Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1983

Spalte:

74-76

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Stahl, Rainer

Titel/Untertitel:

Aspekte der Geschichte deuteronomistischer Theologie 1983

Rezensent:

Stahl, Rainer

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

73

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 1

74

bauern. In den sozialkritischen Menschenschöpfungssprüchen regt
sich also ein Engagement für etwas, was den späteren Menschenrechten
vergleichbar ist.

Die Aussagesprüchc in Prov 10-29 reden überwiegend in der Form
allgemeinmenschlicher Erfahrung, z. B. „Wer eine Grube gräbt, fällt
hinein" (Prov 26,27) oder „Ein Besitz erhastet am Anfang, sein Ende
wird nicht gesegnet" (Prov 20,21). Dieses Reden vom Menschsein hat
seinen theologischen Ort im komplexen Verständnis der Menschenschöpfung
der Urgeschichte des AT (C. Westermann, W. Zimmerli).
Hier wie dort wird der Mensch als ein Geschöpf Gottes verstanden,
das mit dem Lebensraum und den Lebensmitteln erschaffen und dazu
befähigt ist, sein Dasein in freier Verantwortung vor Gott, dem Schöpfer
, in allen Daseinsbereichen zu bewältigen. Die Menschenschöpfungssprüche
, die in expliziter Weise vom Menschen als einem
Geschöpf Gottes reden, bestätigen diesen Aspekt der Theologie des
AT(S. 159-165).

Zwei jüngere redaktionelle Spruchschichten (die Gegensatzsprüche
vom Weisen bzw. Toren aus der Königszeit und die Gegensatzsprüche
vom Gerechten bzw. Frevler aus der nachexilischen Zeit) werden
gegenüber der älteren Überlieferungsschicht von Sprichwörtern ausgesondert
.

Der Versuch, den Überlieferungsweg der beiden Menschenschöpfungsmotive
im Sprichwort durch die Geschichte Israels hindurch
nachzuzeichnen, läßt einen Weg von der Frühzeit Israels bis in die
nachexilische Zeit erkennen. In ihrem Ursprung gehen beide Motive
wohl auf mündlich überlieferte Schöpfungserzählungen zurück
(S. 165-167.288-301.307).

An dieser Stelle der Arbeit folgt ein Exkurs zum Reden von Schöpfung
im Buch Kohelet(S. 167-173).

II. Im zweiten Anlauf der Untersuchung geht es um die Weltschöpfung
(S. 174-250). Da sie in den Weisheitsgedichten Prov 1-9 begegnet
(s. o.), ist nach deren Entstehung zu fragen. Es ist zwischen den
Lehrreden (B. Lang 1972) einerseits und den theologischen Weisheitsgedichten
andererseits zu unterscheiden. Die Lehrreden (z. B.
Prov 1,8-19; 2,1-22; 3,1-12 usw.) sind Mahnreden des Weisheitslehrers
an seine Weisheitsschüler; in ihnen spiegelt sich die Unterrichtssituation
der (aus indirekten Hinweisen erschließbaren)
höfischen Beamtcnschule der salomonisch nachsalomonischen Ära.
Sie gehören ebenso in das zweite Stadium der Geschichte der Weisheit
wie die Redaktion der Spruchsammlungen Prov 10-29 durch die Gegensatzsprüche
vom Weisen und Toren. Die Weisheitsgedichte
(Prov 1,20-35; 3,13-26; 8; 9,1-6.13-18) dagegen gehören zusammen
mit der Redaktion der Spruchsammlungcn Prov 10-29 durch die
Gegensatzsprüche vom Gerechten und Frevler der nachexilischen
„Theologisierung der Weisheit" an. In diesem Spätstudium ist die
Weisheit zu einer philosophischen Größe und damit zu etwas von der
Erfahrung des alltäglichen Lebens Abgesonderten geworden. In den
Weisheitsgedichten spiegelt sich der systematische Versuch der theologischen
Weisheitslehrer, alle Weisheit an die religiöse Vorbedingung
der Gottesfurcht zu binden. Die Existenz einer nachexilischen
Tempelschule legt sich nahe. Bildung und Glaube, Weisheit und Kult
sind in ihren Kreisen keine streng getrennten Bereiche, sondern beeinflussen
sich gegenseitig. Das beweist in der einen Richtung das Eindringen
der Weltschöpfungstradition des beschreibenden Lobes (bzw.
Hymnus) aus der Psalmengattung in die theologischen Weisheitsgedichte
Prov 3,13 fT, Prov 8 und Hi 28, wie auch in der anderen Richtung
das Eindringen weisheitlichcr Reflexion in die sog. Weisheitspsalmen
. Das Weltschöpfungsmotiv aus dem beschreibenden Lob
erfahrt dabei eine entscheidende Blickwendung. Es hat nicht mehr
primär eine Aussage über den Wcltschöpfer und sein Werk zum Ziel,
sondern eine Aussage über die Weisheit und die menschliche Erkenntnis
. Beherrschend ist die philosophisch-naturwissenschaftliche Fragestellung
nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis der
Natur und ihrer Ordnungen. Das „Dabeisein der Weisheit bei der Erschaffung
der Welt" soll das Streben nach unpassender Erkenntnis
und Erforschung der Welt und ihrer Ordnung unterstützen.

Diese Linie der Weltschöpfiing setzt sich in den Weisheitsgedichten
bei Jesus Sirach (Sir 1, Sir 24) und im Buch Baruch (Bar 3,9ff) fort,
erfährt aber eine entscheidende Abwandlung im Sinne der Identifizierung
der Weisheit mit der jüdischen Tora.

III. Abgesehen von diesen drei wichtigen nichtkanonischen Belegen
wird im dritten Teil der Arbeit die Hauptmasse der Schöpfungsbelege
der nichtkanonischen Bücher Jesus Sirach, Baruch und Weisheit
Salomos untersucht (S. 251-283). Hier kann an die Untersuchung
von R. Albertz (s. o.) insbesondere zu den Elihurcden des Buches
Hiob angeknüpft werden. Sic bilden das Bindeglied zwischen der
kanonischen und der nichtkanonischen Weisheitsliteratur. Als Ergebnis
kann festgehalten werden, daß sowohl die bekannten Traditionen
aus den Psalmen, die Weltschöpfung des beschreibenden Lobes und
die Menschenschöpfung der Klage des Einzelnen (R. Albertz 1974),
als auch die Menschenschöpfungstradition der Urgeschichte
(C. Westermann BK I, I, 1974) von der nichtkanonischen Weisheit an
zahlreichen Stellen aufgenommen und verarbeitet werden. Diese Traditionen
erfahren jedoch tiergreifende Abwandlungen, in deren Zug es
zu engeren Berührungen zwischen ihnen kommen kann. 1) Das
Reden von Weltschöpfung vollzieht eine radikale Blickwendung von
Gottes Handeln als Weltschöpfer weg auf das Ergebnis der Schöpfung,
die Natur, hin (Sir 16f). 2) Wo diese Blickwendung der Weltschöpfung
aber mit dem Gegensatz zwischen den Frommen und den Gottlosen
verbunden wird, tritt die Scheidung zwischen segensreichen und
zerstörerischen Naturereignissen hinzu (Elihureden, Sir 39, Sir 420-
Dies mündet in die theologische „Prädestinationslehre" ein. Deren
eine Seite, die Rolle Gottes als Richter und Erzieher über die Frommen
und die Gottlosen, wird durch die Weltschöpfung entöltet. Die
andere Seite der „Prädestinationslehre", die Rolle des Menschen, d. h.
die Bestimmung des Frommen bzw. Gottlosen vor Gott, ihrem Schöpfer
, wird dagegen durch die Abwandlung der Menschenschöpfungstradition
der Klage des Einzelnen entfaltet. Das Reden von Weltschöpfung
und von MenschenschtSpfung sind also Aspekte einer „Lehre"
geworden. In der nichtkanonischen Weisheit wird Gott zugleich als
Weltschöpfer und Menschenschöpfer verstanden. Trotz dieser Abwandlungen
und Berührungen ist aber die ursprüngliche Gesondertheit
der einzelnen Traditionen noch deutlich zu erkennen.

Stahl. Rainer: Aspekte der Geschichte deuteronomistischer Theologie
. Zur Traditionsgeschichte der Terminologie und zur Redaktionsgeschichte
der Redekompositionen. Diss. B, Jena 1982, XLIII,
297 S„ 2 Teile.

Mit dieser Arbeit sollen neue Erkenntnisse zum deuteronomisti-
schen (= dtr) Geschichtswerk auf dem Wege strenger Konzentration
und klarer methodischer Entscheidung gewonnen werden. Deshalb
beschränkt sie sich aur die Untersuchung von Redckapiteln, die das
dtr Geschichtswerk gliedern (S. 1-2), wobei anfänglich Jos 23,
1 Sam 12 und 1 Kön 8,14-61 thematisiert werden. Die Methode verbindet
traditionsgeschichtliche und literarkritische Arbeitsgänge
(S. 3-6): Die traditionsgeschichtliche Untersuchung der verwendeten
Terminologie, die einen wechselnden Umgang deutlich werden läßt,
bestätigt und provoziert literarkritische Beobachtungen, weil literarisch
jüngere Schichten durch neue Handhabung der Tradition gekennzeichnet
sind.

Bevor diese methodischen Grundsätze an den thematisierten Kapiteln
durchgeführt werden können, spricht die Arbeit im ersten Kapitel
(„Die deuteronomisch-deuteronomistische Tradition - eine Problemanzeige
", S. 7-14) sachliche Voraussetzungen an. Die dtr Bewegung
wird als theologische Strömung der Exilszeit verstanden und damit
eine vorexilische Fassung des dtr Geschichtswerks ausgeschlossen.
Die Probleme des Deuteronomium (= Dtn) und der deuteronomi-
schen (= dtn) Theologie werden bezüglich des dtr Anteils im Dtn angesprochen
. Obwohl ich weiß, daßjiiermit eigengewichtige Fragenkreise
in den Blick kommen, erschließe ich lediglich aus dem gegenwärtigen