Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1983

Spalte:

900-902

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dewey, Joanna

Titel/Untertitel:

Markan public debate 1983

Rezensent:

Kähler, Christoph

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

899

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 12

900

Im Jahr 1973 gab eine Arbeitsgruppe von amerikanischen Neu-
testamentlern auf eine Initiative des "National Dialogue" zwischen
lutherischen und römisch-katholischen Theologen eine Gemeinschaftsstudie
"Peter in the New Testament" heraus. Für die Beteiligten
bedeutete diese gemeinsame Arbeit eine Lernerfahrung, die sie
fortzusetzen wünschten. So wandten sie sich einem noch kontroverseren
Thema zu und stellten die Frage, was Neutestamentier heute
gemeinsam über das Bild bzw. die Bilder der Maria im NT aussagen
können. Das Ergebnis war das Buch "Mary in the New Testament"1,
das jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Zur Arbeitsgruppe,
in der neben Lutheranern und Katholiken auch die episkopalische
Kirche und die reformierte Tradition vertreten waren, gehörten außer
den vier Herausgebern P. J. Achtemeier, M. M. Bourke, S. Brown,
K. Froehlich, R. H. Füller, G. Krodel, J. L. Martyn und E. H.
Pageis.

Aus der Arbeit der Gruppe ist eine sehr lesbare, auch weiteren Kreisen
zugängliche Studie hervorgegangen, in der alle einschlägigen Fragen
mit exemplarischer Sorgfalt diskutiert werden. Erstaunlich, in
welchem Ausmaß sich eine solche interkonfessionelle Gruppe über
die Hauptlinien der Exegese (in einer solchen Frage!) hat verständigen
können. Es versteht sich, daß historische Fragen sehr oft offengelassen
werden mußten (z. B. die Historizität der jungfräulichen Empfängnis
oder auch die Frage nach den Brüdern und Schwestern Jesu). Um so
eindrucksvoller erscheint der relative Konsensus auf der redaktionskritischen
Ebene, also z. B. in der Interpretation des markinischen
oder des lukanischen Marienbildes. Entgegen modischen Klagen über
die angeblich destruktiven Wirkungen der historisch-kritischen
Exegese beweist diese ökumenische Studie zur Genüge, wieviel integrierende
Kraft jener Methodik tatsächlich innewohnt.

Auf ein Vorwort und eine kurze Beschreibung der Entstehungsgeschichte
der Studie folgt eine für einen weiteren Leserkreis
bestimmte Orientierung „Grundlagen der Studie", wo isagogische
Informationen und einige theologische Überlegungen zur Bewertung
neutestamentlicher Aussagen geboten werden. Dann wird in je einem
Kapitel das einschlägige Material in verschiedenen Teilen des NT
behandelt: Paulusbriefe, Markus, Matthäus, Lukas und die Apostelgeschichte
, Johannes, Offenbarung. Ein Kapitel über „Maria in der
Literatur des zweiten Jahrhunderts" skizziert die Anfänge der weiteren
mariologischen Entwicklung. Im letzten Kapitel werden die
Schlußfolgerungen gezogen.

Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit denen in der Dissertation
des Rezensenten.2 Die jungfräuliche Empfängnis wird im NT
außerhalb des Matthäus- und Lukasevangeliums nirgends vorausgesetzt
. Markus zeichnet ein negatives Porträt Marias, die zur Zeit der
öffentlichen Wirksamkeit Jesu außerhalb der „eschatologischen
Familie" stand. Bei Matthäus ist das Bild günstiger. Das Marienbild
des Lukas ist sehr positiv. Maria ist für Lukas „der erste christliche
Jünger" sowie (im Magnificat) „Sprecherin und Vertreterin der
Anawim". Merkwürdigerweise wird Lk 1,48 kaum behandelt, obwohl
der Vers nebenbei als lukanische Einfügung erkannt wird. Die beliebte
symbolische Identifizierung der lukanischen Maria mit der Tochter
Zion wird mit guten Gründen zurückgewiesen.

Beachtenswerte Zurückhaltung zeigt die Gruppe auch im Blick auf
die oft vorgetragenen symbolischen Deutungen der Gestalt der Mutter
Jesu im vierten Evangelium. Während Jesus sich in der Kanaepisode
von seiner Mutter distanziert, die seinen Auftrag mißversteht, gehört
die johanneische Maria (im Gegensatz zu den Brüdern Jesu) nicht zu
den Ungläubigen. Am Fuß des Kreuzes zeigt ihre Anwesenheit und
ihre Behandlung durch Jesus, daß „nun die leibliche Familie Jesu
durch die Jüngerfamilie ersetzt ist". In Offb 12 wird sehr vorsichtig die
Möglichkeit einer sekundären Bezugnahme auf Maria offengehalten
.

Insgesamt hebt die Studie offen die unterschiedlichen Akzente der
verschiedenen neutestamentlichen Marienbilder hervor, die sich
nicht miteinander harmonisieren lassen. Wenn die Kirchen heute in
der Bewertung Marias nicht übereinstimmen, dann liegt das teilweise

auch daran, daß in verschiedenen Kirchen verschiedene Seiten der
neutestamentlichen Überlieferungen bevorzugt werden.

Es wird mehrmals daraufhingewiesen, daß der Gebrauch der historisch
-kritischen Methodik nicht die Preisgabe herkömmlicher herme-
neutischer Begriffe wie „Inspiration" oder „Irrtumslosigkeit" mit sich
bringt. Daß solche Begriffe dabei derart uminterpretiert werden müssen
, daß ihr fortgesetzter Gebrauch semantisch etwas merkwürdig
erscheinen mag, ist ein Problem, das keineswegs nur dieser Studie
eigen ist. Wichtig ist jedoch, daß die Gruppe konsequent die Natur der
Inspiration usw. vom exegetischen Befund her interpretiert und nicht
umgekehrt z. B. die Exegese gegenseitig widersprüchlicher Passagen
von vornherein etwa durch eine bestimmte Inspirationslehre entschieden
werden läßt. Es bleibt abzuwarten, ob oder inwiefern dieser
unwiderrufliche exegetische Ansatz sich auch unter kirchlichen Benutzern
dieser Studie durchzusetzen vermag.

Leider läßt die Übersetzung des Buches viel zu wünschen übrig. Im
Blick auf Nuancen ist sie einfach unzuverlässig; viel zu oft ist aus
einem ursprünglichen „mag sein" in der Übersetzung ein „ist" geworden
. Auch sind völlig falsch wiedergegebene Wörter oder gar Sätze
keine Seltenheit.

Nur ein paar Beispiele. Im Original S. 25f heißt es: "In point of fact, we
suspect that Christians of the past implicitly recognized that there were diverse
views in the NT, and that in being faithful to the NT they were, knowingly or
unknowingly, being faithful to certain sections of the NT, while benignly
neglecting othere." Das wird folgendermaßen wiedergegeben (S. 34): „Wenn
wir es uns ernstlich überlegen, müssen (?) wir vermuten, daß die Christen in der
Vergangenheit ohne weiteres (!) begriffen haben, daß das Neue Testament
unterschiedliche Ansichten vertritt. Als Gläubige gegenüber dem Neuen Testament
(!) haben sie - wissentlich oder unwissentlich - bestimmte Abschnitte des
Neuen Testaments im Glauben angenommen (!), während sie andere großzügig
übersahen." - Oder wenn die Arbeitsgruppe berichtet: ". . . we were not
inclined to accept the Papias tradition at face value for a number of reasons",
heißt es in der Übersetzung: "... waren wir nicht geneigt, die Tradition des
Papias als Wertmaßstab für eine Reihe von Begründungen hinzunehmen"
(S. 26; S. 16 im Original)! Zum Glück sind die eigentlich exegetischen
Abschnitte etwas besser gelungen als die hermeneutischen.

Helsinki Heikki Räisänen

1 Mary in the New Testament. Philadelphia: Fortress Press; New York-
Ramsey-Toronto: Paulist Press 1978. 323 S.

2 Heikki Räisänen: Die Mutter Jesu im Neuen Testament. Annales Acade-
miae Scientiarum Fennicae B 158, Helsinki 1969. Vgl. ThLZ95, 1970
Sp. 506 f.

Dewey, Joanna: Markan public debate. Literary technique, concen-
tric structure, and theology in Mark 2: 1-3: 6. Chico, CA: Scholars
Press 1980. XII, 277 S. 8' = SBL Dissertation Series, 48. Kart.
$7.50.

"The gospel of Mark might be likened to a musical composition in
which motifs introduced early in the composition are brought forward
and developed later in the piece." (191) Die Kunst (nicht die Wissenschaft
) der Exegese besteht somit darin, Harmonie und Symmetrie des
Musikstückes sinnenfällig zu machen. Dazu dient die „rhetorischkritische
Methode", die vor allem darin besteht, den Text auf seine
formale Organisation und die in ihm verwendeten Mittel antiker
Rhetorik hin abzuhören. Konsequenz dieses Ansatzes ist das vorherrschende
Interesse an der literarischen Endgestalt, was die Überlieferungsgeschichte
der Texte nahezu ganz ausblendet. Markus ist in
geringerem Maße als gemeinhin angenommen Editor und eher Autor
seines Werkes. Das Mindeste, was von ihm zu sagen ist, daß er,
"master of hismaterial", seinen Stoff sorgfältig stilisiert.

Nachdem diese Voraussetzungen in einem ersten Kapitel benannt
und die rhetorische Analyse (die Bezeichnungen wechseln) als zwar
nicht die einzige, aber wichtigste Methode deklariert ist, wird in einem
zweiten das Materialobjekt, die galiläische Streitgesprächssammlung
eingeführt. Frau Dewey setzt dabei mit Albertz ein, dessen Argumen-