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Ausgabe:

1984

Spalte:

195-198

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Flusser, David

Titel/Untertitel:

Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus 1984

Rezensent:

Weder, Hans

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Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 3

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wonach das Matthausevangelium eine Art Heilsgeschichte mit dem
Dreiperiodenschema vertritt, ahnlich wie es schon früher H. Conzel-
mann für das lukanische Doppelwerk beansprucht hat (vgl. G. Strek-
ker, Der Weg der Gerechtigkeit,' 1966 = FRLANT 82; ders.. Das Geschichtsverständnis
des Matthäus, zuletzt in: ders., Eschalon und
Historie, 1979, 97-107). O. zeichnet sein eigenes Bild der matthäi-
schen Geschichtsauffassung aufgrund der Exegese einiger Abschnitte,
die die bedeutendsten Problemkreise betreifen (Heilsgeschichte bei
Matthäus, der irdische Jesus, Jesus und das Gesetz, Eschatologie, die
Kirche als das Volk Gottes, die Kirche im Streit, die Geschichte Jesu
und die Gegenwart der Kirche).

Im Rahmen der exegetischen Ausführungen begegnen wir einigen
nützlichen Einzelergebnissen und trefflichen Formulierungen. In dem
dritten Kapitel über Jesus und das Gesetz zeigt O. z. B., wie die Antithesen
bei Matthäus nicht nur eine neue Deutung des Gesetzes sind,
sondern die neue Offenbarung des Willens Gottes (S. 121-123), die
jedoch das Anliegen des Gesetzes erfüllt (S. 124. 136. 138. 1430- Im
sechsten Kapitel über die zwei gegnerischen Fronten, an denen die
matthäische Gemeinde zu kämpfen hatte, werden die Antinomisten
(der zweite Gegner) mit den galiläischen C hristen gleichgesetzt, die
sich auf die Gesetzeskrilik des irdischen Jesus als des vollmächtigen
Wundertäters beriefen - Mt 7,22f (S. 2451). Was die anderen Gegner,
die Judaisten, betrifft, so meint O. aufgrund der Tempelsteuerperi-
kope (17,24-27), daß die matthäische Gemeinde bemüht war, trotz
des antichristlichen Drucks innerhalb der Synagoge Kontakte mit
dem Judentum aufrechtzuerhalten. In der These über den Zweifrontenkampf
ist O. mit G. Bornkamm, G. Barth u. R. Hummel einig, in
der Beurteilung des Verhältnisses zur Synagoge vermittelt er zwischen
den letztgenannten Forschern und den Autoren der übrigen bedeutenden
Monographien zum Thema, wie K. Stendahl, W. Trilling,
G. Strecker oder R. Walker, die mit der vollendeten Trennung von
Kirche und Synagoge zur Zeit der Verfassung des Matthäusevangeliums
rechnen.

Die kritische Prüfung der heilsgeschichtlichen Deutung des Matthäusevangeliums
, die das Hauptanliegen der Arbeit ist, schließt O.
mit einem negativen Urteil ab: „Matthäus" interessiert sich nicht für
die Chronologie, er kennt keine lineare Zeitachse, auf der sich die
Heilsgeschichte zu ihrem Ziel bewegen würde (S. 73. 283ff). Das
stimmt, aber Streckers „heilsgeschichtliche" Auslegung des Matthäusevangeliums
ist durch solche Kritik nicht betroffen. Das gilt
auch für die Matthäusdeutung von R. Walker, der von Strecker in vieler
Hinsicht abhängig ist. Sie behaupten nicht, daß Matthäus ein
lineares Konzept der Heilsgeschichte entfaltet, sondern daß er die
Diachronie zwischen der Weissagung und der Erfüllung, zwischen der
Zeit Jesu und der Zeit der nachösterlichen Kirche bewußt vernimmt
und verbalisiert und daß er die christliche Existenz unter dem Druck
des eschatologischen Gerichts „ethisiert" - alles was auch O. erkannt
und sogar betont hat (S. 254. 286f u. a.). Im Unterschied zu ihnen betont
O. etwas mehr, daß der irdische Jesus nach Matthäus durch seine
Lehre in der Kirche gegenwärtig ist. Die Korrektur der früheren Deutungen
des Matthäusevangeliums ist also nicht so tief. In der Exegese
bietet O. mehr, als die Zusammenfassungen andeuten, die mit Rücksicht
auf die gegenwärtige Matthäusforschung formuliert sind.

Prag PetrPokorny

Flusser, David: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler
Jesus. I. Teil: Das Wesen der Gleichnisse. Bern-Frank-
furt/M.-Las Vegas: Lang 1981. 336 S. 8' = Judaica et Christiana,
4. Lw.sfr 55.60.

Der Verfasser. Professor für frühes Christentum an der Hebräischen
Universität Jerusalem, stellt gleich zu Beginn entschuldigend fest, er
habe „nicht alle gelehrten Untersuchungen" (S. 14) zu den Gleichnissen
Jesu gelesen. Man würde ihm dies gerne nachsehen, wenn er es
sich wenigstens versagt hätte, ständig pauschale Urteile über die neu-

testamenlliche Wissenschaft von sich zu geben (z. B. S. 12, 17, 31, 58
und passim), Urteile, die sich bei einem auch nur oberflächlichen
Blick auf die entsprechenden Arbeiten als Fehlurteile herausstellen.
Seine mangelhafte Beschäftigung mit der exegetischen Literatur begründet
der Verlässer damit, daß er sich nicht von seinem Anliegen
abbringen lassen wollte (S. 14). Es hätte aber - wenn sein Anliegen
berechtigt ist - diesem bestimmt nicht geschadet, die eine oder andere
Belehrung zu empfangen. Der Vf. hält sein Buch für einen „neuen
Ansatz" (ebd). Auch eine solche Aussage muß jedoch ihre Legitimität
allererst begründen. Jedenfalls fällt es einem einigermaßen Kundigen
recht schwer, in diesem Buch etwas Neues zu entdecken. Und es stellt
sich die Frage, ob der Vf. hier nicht einer Fehleinsehätzung seiner
selbst zum Opfer gefallen ist, die ihre Ursache wiederum in der mangelnden
Auseinandersetzung mit der wichtigsten Gleiehnisliteratur
hat (es genügt keinesfalls, nur Jeremias und Jülicher - und auch diese
nur spärlich - zur Kenntnis zu nehmen, wenn die Gleichnisse Jesu
Thema sein sollen).

Die vorliegende Arbeit behandelt eine Reihe von Themen, die teilweise
auf verschiedenen Ebenen liegen und eine große Disparatheit
aufweisen: Strukturen der Gleichnisse, ihre Ästhetik, Rahmen und
Deutungen in den Evangelien, wirkliche und vermeintliche Allego-
rese, Ursprung und Vorgeschichte der jüdischen Gleichnisse, Sujet
und Zweck, das Gleichnis von den Zehn Jungfrauen (eine detaillierte
Exegese), die synoptische Frage (mit einer extravaganten synoptischen
Theorie), Verstockungsproblematik, Jubelruf, epischer Stil der
Gleichnisse Jesu. Das Buch weist generell eine sehr hohe Redundanz
aus. Dies läßt eine Besprechung, die dem Duktus der Arbeit selbst
folgt, als nicht ratsam erscheinen. Stattdessen werden im folgenden ein
paar wichtige, immer wiederkehrende Themen kritisch gewürdigt.

Eine obligate Aussage ist, daß die Gleichnisse Jesu nur im Zusammenhang
mit den rabbinischen Gleichnissen verstanden werden können
und daß dies bisher aus christlich-ideologischen Gründen unterlassen
worden sei (z. B. S. 13, 31). Die Richtigkeit des zweiten Teils
mag jetzt auf sich beruhen bleiben, der erste Teil spricht einerseits
eine exegetische Selbstverständlichkeit aus und bedarf andererseits
erheblicher Präzisierung. Daß die Gleichnisse Jesu zu den rabbinischen
Gleichnissen gehören, ist eine Aussage, die sich zunächst angesichts
der offensichtlichen formalen Differenzen beider Gleichnisformen
zu verantworten hat. Der Vf. löst diese Schwierigkeit, indem er
innerhalb der rabbinischen Gleichnisse einen „klassischen" und einen
„epigonalen" Typus unterscheidet: während der klassische Typus
ganz auf den moralischen Imperativ abgezweckt ist, hat der epigonale
nur illustrative und erbauliche Funktion (S. 33). Angesichts der traditionsgeschichtlichen
Schwierigkeiten und dem Mangel an wirklich
historischen Untersuchungen der rabbinischen Gleichnisse erscheint
eine solche Unterscheidung von vornherein problematisch, einmal
abgesehen noch von der kulturphilosophischen Bedenklichkeit einer
solchen Dekadenzthese. Weiter: so richtig es ist. die formale Ähnlichkeit
von Jesusgleichnissen und rabbinischen herauszustreichen, so
verkehrt wäre es, nach formalen Unterschieden zu suchen, um dadurch
an die Eigenart der Gleichnisse Jesu heranzukommen (hier
unterlagen viele Exegeten wohl einem formgeschichtlich bedingten
Irrtum). Immerhin stellt jedoch auch Flusser fest, daß bei Jesus die
wörtliche Zitierung eines Schriftworts als Lehre aus dem Gleichnis
fehlt, während diese auch klassisch rabbinisch recht häufig ist (S. 26f).
Ob man dieses Phänomen aber damit erklären soll, daß „biblisches
Beiwerk ... da die Klarheit eher verdunkeln" (S. 28) konnte, ist mehr
als nur fraglich: ein solches Phänomen ist im Zusammenhang der ganzen
Verkündigung Jesu zu deuten, die eine andere Sicht von Vollmacht
impliziert und genau deshalb nicht epexegetisch argumentiert.
Es trifft historisch nicht zu. daß Jesus bloß das rabbinische Denken
dem Christentum vererbte (S. 98). So viel kann diese auffällige formale
Differenz zeigen. Im übrigen kann die Eigenart der Gleichnisrede
Jesu wohl besser auf der Ebene des sachlichen statt des formalen
Vergleichs erkannt werden: interessant ist beispielsweise, in welcher
sachlichen Weise sich das Lohnmotiv (das auch in rabbinischen