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Ausgabe:

1983

Spalte:

91-100

Autor/Hrsg.:

Jenssen, Hans-Hinrich

Titel/Untertitel:

Von der "docta ignorantia" zur Vision der providentia dei liberalis 1983

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 2

92

Von der „docta ignorantia" zur Vision der Providentia dei liberalis *

Von Hans-Hinrich Jenssen, Berlin

Zum Gedenken an Ulrich Neuenschwander 1922-1977

Im Alter von erst 55 Jahren verstarb infolge eines Herzleidens am
26. Juni 1977 plötzlich der Ordinarius für Systematische Theologie,
Religionsgeschichte, Geschichte der Philosophie und Geschichte der
modernen protestantischen Theologie und Rektor designatus der
Universität Bern, Ulrich Neuenschwander. Er gehörte nicht nur zu
den profiliertesten, sondern wohl auch zukunftsträchtigsten Vertretern
des Freien Christentums unserer Zeit, besonders soweit es sich
dem Lebenswerk Albert Schweitzers verpflichtet weiß. Ulrich
Neuenschwander war mit der Herausgabe des theologischen Nachlasses
Albert Schweitzers beauftragt und hatte bereits Albert Schweitzers
„Straßburger Predigten", 1966, und sein „Reich Gottes und Christentum
", 1967, für die Veröffentlichung aufbereiten können. Auch in
dieser Hinsicht wird sein Tod schmerzhafte Auswirkungen haben.

Es ist sicher redaktioneller Zufall, daß in derselben Nummer der
Zeitschrift „Freies Christentum", Jahrgang 1977, in dem auf Seite
231 bis 233 Margarete Witte ihrer „Begegnung mit Prof. Neuenschwander
" gedenkt, noch auf Seite 233 eine Meldung steht: „Evangelikaie
Theologen in den USA haben einen neuen .Internationalen
Rat' gegründet, der mit einem gespendeten Startkapital von 11 000
Dollar ein Zehnjahresprogramm für Studien über die ,Irrtumslosig-
keit' der Heiligen Schrift betreiben soll. Ziel des Vorhabens ist es, den
Nachweis zu erbringen, daß jeder Zweifel an biblischen Aussagen
,nach den Erfahrungen der Kirchengeschichte und den Gesetzen der
Logik irrig' sei. Zu den Gründungsmitgliedern des Rates gehört
Dr. Donald E. Hoke (58), Leiter des Billy-Graham-Zentrums in
Wheaton (Illinois) und 1973/74 Generalsekretär des .Internationalen
Kongresses für Welt-Evangelisation' in Lausanne." Trotzdem bringt
diese zufällige Zusammenstellung recht symbolträchtig die ganze
Tragik zum Ausdruck, daß ausgerechnet in einer Periode offensiver
Ausbreitung des weltweiten Fundamentalismus derjenige neuprotestantische
Theologe seine Feder aus der Hand legen mußte, dem es
nicht nur gegeben war, besonders breitenwirksam zu werden - man
denke etwa an seine zweibändige Taschenbuch-Darstellung der
„Denker des Glaubens", Gütersloh 1974 (vgl. ThLZ99, 1974
Sp. 940-943 und 102, 1977 Sp. 610-612) und seine ebenfalls zweibändige
Taschenbuch-Ausgabe „Gott im neuzeitlichen Denken",
Gütersloh 1977, die im Rahmen dieses Gedenkartikels vorgestellt
werden soll -, sondern der auch unzweifelhaft eine besonders
zukunftsweisende und überzeugende Kraft systematischen Denkens
besaß. Das zeigten bereits seine beiden auch im Druck erschienenen
Promotionsschriften „Protestantische Dogmatik der Gegenwart und
das Problem der biblischen Mythologie", Bern 1949 und „Glaube.
Eine Besinnung über Wesen und Begriff des Glaubens", Bern 1957
[im folg.: Gl]. Das wird nun aber auch ganz besonders deutlich an dem
Gedenk^band, für den 23 teils bereits früher veröffentlichte, sowie teils
bisher unveröffentlichte Arbeiten ausgewählt wurden: Ulrich Neuenschwander
: Zwischen Gott und dem Nichts. Beiträge zum christlichen
Existenzverständnis in unserer Zeit [im folg.: Zwischen]. Die von
Johann Zürcher erarbeitete Bibliographie, die diesem Band beigegeben
ist, weist 170 Publikationen aus und nochmals auf sieben
Druckseiten 187 nicht durchgezählte Rezensionen, davon auch zwei
für die ThLZ (94, 1969 Sp. 136f und 100, 1975 Sp. 4440. Es ist Ulrich
Neuenschwander leider nicht mehr möglich gewesen, in der Art, wie
das sein Lehrer Martin Werner in seinem Buch der „Protestantische
Weg des Glaubens", I, 1955 und II, 1962 getan hat, eine zusammenfassende
Darstellung seiner Sicht der Theologiegeschichte und Glau-

* Neuenschwander, Ulrich: Gott im neuzeitlichen Denken. 2 Bde. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1977. 259 S. u. 244 S. 8" = GTB/Sieben-
stern214u.244,jeDM 15,80.

-: Zwischen Gott und dem Nichts. Beiträge zum christlichen Existenzverständnis
in unserer Zeit. Bern-Stuttgart: Haupt 1981. 304 S.

benslehre zu geben, aber die Veröffentlichungen Neuenschwanders
enthalten m. E. zahlreiche weiterführende und äußerst fruchtbare Gedanken
, von denen im folgenden wenigstens einige vorgestellt werden
sollen.

Die Aufsätze des Gedenkbandes sind den drei Stichworten zugeordnet
: Grundlinien - Begegnung - Perspektiven. Eröffnet wird er durch
einen Aufsatz von 1951 „Die drei Wurzeln des theologischen Denkens
", dem in der Tat programmatische Bedeutung zukommt. Die
hier eingenommene Grundposition läßt sich im gesamten Lebenswerk
Neuenschwanders verfolgen und wird des öfteren von ihm explizit
ausgesprochen, so z. B. in der auch ins Holländische übersetzten
, 142 Seiten starken Programmschrift „Die neue liberale Theologie
. Eine Standortbestimmung", Bern 1953 [im folg.: NITh] und
dem wohl aus dem Jahre 1952 stammenden Vortrag „Alte und neue
liberale Theologie" (Zwischen 80-93), eine Art Kurzfassung des
Buches von 1953.

Die theologische Erkenntnislehre kennt nach Neuenschwander
„drei Wurzeln möglicher theologischer Reflexion" (Zwischen 13),
nämlich zunächst einmal die unmittelbare Erfahrung, „einer der reinsten
Typen solcher unmittelbarer Erfahrungstheologie liegt in den
,Reden' Schleiermachers vor" (15), wenngleich auch in den Reden
schon eine „Kombination mit den anderen Wegen" zu beobachten ist.
Die zweite Wurzel ist „Spezielle Fremderfahrung", die geschichtliche
Uberlieferung; Prototyp einer Offenbarungstheologie ist natürlich
Karl Barth, daneben aber auch schon A. Ritsehl, A. v. Harnack und
R. Bultmann. Die dritte Wurzel ist das rationale Denken, die Religionsphilosophie
, die „allgemeine Reflexion über das Sein, die Welt,
den Menschen und die Transzendenz" (270- .,Die drei Wurzeln des
Erkennens schließen sich gegenseitig nicht a priori aus" (13), wenn
auch vielfach bewußt einseitig eine Wurzel bevorzugt oder gar verabsolutiert
wird. Neuenschwander betont nun - m. E. vollkommen zu
Recht -, daß nur eine bewußte und einigermaßen ausbalancierte Synthese
der drei Wurzeln zu einer wirklich universalen Theologie führt.
„Mit dieser Tendenz einer synthetischen und universalen Theologie
befinden wir uns im Gegensatz zu der heute das Feld beherrschenden
Theologie, die ihr Heil in der Verengung und Einseitigkeit sucht. Ob
sie da aber wirklich das Heil findet, wird erst die Zukunft lehren" (34).
Besonders nachdrücklich wendet sich Neuenschwander gegen die
Versuche einer Trennung von Theologie und Philosophie, wie sie von
einigen Theologen der Neuzeit gefordert wird. „Daß die Theologie
meint, sie könne die Philosophie entbehren, ohne primitiv zu werden,
rührt nur daher, daß sie, auch wo sie sich unphilosophisch gibt, so
viele Elemente der philosophischen Reflexion in sich aufgenommen
hat, daß diese ihr zum selbstverständlichen Instrument geworden
sind, dessen sie sich bedient, ohne sich dieser Tatsache bewußt zu werden
. Es kann sogar geschehen, daß die Theologie die Überflüssigkeit
der Philosophie paradoxerweise mit - philosophischen Argumenten
zu erweisen sucht" (32 f). Ganz gewiß „kann Frömmigkeit zwar
wesentlich unkritisch leben, ohne in ihrer Kraft geschmälert zu werden
, daher ist auch unphilosophischer Glaube denkbar . .. Die liberale
Theologie verlangt nicht, daß alle Menschen ihren Glauben zum
.philosophischen Glauben' durchklären. Das wäre ein gänzlich
unpsychologisches Postulat. Sie hält aber dafür, daß ohne die grenzenlose
Bewußtmachung durch die Philosophie - auch wenn sie nur
durch einzelne geschieht - der Glaube in steter Gefahr ist, abzugleiten.
Sie bejaht deshalb die Philosophie als unentbehrliches Hilfsmittel des
theologischen Denkens. Sobald der Glaube im Denken bewußt werden
will - und das muß er tun, wenn er zu sich selbst kommen will -,
kann die Theologie die Philosophie nicht ohne größten Schaden entbehren
" (NITh 40). „Wenn philosophischer Glaube nach Jaspers das
Merkmal hat, daß in ihm Glaube nur im Bunde mit dem Wissen ist.