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Ausgabe:

1983

Spalte:

903-905

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Rublack, Hans-Christoph

Titel/Untertitel:

Eine bürgerliche Reformation: Nördlingen 1983

Rezensent:

Blaschke, Karlheinz

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 12

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„Saxonia" erhöht die Anschaulichkeit. Besonders hervorzuheben
sind die Farbtafeln mit ihren hervorragenden Reproduktionen.
Genannt seien hier besonders die Abbildungen der Lutherstube auf
der Wartburg, das sogenannte Hochzeitsbild von Luther und Katharina
von Bora, die Reformatorenbilder (Melanchthon, Bugenhagen,
Zwingli) sowie das Erasmusbild und die Bilder von Bullinger und
Calvin.

Der biographische Teil gibt an einigen Stellen zu Fragen Anlaß.
S. 10a wird der Mädchenname der Mutter Luthers als Lindemann
angegeben. Hier hätte vielleicht daraufhingewiesen werden können,
daß diese Angabe umstritten ist. M. Brecht4 entscheidet sich vorsichtig
für die Auffassung, Luthers Mutter sei eine geborene Ziegler
gewesen. - Wenn es S. 18b heißt „Es gelang ihm (seil. Luther) ganz allmählich
, Christus so zu erkennen, wie er vom Apostel Paulus verstanden
worden war", so hätte vielleicht doch kurz darauf hingewiesen
werden können, daß die Frage der Wiederentdeckung des Paulus
durch Luther recht komplex ist. Historisch-philologisch geurteilt,
muß man doch wohl sagen, daß Luther an einigen wichtigen Punkten
über Paulus hinausgegangen ist. Die Frage stellt sich jedoch, ob
Luther angesichts der veränderten Situation mit seiner gewissen Um-
deutung Paulus angemessen in die eigene Zeit hinein hat sprechen lassen
; diese Frage kann naturgemäß nicht mehr historisch-philologisch
beantwortet werden. -S. 22a: Karlstadt war zu Beginn des Ablaßstreites
nicht Dekan der Theologischen Fakultät in Wittenberg. Vielmehr
war Luther selbst bis Mitte Oktober 1517 Dekan, übergab aber das
Dekanat am 18. 10. 1517 seinem Nachfolger Lupinus.5 - S. 24b: Bei
der Schilderung der 95 Thesen und der folgenden Kontroverse wird
das Wesen des Ablasses nicht recht deutlich; insbesondere wird die
wichtige Unterscheidung zwischen „culpa" und „poena" bei jeder
Sünde nicht erwähnt. - S. 53b: Wenn Bugenhagens Kirchenordnungen
aufgezählt werden, dann sollte die Hamburger Kirchenordnung
nicht fehlen. - Zu den biographischen Skizzen, die naturgemäß sehr
knapp sein mußten, stellen sich manche Fragen, besonders die folgenden
: S. 338b: Daß der junge Herzog Ernst von Braunschweig-
Lüneburg während seines Wittenberger Aufenthaltes Luthers Vorlesungen
besucht haben soll, dürfte kaum zutreffen. - S. 345b: Hier
wird Melanchthons Anteil an der Wittenberger Konkordie von 1536
viel zu stark betont, wenn es heißt „In der Wittenberger Konkordie
versuchte M. 1536 den Brückenschlag zu den oberdeutschen Reformatoren
. .."

Insgesamt kann man Verfasser und Verlag für den nach Inhalt wie
Ausstattung sehr gut gelungenen Band nur aufrichtig beglückwünschen
.

Hamburg Bernhard Lohse

1 Peter Manns, Martin Luther, Freiburg/Basel/Wien/Lahr 1982.

2 Hellmut DiwalöVKarl-Heinz Jürgens, Martinus Luther. Lebensbilder,
Bergisch Gladbach 1982.

3 Gerhard Bott/Gerhard Ebeling/Bemd Moeller, Martin Luther. Sein Leben
in Bildern und Texten, Frankfurt/Main 1983.

4 Martin Brecht, Martin Luther, Sein Weg zur Reformation 1483-1521,
Stuttgart 198I.S. 14.

5 s. Liber decanorum. Das Dekanatsbuch der theologischen Fakultät zu Wittenberg
(1502-1594), Halle 1923.

Rublack, Hans-Christoph: Eine bürgerliche Reformation: Nörd-
lingen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1982.
288 S. gr. 8' = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte
, 51. Lw. DM 98-,

Die Darstellung der Struktur einer süddeutschen Reichsstadt in den
Jahrzehnten der Reformation wird mit dem Bericht über Vorgänge,
die damals für die Stadt wichtig waren, und mit biographischen Elementen
verbunden. Der Verfasser geht von der methodischen Annahme
aus, unsere heutige Vorstellung von Reformationsgeschichte
sei ein „Konstrukt", und stellt die Frage, ob im alltäglichen Leben der

Stadt und ihrer Menschen es damals so sehr bewußt geworden sei, daß
sich ..die Reformation" ereignete.

Der Rat wirkt und versteht sich als Obrigkeit, er bestimmt die Ver-
haltcnsnormen, wehrt Schaden ab, wahrt den Frieden und nimmt in
sein Selbstverständnis schon im Spätmittelalter immer mehr den
Gedanken der christlichen Obrigkeit auf, die neben der Kirche und
unabhängig von ihr für die Einhaltung von Gottes Ordnung sorgt. Die
religiöse Begründung und Rechtfertigung der christlichen Obrigkeit
geht mit ihrer antiklerikalen Stimmung ohne Bruch aus dem späten
Mittelalter in die Reformationszeit hinüber und stellt somit ein Element
der Kontinuität dar, das einer Einschätzung der Reformation als
Revolution entgegensteht. Der Neubau der Stadtkirche wird zum
Anliegen des Rates, der Geschlechter, der Laien, der ganzen Stadt,
während sich das Kloster Heilsbronn als Patronatsherr der finanziellen
Beteiligung entzieht. Das ist einer der Höhepunkte jahrzehntelanger
Konflikte, in denen der Rat dem Kloster mangelhafte geistliche
Versorgung der Stadt vorwirft. Stadt und Kirche sind eine Einheit, mit
der sich der Rat durch Teilnahme an der Verantwortung für die geistlichen
Dinge identifiziert. Der Pfarrer sieht dadurch seine Unabhängigkeit
bedroht, weil er Kirche noch als ein von der Gemeinde losgelöstes
Rechts- und Herrschaftssystem versteht und die Expansion
des Rates in den geistlichen Bereich hinüber fürchtet. Von dieser spätmittelalterlichen
Grundlage ausgehend wächst Nördlingen in die
Reformation hinein. 1526/27 setzt der Rat einen Pfarrer ein, um 1540
nimmt er die Geistlichen in das Bürgerrecht auf und beschließt 1544
eine Kirchenordnung, womit die Sonderrechte des Klerus aufgehoben
und er der Gewalt des Rates als einer totalen Obrigkeit untergeordnet
wird, doch bleibt den Geistlichen die selbständige Verwaltung von
Lehre und Gottesdienst.

Es liegt noch ganz in der Verfolgung vorreformatorischer Tendenzen
, wenn Nördlingen 1523 vertraglich alle Patronatsrechte an der
Stadtkirche vom Kloster Heilsbronn übernimmt, für dessen Abt der
rapide Rückgang der dort ihm zustehenden Einkünfte den Verzicht
leicht macht. Der Rat verbindet damit keine reformatorischen Veränderungen
, beobachtet aber gewisse Wirkungen der reformatorischen
Lehre: eine Erosion kirchlicher Disziplin und Fastenbrüche
1522, gleichzeitig lutherischer Gottesdienst durch den Karmeliter
Kantz, der 1523 heiratet, Bildersturm 1524. Der Rat stellt 1522 einen
evangelisch-humanistischen Prediger an, verbietet aber gleichzeitig
Aktionen, die die Stadt in Konflikt mit dem Reichsrecht bringen
könnten. Er muß befürchten, von der als lutherisch geltenden Stadtbevölkerung
überrollt zu werden. Im Innern will er den Frieden
bewahren und daher auf reformatorisches Drängen eingehen, nach
außen aber soll jedes Risiko vermieden werden. Reform im Rahmen
der bestehenden Kirche wird noch für möglich gehalten.

Der Bauernkrieg setzt unter den kleinen Leuten in der Stadt Sympathien
Tür die Bauern, Antiklerikalismus und soziale Hoffnungen frei
und ruft den Aufruhr hervor, der vom vorsichtigen Rat mit nur einer
Hinrichtung geahndet wird. Er will Gottes Huld nicht verlieren, aber
doch einen gnädigen Kaiser behalten - ein Dilemma, in dem sich viele
evangelisch gesinnte Reichsstädte jener Zeit befanden. Weil einem
die Weste näher ist als der Rock, tritt Nördlingen 1529 vom Speyerer
Protest zurück und nimmt 1548 trotz erheblicher Widerstände der
Geistlichen und der Bevölkerung das Interim an. Dennoch werden um
1540 einzelne Kirchenordnungen in reformatorischem Sinne erlassen
und 1544 mit Kaspar Loner ein lutherischer Superintendent eingesetzt
, der sich aber mit seinem konfessionellen Ernst einem Rat gegenübersieht
, der ein gewisses unorthodoxes Meinungsspektrum zuläßt,
den innerstädtischen Frieden als wichtigste Aufgabe ansieht und
reformatorische Initiativen nicht von selbst, sondern erst auf Drängen
der Bevölkerung und der Geistlichkeit ergreift.

So wird eine „bürgerliche" Reformation vorgestellt, d. h. hier eine
gemäßigte, mäßige und mittelmäßige Reformation, ohne Bekennermut
, ohne Helden, und begleitet von der „Läßlichkeit" des Rates, der
zwischen Volksmeinung und politischen Rücksichten auf den Kaiser
laviert und insgesamt dafür sorgt, daß sich die Stadt ihre Kirche