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Ausgabe:

1983

Spalte:

898-900

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Maria im Neuen Testament 1983

Rezensent:

Räisänen, Heikki

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 12

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Bedeutung des Traditionsprozesses, eine Erkenntnis, die im Bereich
der christlichen Kirchen kaum je bestritten worden ist.

Der zweite Abschnitt widmet sich der soziologischen Relevanz des
Traditionsprozesses (S. 51 fl). Hier geht es um die Leistung der Tradition
hinsichtlich der Generationsfolge und um die sozialisierende
Funktion der Tradition im Blick auf das Verhältnis von Individuum
und Gesellschaft. Zu Recht stellt der Verfasser die Sprache als
Charakteristikum des menschlichen Traditionsvorgangs heraus, um
diesen dann abzuheben von der Einebnung in animalische QuasiAnalogien
.

Ein dritter Abschnitt gilt - in breit ausgeführter Weise - den linguistischen
Implikationen des Traditionsprozesses (S. 61 ff). Hier
wird der neutestamentliche Traditionsprozeß in Beziehung gesetzt zu
sprachtheoretischen Modellen. Sie erschließen das komplexe Phänomen
des sprachlichen Traditionsvorgangs in mancherlei Hinsicht.
Beispielsweise gelingt es dem Verfasser, einen Unterschied zwischen
Transformation und Fiktion festzuhalten: „Daß eine Tradition nicht
fiktiv ist, kann . . . nur durch kritische Prüfung ihrer Referenz, ihres
realen Bezugsfeldes zwischen Rezipient und Welt-Wirklichkeit, zwischen
der aktuellen Sinnfrage und der im Text gegebenen Antwort,
festgestellt werden." (S. 83) Daß die christliche Tradition nicht fiktiv
ist, verdankt sie wesentlich dem geschichtlichen Ereignis Jesus von
Nazaret.

Ein vierter Abschnitt schließlich wendet sich dem theologischen
Traditionsverständnis zu (S. 84fT). „Letztlich stellt die christliche Tradition
die Geschichte des Verstehens des inkarnierten Christusereignisses
dar." (S. 85) Schon hier wird das Problem des „sola scriptura"
(welches der Verfasser als „Scheinproblem" bezeichnet, S. 15) virulent
, namentlich im Blick auf das Verhältnis der Kirche zur Schrift.
Erst recht deutlich wird dies in der folgenden thetischen Feststellung:
„Wie das Alte Testament für die christologische Auslegung offen ist,
so ist das Neue Testament für die Kirchliche Auslegung offen." (S. 91)
Wie kann auf dieser Basis noch ernsthaft von endgültiger Offenbarung
im irdischen Jesus oder von einer unmittelbar kirchenkritischen
Funktion der neutestamentlichen Traditionssprache gesprochen werden
(vgl. S. 104)? Das theologische Traditionsverständnis des Verfassers
ist stark geprägt durch „amtliche" Sicherheiten wie etwa Kontrollinstanzen
und Sukzession, die es seiner Meinung nach von allem
Anfang an gegeben haben soll. Diese vier Abschnitte bilden den
gleichsam philosophischen Vorbau, sie beziehen sich sehr stark auf
außertheologische Erkenntnisse.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit werden die gewonnenen Einsichten
auf das neue Testament angewendet. Es werden alle kommunikativen
Stufen des neutestamentlichen Traditionsprozesses durchgearbeitet
, angefangen beim „homo loquens" Jesus von Nazaret
(S. 118ff) über die Q-Quelle, die Evangelien, Paulus und die übrigen
Schriften bis hin zum Traditionsverständnis der Johannesapokalypse.
Es ist unmöglich, in diesem Rahmen auf die einzelnen Ergebnisse
dieses umfangreichsten Teils der Arbeit einzugehen. Bei allen Schriften
stellt der Verfasser grundsätzlich den Willen zur sprachlichen
Kontinuität fest, das heißt ganz einfach: den Willen zur Treue gegenüber
dem Jesusgeschehen.

Der dritte, ganz knapp gestaltete Hauptteil beschäftigt sich mit der
Relevanz des neutestamentlichen Traditionsprozesses für die Kirche
(S. 303ff). Hier wird namentlich der Ertrag für die Hermeneutik der
Jesusfrage festgehalten: zu Recht will der Verfasser über das Daß der
Hultmannschen Position (die er allerdings nur sehr oberflächlich wiedergibt
) hinauskommen. Ob ihm das gelingt, mag dem Urteil des
Lesers überlassen bleiben.

Das prinzipielle Vorgehen des Verfassers, ein theologisch-exegetisches
Problem durch den Einbezug von nicht-theologischen Wissenschaften
anzugehen, verdient gewiß Anerkennung und entspricht
einer gegenwärtig erst langsan; wachsenden Einsicht. Freilich erheben
sich gegen diese Arbeit schwere Bedenken, sowohl was den Bezug auf
die außertheologischen Wissenschaften angeht als auch hinsichtlich
der - nach dem Verständnis des Verfassers historisch-exegetischen -

Einzelanalyse des Neuen Testaments. Ein paar Beispiele mögen diese
Bedenken erläutern.

Der Einbezug sprachwissenschaftlicher und philosophischer Kenntnisse ist
einerseits viel zu eklektisch, sie dienen als Versatzstiicke zur Untermauerung
einer schon vorher bekannten theologischen Konzeption. Andererseits
geschieht die Rezeption viel zu unkritisch, was man etwa daran erkennen kann,
daß die christliche Zukunftshoffnung ohne weiteres identifiziert wird mit dem
Gedanken der Utopie (S. 50), wobei lediglich der Punkt Omega etwas anders als
bei Bloch bestimmt wird. Wäre hier nicht angebracht gewesen, etwas zur fundamentalen
Kritik des utopischen Denkens zu sagen, wie sie von der christlichen
Zukunftshoffnung her unverzichtbar ist?

In den sogenannt exegetischen Teilen fällt zunächst auf, daß der Verfasser
zwar viele historische Behauptungen aufstellt, sie aber in vielen Fällen nicht im
leisesten belegt. Harmloses Beispiel: „Daß Jesus des Lesens und Schreibens
kundig war, wird in den Evangelien mehrfach vorausgesetzt" (S. 125). Keine
Spur von Stellenangaben, wo dies vorausgesetzt würde, keine Spur erst recht
von der historischen Beurteilung der anzuführenden Stellen! Auch ein kommunikationswissenschaftlicher
Ansatz kann sich der Pflicht zur historischen Argumentation
nicht entziehen.

Sehr häufig werden Dinge, die es erst historisch zu belegen gäbe, einfach vorausgesetzt
. Im Abschnitt über die Q-Quelle etwa wird einfach behauptet, die
einzelnen Traditionsstränge des Urchristentums dürfen nicht isoliert gesehen
werden, da sie unter dem Einfluß aller möglichen Querverbindungen stehen
(S. 142). Diese Ansicht mag historisch sogar viel eher zutreffen als gegenwärtige
Untersuchungen nahelegen, aber als eine einfach in die Welt gestellte Behauptung
ist sie nicht akzeptabel. Daß nicht tradiert wird, „um das Jesusphänomen
zu zerstreuen und aufzulösen, sondern um es zu bewahren und in Lebenszeugnis
umzusetzen" (ebd.), ist doch überhaupt kein Argument gegen die Unterscheidung
verschiedener Traditionsströme. Daß die Einheit dieser Traditionslinien
größer ist als ihre Divergenz, könnte historisch sogar zutreffen. Nur eben:
es müßte exegetisch gezeigt werden, was der Verfasser in vornehmer Zurückhaltung
unterläßt.

Voll von unbegründeten Behauptungen ist leider auch der Abschnitt über das
Markusevangelium (S. 146 ff). So wird etwa die Entstehung des „evangelischen
Großsyntagmas" {müssen solche Undinger von Ausdrücken gebildet werden?)
zurückgeführt auf den urchristlichen Willen zur Tradition. Dieser Traditionswille
wird nirgends belegt, geschweige denn wird gefragt, ob die Gattung Evangelium
nicht vielleicht auf das Iraditum zurückzuführen wäre. Weiter: Die Tatsache
, daß zur Zeit des Markus kein ähnliches Werk über die Jesustradition
existierte, kann doch niemals die Zuverlässigkeit dieses Werkes begründen
(S. 149fl). Schließlich wird zur Angemessenheit der markinischen Darstellung
schlicht festgestellt: „das Jesusbild des Markus stammt aus der sachlichobjektiv
bezeugenden, weil von Jesus selbst autorisierten Referentengruppe der
.Zwölf" (S. 153). Wo steht denn geschrieben, daß der Zwölferkreis (dessen vorösterliche
Existenz auch mir wahrscheinlich erscheint) als ein „autoritativer
Zeugenkreis nor-/mativer Primärreferenten über Jesus" (S. 1520 gegründet und
intendiert worden sei? Ganz abgesehen einmal davon: der Verfasser müßte
doch mindestens zeigen können, welche historische Verbindung zwischen dem
Zeugenkreis und dem Evangelisten Markus besteht. Davon fehlt wiederum jede
Spur.

Schließlich erheben sich große Zweifel, ob der Verfasser die von ihm angegebene
Literatur überhaupt intensiv bearbeitet und einbezogen hat. So wird beispielsweise
der Ausdruck „Sprechakt" in einer völlig anderen Weise gebraucht,
als er im (zitierten!) Buch von Austin entwickelt wurde. Eta Linnemann wird
unversehens in einen Mann verwandelt (S. 132 Anm. 18), auf Alfred Seebergs
berühmtes Buch wird mit., Katechismus der Jrkirche()" angespielt (S. 30), und
Bultmanns Standardwerk zur Synoptischen Tradition wird zitiert als
„Geschichte der synoptischen Frage" (S. 140 Anm. 9; dies wiegt umso
schwerer, als Bultmann wiederholt apostrophiert wird).

Mit Bedauern bleibt festzustellen: schade um den begrüßenswerten
Ansatz bei nicht-theologischen Disziplinen. Aber dieses Buch enthält
viel zu wenig von dem, was man traditionell und billigerweise erwartet
, zu wenig redliches und kritisches Denken.

Männedorf Hans Weder

Maria im Neuen Testament. Eine ökumenische Untersuchung, hrsg.
v. R. E. Brown, K. P. Donfried, J. A. Fitzmyer u. J. Reumann. Eine
Gemeinschaftsstudie von protestantischen und römischkatholischen
Gelehrten. Übers, v. U. Schierse. Stuttgart: Kath.
Bibelwerk 1981. 304 S. 8 Kart. DM 32,-.