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Ausgabe:

1984

Spalte:

209-214

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Reventlow, Henning

Titel/Untertitel:

Bibelautorität und Geist der Moderne 1984

Rezensent:

Wagner, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 3

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Schwärmern. Es handelt sich einmal um die Täufer, zum anderen um
die Uttenreuther Träumer (Nr. 159 S. 2670). Die „Behandlung" ihrer
Anhänger durch die Obrigkeit - nicht immer wurden die „Empfehlungen
" vom Rat auch ausgeführt - ist befremdlich, aber wohl zeitgemäß
. Da ist von Folter verschiedenen Grades, vom Verbrennen, Enthaupten
, an den Pranger stellen, Auspeitschen und Brandmarken die
Rede (S. 258, 268fF, 277, 279f, 2980- Osiander empfahl vom kirchlichen
Standpunkt den Bann und die Landesverweisung (Nr. 158
S. 257ff). Bei den Uttenreuther Träumern handelt es sich um eine
Gruppe, die eine sog. geistliche Ehe praktizierte, d. h. eine zweite illegale
Verbindung einging. Diese Leute wurden hart bestraft, teils mit
der Todesstrafe belegt (Nr. 159 S. 267ff, 280, Nr. 161 S. 2950). Die
Theologen sahen in ihrem Verhalten einen Umsturz der bürgerlichen
Ordnung (S. 275), der mit entsprechenden Strafen zu begegnen sei.

Bei den meisten Quellenstücken - das ist abschließend zu bemerken
- ist Osiander Mitautor, zusammen mit den übrigen Nürnberger
Theologen. Er arbeitet also als Mitglied eines Autorenteams. Die
„Osiander"-Ausgabe trägt auf weite Strecken diesen besonderen Charakter
, der sich wohl aus der Eigenart der Nürnberger Tätigkeit Oslanders
ergibt.

Duisburg Jörg Rainer Fligge

1 Vgl.ThLZ 106.1981 Sp. 106.

2 Gottfried Seebaß: Das reformatorische Werk des Andreas Osiander. Nürnberg
1967 = Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns. Band 44,
S. 6-22.

3 Zum Verhältnis beider s. Jörg R. Fligge: Herzog Albrecht von Preußen und
der Osiandrismus 1522-1568. Diss. phil. Bonn 1972. S. 49-50; u. öfter. - Martin
Stupperich: Osiander in Preußen 1549-1552. Berlin usw. 1973 = Arbeiten
zur Kirchengeschichte 44. S. 11 f.

' S. 337 Anm. 29. hätte man einen Hinweis auf das von Fligge, Osiandrismus
, S. 171-175, 324-327, 329f, 332-339, 867-871 dargebotene reichhaltige
Material zur Person Culmanns, des späteren Osiandristen, erwarten dürfen. -
Oslanders Katechismus ist nur noch in dem Nürnberger Nachdruck (Jobst Gutknecht
) von 1534 greifbar. Die Erstausgabe ist verschollen.

Reventlow, Henning Graf: Bibelautorität und Geist der Moderne.

Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche
und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur
Aufklärung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980. 716 S. gr.
8" = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 30. Lw.
DM 148,-.

Mehr als zehn Jahre hat der Autor nach eigenen Angaben (Vorwort)
an die Ausarbeitung dieser profunden, umfänglichen Untersuchung
eines theologie- und gcistesgeschichtlichen Terrains gewendet, das -
wie sich zeigt - im kontinentalen Raum bisher zu Unrecht nicht die
ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Schon dies ist Grund
genug, an die Arbeit zu gehen. Aber der Verfasser macht noch andere
Gesichtspunkte für das Interesse an dieser Zeit und an dieser Region
geltend. Er holt ganz weit aus und beklagt den gegenwärtig zu beobachtenden
Rückgang der Bedeutung bibeltheologischer Wissenschaft
im Gesamtkonzert der theologischen Eachdisziplinen und sucht einen
Grund dafür ausfindig zu machen. Als einen solchen benennt er den
Verlust der .inneren Mitte', auf welche die Tätigkeit der einzelnen
theologischen Fächer bezogen sein müßte. Unterhalb dieser Schwelle
wird dann aber auch kritisch die „ungenügende Selbstreflexion der
Exegese über ihre eigenen weltanschaulichen und methodischen Voraussetzungen
" als Grund lür den Schwund des Gewichtes der Bibelwissenschaften
in der Gesamttheologie angegeben. Es gilt, „tiefer zu
graben und die ideologischen und gesellschaftlichen Wurzeln aufzudecken
, denen die neuere Bibelkritik ihre Entstehung, ihre tieferen
Antriebe und die Richtung ihrer Antworten verdankt" (9-10, vgl.
674fi. Dabei muß bewußt gemacht werden, daß die Bibclkritik in
ihren frühesten Stadien ein gesamtgesellschaftliches Phänomen gewesen
ist, das nicht nur Theologen beschäftigte, sondern das seine
Wechselwirkungen auf Theologie und Kirche und Gesellschaft hatte

und das Impulse und Prägungen durch gesellschaftliche Bedürfnisse
und Notwendigkeiten empfing. Das vor allem müßte in der Theologie
-, Geistes-, Philosophie- und Verfassungsgeschichte, aber auch in
der Politikwissenschaft stärker Beachtung finden (1 Of). Nicht erst in
der Aufklärungszeit, sondern schon im spätmittelalterlichen Spiritualismus
, in den rational-humanistischen Strömungen innerhalb von
Humanismus und Täufertum sowie in den beiden beherrschenden
kirchenpolitischen Richtungen von Puritanismus und rationalem
Liberalismus (Latitudinarismus und Deismus) in England liegen die
Wurzeln der bibelkritischen Denkanstöße, in der sogenannten .zweiten
Reformation' (H. A. E. van Gelder), deren Auswirkungen auf das
Verständnis der Bibel nach Reventlows Überzeugung ungleich stärker
gewesen sind als die der .ersten Reformation' (12 u. f). Der Vf. versucht
mit Erfolg nachzuweisen, daß in der Geschichte der Bibelauslegung
in der fraglichen Periode England besondere Bedeutung zukommt
. Nicht immer ist es möglich, eine gerade Linie durch die Geschichte
zu verfolgen, die Übergänge zwischen einzelnen Epochen
sind fließend. Auch läßt sich zeigen, daß die Gemeinsamkeiten mancher
antithetisch auftretenden Strömungen (wie z. B. des Puritanismus
und des Liberalismus) größer sind als ihre Gegensätzlichkeiten,
was man bestimmt erst im Hinterdrein erkennen konnte (13). Henning
Graf Reventlow meint nun, daß die Erforschung dieser wissenschaftsgeschichtlichen
Periode auch gegenwärtiger alttestamentlicher
Exegese ihre eigenen Voraussetzungen und Voreingenommenheiten
bewußt machen könnte, wodurch ihr die Chance eröffnet werden
würde, ihren Standort in der Gesamttheologie angesichts der heutigen
geistigen Herausforderungen neu zu bestimmen. Ihm scheint erwiesen
, daß der gegenwärtige historisch-kritische Umgang mit der Bibel
ein Produkt des Späthumanismus ist und in dieser Beschaffenheit der
,neuen geistigen Auseinandersetzung um die Sinnfragen des Lebens'
nicht mehr zu entsprechen vermag. Bibelauslegung müßte sich heute
ihren Weg aus der Vergangenheit heraus bahnen, ihre bisherigen inneren
Voraussetzungen überwinden und ihre Wahl zwischen den beiden
angebotenen grundsätzlich verschiedenen Ansätzen des Menschen-
und Weltverständnisses treffen (15). Aus dem Duktus der Ausführungen
scheint hervorzugehen, daß dem Autor die Wahl zugunsten der
lutherischen (und calvinistischen) reformatorischen Bewegung vor
Augen steht, falls man seinen entsprechenden Satz nicht auf die Wahl
eines ganz neuen dritten Standortes zwischen den beiden Grundpositionen
(Humanismus und Reformation) ausdeuten muß. Hierzu
macht der Vf. keine näheren Angaben, auch in den Schlußbetrachtungen
nicht (672-675). Stattdessen wird vor dem Leser ein ungeheuer
umfangreiches differenziertes Material ausgebreitet, das die diffizilste
Quellenkenntnis des Autors ausweist. Es ist nicht nur die Originalquelle
parat, sondern auch die Sekundärliteratur tief aus der Wissenschaftsgeschichte
heraus bis in die neueste Monographien- und Aufsatzliteratur
hinein. Man wird auch in die wissenschaftliche Auseinandersetzung
einzelner gegensätzlicher Meinungen zu einem Gegenstand
mit hineingenommen. Überall versucht R. eine Linie durchzuhalten
, selbst wenn er sich hic und da einer Autorität anschließt. Nicht
selten hebt er seine eigene Auffassung von der eines renommierten
Theologie- und Geisteswissenschaftlers ab. Oft genug wird dann aus
der englischen Vorlage der zu behandelnden Persönlichkeit bzw. der
diese tragenden Strömung heraus argumentiert. Der Vf. macht
reichlich von dem Recht des Zitierens Gebrauch, so daß der Leser mit
Originaltexten konfrontiert wird. Hier sind ihm auf Grund seiner
langjährigen Forschungen auch entlegene Titel zugänglich gewesen,
so daß in der vorliegenden Veröffentlichung ein wertvolles bibliographisches
Handbuch zur europäischen (und dann natürlich zur englischen
) Theologie- und Geistesgeschichte von der Reformation bis
zur Aufklärung zur Verfügung steht. Ein geschickt aufbereitetes
Namensregister (677-716, zu dem Namen ist das Ordnungswort einer
entsprechenden Publikation gestellt und die im Text erwähnte vollständige
bibliographische Erst-Angabe mit der kursiv gedruckten Seitenzahl
bezeichnet), erschließt rasch den Zugang zur Literatur. Der
teilweise umfangreiche Anmerkungsapparat bringt nicht nur Nach-