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Ausgabe:

1983

Spalte:

915-917

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bryner, Erich

Titel/Untertitel:

Der geistliche Stand in Russland 1983

Rezensent:

Döpmann, Hans-Dieter

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 12

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Literatur längst gewöhnt ist, nur durch die subjektive Überzeugung
gelingt, daß er den Lebensgrund der orthodoxen Kirche als tragende
Quelle gefunden hat und dadurch auch wiederzugeben vermag. Dieser
Ansatz des Autors entwirrt die ganze verwirrende Ausfächerung vielfältigster
Ausdrucksformen als verborgene und geistig-künstlerisch-
religiös-gcnialische Einheit. Es geht ihm um die Liturgie, namentlich
die Chrysostomus-Liturgie, die noch die tragende Grundlage in allen
Kirchen des Ostens darstellt, aber auch um die Liturgie im weitesten
Sinne des Stundengebetes und der Festfeier, wodurch das gesamte
Leben der Gläubigen im Ablauf des Jahres der Kirche rhythmisch
gegliedert und geordnet wird. Alles, was Namen und Bedeutung hat,
alles, was das Leben der Kirche umrankt, wird insgeheim, ohne daß
man dessen genau ansichtig wird, schon von vorneherein auf diesen
Lebensgrund bezogen und durch ihn genauer als durch sich selbst dargestellt
. Man kann nicht umhin, auch in Anbetracht einiger Schwächen
(s. u.), diese Arbeit von Onasch als Meisterstück anzusehen. Er
hat vielfältigste Bausteine aus allen Bereichen gesammelt und so zu
einem Mosaik zusammengefügt, daß man bei jedem von ihnen sofort
ahnt, wenn auch nicht immer gleich erkennt, wie ihn der Autor in ein
vorgefügtes Muster eingeordnet hat. Das wiederum ist gerade bei
einem alphabetisch geordneten Lexikon (genau: zwischen „Abendgottesdienst
" und „Zölibat") verwunderlich und ungewöhnlich. Dennoch
liest man die einzelnen Artikel mit Spannung und fühlt sich
durch jeden bereichert, vor allem weil der Vf. stets ein umfangreiches
religionsgeschichtliches Material zu Rate gezogen hat und in den
Grundzügen darbietet. Er überläßt es oft dem Leser, sich dieses anzueignen
und daraus seine eigenen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Wenn man hin und wieder die neueste Literatur des Westens vermißt,
ist man gleichzeitig überrascht, wie viele russischsprachige Literatur
vermerkt worden ist, die dem Westen weithin unbekannt geblieben
war. Seine Thesen sind oftmals Hypothesen mit nicht selten „provo-
kativem" Charakter. Aber dadurch wirkt das Werk ungemein anregend
und zwingt zum kritischen Weiterdenken. Dazu gehört auch
die durchgehende Behandlung der ostkirchlichen Kunst als Zeichensprache
und Lehrinformation (z. B. „Ikone", „Ikonographie", „Iko-
nologie", „Perspektive", „Sprache"). Das erst jüngst erschienene
Werk von Christopher Walter (Art and Ritual of the Byzantine
Church, London 1982), das ebenfalls die byzantinische.Kunst "as a
language or means of communication" untersucht, wird den Vf. für
eine hoffentlich zu erwartende Neuauflage zur Überprüfung einiger
seiner Ausführungen anregen. Davon abgesehen, versteht es der Autor
meisterhaft, die geistlichen Inhalte religionsgeschichtlich zu vertiefen,
den religionsgeschichtlichen Inhalten aber ihre geistliche Fortführung
und Erweiterung aufzuweisen (z. B. „Gebet", „Ikone" / S. 168: Lehrinformation
und Spiritualität /, „Mönchtum", „Ritus" u. v. a. m.). O.
versieht den Leser nicht mit „Lexikonwissen", sondern regt ihn an, an
jeder Stelle neu nachzudenken und nachzuprüfen, bisher nicht Gewußtes
einzubauen und vor allem das geistliche Gefüge des ostkirchlichen
Denkens.aus jeder schwärmerischen Zuneigung zu lösen und
auf solide Füße zu stellen.

Mit großem Dank vermerkt man die sorgfältige Auswahl von 80
z. T. ganzseitigen Tafeln, besonders aber auch die Mitteilung von 30
grundlegenden Formen liturgischer Texte sowie die Verzeichnisse der
griechischen, russischen und lateinischen Termini. Das beigefügte
Kartenwerk mit seinen Legenden hilft die im Lexikon erwähnte
Topographie zu erschließen. Dieses Buch ist wie geschaffen, jeden geistig
aufgeschlossenen Menschen der Gegenwart neugierig zu machen
und an dieser weithin verborgenen Welt der Ostkirche zu interessieren
.

Köln Wilhelm Nyssen

Bryner, Erich: Der geistliche Stand in Rußland. Sozialgeschichtliche
Untersuchungen zu Episkopat und Gemeindegeistlichkeit der russischen
orthodoxen Kirche im 18. Jahrhundert. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1982. 268 S. gr. 8" = Kirche im Osten. Monographienreihe
, 16.

Die vorliegende Arbeit des Schweizer Pfarrers und Privatdozenten
wurde 1978 vom Fachbereich Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaft
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn-
berg als Habilitationsschrift angenommen. Vf. zeigt, daß zwar über
weltliche Gruppierungen im Gesellschaftsgefüge Rußlands eine reichhaltige
Spezialliteratur vorliegt, aber die höhere und niedere Geistlichkeit
sowohl in der sowjetischen wie in der westlichen Forschung
zu wenig Beachtung gefunden hat, obwohl der höhere Klerus sowie
die Gemeindegeistlichkeit, die ein knappes Prozent Gesamtbevölkerung
ausmachte, auch im gesellschaftlichen Bereich bedeutenden Einfluß
ausübte. Er konzentriert seine Untersuchung auf das durch die
Reformpolitik Peters I. gekennzeichnete 18. Jh. und behandelt ausführlich
die sich unter dessen Nachfolgern ergebenden Besonderheiten
. Dabei kommt dem geistlichen Schulwesen schon deshalb besondere
Bedeutung zu, weil es dem weltlichen Bildungswesen Rußlands
in gewisser Weise vorausging. Vf. erhebt nicht den Anspruch, eine
Lösung aller damit verbundenen Fragen zu bieten, er „möchte lediglich
zu einer vertieften und besser fundierten Kenntnis und Diskussion
und zu einem besseren Verständnis einzelner Probleme der russischen
Sozial- und Kirchengeschichte des für die spätere Entwicklung
in mancher Hinsicht so wichtigen und entscheidenden 18. Jh.s beitragen
" (S. 23). Dies ist ihm in der sehr detaillierten, auf gründlichen
Quellenstudien beruhenden und durch 15 Tabellen illustrierten
Arbeit durchaus gerungen.

Der einleitende Abschnitt (S. 9-23) bietet einen instruktiven Überblick
über den Forschungsstand. Angemerkt sei, daß das Lehrbuch
von P. Znamenskij nicht nur früher, sondern auch heute in den Geistlichen
Seminaren Verwendung findet.

Ein erster Hauptteil untersucht ..Zusammensetzung und Lage des
Episkopats" (S. 24-89). Vf. zeigt, daß sich die Zusammensetzung des
Episkopats seit Beginn des 18. Jh. in wesentlichen Punkten veränderte
. Nach der geographischen Herkunft wurden die theologisch
höher gebildeten Ukrainer bevorzugt, neu und einmalig war die Einsetzung
von Bischöfen aus Polen-Litauen und anderen orthodoxen
Ländern. Nach der sozialen Herkunft rekrutierte sich der Episkopat in
Zusammenhang mit der Neugliederung der russischen Gesellschaft in
Stände weitgehend aus Söhnen von Pfarrgeistlichen. Es erhöhten sich
die Bildungsanforderungen, und eine Reihe von Bischöfen zeichnete
sich durch bedeutsame Buchveröffentlichungen aus. Der Zar erhielt
durch den neuen Modus der Wahl und Einsetzung größeren Einfluß
auf die Bischöfe. Die neue Konzeption vom Bischof als einem Staatsbeamten
wurde häufiger als früher dazu genutzt, politisch mißliebige
Hierarchen zu versetzen oder ihres Standes zu entkleiden.

Der zweite Hauptteil gilt der Problematik „Geistlicher Stand und
Bildungswesen" (S. 90-147). Eine Vielfalt von sozial-, bildungs- und
kirchenpolitischen Momenten wird sehr detailliert zur Darstellung
gebracht, darunter die gesetzlichen Grundlagen Peters L und seiner
Nachfolger, der Ausbau des geistlichen Schulwesens und die Entwicklung
zur Standesschule, Lehrpläne und Lehrziele, die soziale Zusammensetzung
von Schülerschaft und Lehrkörper, die materiellen Verhältnisse
der geistlichen Schulen, die Frage, weshalb man in Rußland
keine Theologischen Fakultäten schuf. Berücksichtigt werden jeweils
die Besonderheiten der einzelnen Akademien und Seminare, nicht
zuletzt in den süd- und westnissischen Gebieten, wo die Begegnung
und Auseinandersetzung mit der Union und dem Katholizismus besondere
Anforderungen stellte.

Der dritte Hauptteil behandelt „Die ständische Abschließung der
weißen Geistlichkeit" (S. 148-225), also des verheirateten Gemeindeklerus
. Auch hier wird eine Fülle von Aspekten entfaltet. Hervorgehoben
seien zwei grundlegende Feststellungen. Einerseits zeigen
sich innerhalb des geistlichen Standes vor allem hinsichtlich der Bildung
und materiellen Lage enorme Unterschiede. So bedarf das Klischee
vom ungebildeten russischen Popen einer Korrektur. Während
es auf dem Lande nur wenige gebildete Priester gab, kann Bryner auf
eine Reihe städtischer Gemeindegeistlicher verweisen, die sich durch
literarische Werke, wissenschaftliche Arbeiten und Übersetzungen