
Beurteilung der Personen und Situationen zugute, und er versteht es
auch. Details der Taktik sowie Diplomatie und nicht zuletzt der
machtpolitischen Hintergründe auszuleuchten. So wird eingangs
Wiberts Abstammung (zwischen 1020 und 1030 geb.) aus einer kleinen
gräflichen Dynastenfamilie des Verwandtschaftsbereiches der
Markgrafen von Canossa verfolgt, wobei der Familienbesilz um
Parma und Reggio den Beginn seiner geistlichen Karriere in dieser
Gegend verständlich zu machen hilft. Mit kurzen Strichen berührt Z.
den Bildungsweg Wiberts. etwa seine Beziehungen zur frühen Scholastik
und die relative Fundiertheit seiner literarischen Kultur, welche
sich im Briefw echsel und vor allem in seinem juristischen und administrativen
Fundus äußert.

Für W.s spätere .Laufbahn' ist sein Hineinwachsen in einen größeren
kirchlichen und politischen Raum kennzeichnend, so seine Ernennung
zum Kanzler für Italien, die nicht ohne den Einlluß der
Kaiserin Agnes erfolgte und angesichts der Minderjährigkeit Heinrichs
IV. auch nicht bedeutungslos war( 1058-1063). Nach der Entfernung
aus dem Kanzleramt wird Wibert erst 1072 wieder quellenmäßig
läßbar. als ihm der „Erwerb" des Erzbistums Ravenna gelang.
In dieser wichtigen Position wurde Wibert zunächst zum „Exponent
einer Ausgleichspolitik zwischen Rom und dem oberitalienischen
Episkopat" (S. 29). Anfangs mit Alexander IL und dessen Vertrautem
Hildebrand auf gutem Fuße stehend, geriet er doch bald nach Hildebrands
Erhebung auf die „Cathedra Petri" (als Gregor VII.,
1073-1085) aus verschiedenen Gründen und Motivationen in scharfen
Gegensatz zu dem energischen Reformpapst und wurde
(1076/1078) von ihm mit dem Bann belegt. Natürlich waren hier Verbindungslinien
mit Heinrichs IV. Exkommunikation und Canossa-
gang (1077) zu ziehen, obwohl z. B. die Erhebung Wiberts zum
Gegenpapst in Brixen (1080) erst das Ergebnis langwieriger Verhandlungen
des deutsehen Königs mit den Hauptvertretern insbesondere
des oberitalienischen Episkopates war. Nach der Eroberung Roms
durch Heinrich wurde Wiberts Wahl dort wiederholt und durch feierliche
Inthronisation bestärkt. Kurz darauf erfolgte Heinrichs Kaiserkrönung
durch den nunmehrigen Papst Clemens III. (31.3. 1084).
Wenn Wibert für lange Jahre eine erfolgreiche Opposition gegenüber
den Vertretern der Legitimität gelang (Gregor VII. starb 1085 in
Salerno im Exil, Urban II. 1099, ohne Wibert verdrängt zu haben), so
ist dies nach Z.s sorgfältiger Untersuchung vorab seinem realpolitischen
Taktieren zu verdanken, das er allerdings mit persönlicher Integrität
und moderater Strenge (Ablehnung von Simonie und Nikolai-
tismus) sowie mit einer ekklesiologischen Auffassung verband, die alle
Metropoliten als „gleichwertige Teilhaber an der Gewalt des ,sacer-
dotium'" sah und „das Liebesband zwischen allen Kirchen" (S. 276f)
betonte. Obgleich er die Stellung Roms stark herv orhob, bemühte er
sich doch auch um enge Beziehungen zu den Kirchen in Deutschland
bzw. Westeuropa (wobei vor allem Frankreich ein uneinnehmbares
Bollwerk blieb): aus seiner Situation heraus wird verständlich, daß er