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1983

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Kirchengeschichte: Reformationszeit

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Theologische Litcralurzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. I I

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Schwerpunkt liegt auf der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Die
mentalitätsgeschichtliche Studie „Historische Traditionen über
Juden im Spätmittelalter (Mitteleuropa)" von Frantisek Graus
(1-26) arbeitet heraus, daß durch die dominierende Abgrenzungstendenz
das Schicksal der Juden in der nachbiblischen Zeit theologisch
nur noch als Objekt der göttlichen Strafe existierte. In Pseudotradi-
tionen (Erzählungen über angebliche Ritualmorde seit 1 144, Hostien-
schändungen, Brunnenvergiftungen u. a.) und folkloristischen Erzählungen
(/. 15. der Jud im Dorn) gab es keine Ansatzpunkte für eine
historische Traditionsbildung. Es war nicht möglich, die luden in das
christliche Geschichtsbewußtsein einzubezkhen. Es verschärfte sich
vielmehr das Feindbild. Auch für das jüdische Selbstverständnis war
die profane Geschichte ohne Bedeutung. Der Hrsg. referiert in seinem
umfangreichen Beitrag über „Die Judenverfolgungen zur Zeit des
Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte" (27-93)
zunächst den Forschungsstand über die Pogrome von 1348-1350. Er
untersucht Chronologie und Verlauf der Pogrome (nicht nachweisbar
ist ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Pestausbruch sowie
Geißlerzügen und den Pogromen, eherein solcher zwischen dem Fastnachtstreiben
und den Judenverfolgungen) und kann zwei Verlaufstypen
aufzeigen: l.die spontan ausbrechenden und tumultuarisch
verlaufenden, 2. die geplanten und weithin geordnet verlaufenden
Verfolgungen. Für ein schichtenspezifisches Verhalten von Christen
gegenüber Juden bei den Pogromen bieten die Quellen keine Anhaltspunkte
. Maßgeblich waren vielmehr die politischen Rahmenbedingungen
und Motive, d. h. die Stellung der Juden im Herrschaftsgelüge
und die Regelung der Nutzungsrechte über die Juden. Politische Instabilität
und Spannungen (z. B. Thronstreit) hatten weithin negative
Folgen für die Juden. Ernst Voltmer steuert zu diesen Ergebnissen
eine Fallstudie „Zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen
Speyer" (94-121) bei. Anhand von bislang wenig ausgewerteten Quellen
kann er aufzeigen, daß der Übergang der Nutzungsrechte von
Bischof und Königtum auf den Stadtrat die Situation der Juden langfristig
verschlechterte. In seinem wirtschaftsgeschichtliehen Beitrag
„Juden und Lombarden am Niederrhein im 14. Jahrhundert"
(122-162) kommt Franz Irsigler zu dem Ergebnis, daß von beiden
Randgruppen der mittelalterlichen Gesellschaft die Juden weitaus
ungünstiger dastanden. Sie waren in den Finanzgeschäften als religiöse
Minderheit benachteiligt. Außerdem gab es unter ihnen viele
Arme. Durch die den zeitgenössischen Bedürfnissen besser angepaßte
Umstellung des Kreditsystems von kurzfristigen, hochverzinsten Anleihen
auf langfristige Leibrenten mit niedrigem Zins gelang es im
14. Jahrhundert einheimischen Kräften zunehmend, sowohl Juden
als auch Lombarden aus der Finanzverwaltung zu verdrängen. Eine
philologische Untersuchung „Zu den Juderfciden an der Schwelle der
Neuzeit" (163-204) steuert Walter Roll bei. Ausgehend von den beiden
Judeneidformularen in Ulrich Tenglers „Laicnspiegcl" von 1509
(172-174: Faksimile des längeren Formulars), weist er - die bisherige
Forschung korrigierend - die Vorformen nach und skizziert die Nachgeschichte
als Grundmuster bis zur Aufhebung des Judeneids im
19. Jh. Arye Mai mon beschäftigt sich erneut mit dem „Juden vertrei-
bungsversuch Albrechts II. von Mainz und sein(em) Mißerfolg
(1515/16)" (205-220), der in seinem Umfang und überlerritorialen
Charakter vermutlich singulär ist. Die Aktion richtete sich in der
Hauptsache nicht gegen die Juden, sondern den Kaiser und ist
zugleich ein Beispiel, wie stark noch Anfang des 16. Jh. das Schicksal
der Juden mit dem des Kaisers verknüpft war. Der ..Entwicklung der
Landesrabbinate in den deutschen Territorien bis zur Emanzipation"
im 18.und 19. Jahrhundert, für die nach der Vertreibung im U.Jahrhundert
ein innerjüdisches stabilisierendes Motiv und mit der wachsenden
Bedeutung des Territorialstaatcs ein fiskalisch-verwaltungsmäßiges
Motiv wirksam waren, geht Daniel J. Cohen nach
(221-242). Volker Press nimmt mit seiner Untersuchung „Kaiser
Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit"
(243-293) die von Cohen berührte Thematik von einer anderen Seite
aus noch einmal auf. Nach den Reichshofratsaktcn stellt er die jüdischen
Bemühungen um eine überterritoriale Organisation (Frankfurter
Versammlung von Rabbinern und Gemeindevorstehern 1603) uijd
die Gegenwehr vornehmlich des Kölner Kurfürsten dar. Erst mit
Erstarken des Kaisertums nach dem Tode Rudolfs II. konnten die
Juden wieder stärkeren Rückhalt bei der politischen Zentralgewalt
finden. Der „Sieg der territorialen Einordnung der deutschen Juden-
gemeinden" und die „Erstarrung ihrer Beziehungen zum Kaiser"
(293) konnten mit dem erfolgreichen Agieren gegen den Kölner Kurfürsten
in der Folgezeit nicht verhindert werden.

Ein ausführliches Orts- und Personenregister schließt den gehaltvollen
Aufsalzband ab, durch den immer wieder der Zusammenhang
„zwischen der Geschichte der Juden in Deutschland und der deutschen
Geschichte im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit" (XI) eindrucksvoll
herausgearbeitet wird. Die kirchen- und theologicge-
schichtlichen Aspekte bleiben - vom ersten Beitrag abgesehen - fast
gänzlich außer Blick. Das ist vom Leitthema der Trierer Tagung her
verständlich, zugleich ist es aber ein Hinweis, daß die interdisziplinäre
Forschung noch ausbaubar ist.

Berlin Siegfried Brauer

Bethgc-.Fbcrhard: Luther und die Juden (EK 16,1983 S. 319-320).
Müller, Gerhard: Tribut an den Geist der Zeit. Martin Luthers Stellung zu
den Juden (EK 16, 1983 S. 305-308).

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Luther, Martin: Studienausgabe, Bd. 2. In Zusammenarb. m. H. Junghans
, J. Rogge u. G. Wartenberg hrsg. von H.-U. Delius. Berlin:
Evang. Verlagsanstalt 1982. 558 S. gr. 8 Lw. M 39,50; Ausland
52.-.

Im Herbst 1982, einige Monate vor dem Jahr des Lutherjubiläums,
erschien der zweite Band der neuen Studienausgabe von Luthers Werken
. Der erste Band wurde in dieser Zeitschrift 105, 1980 Sp. 202-204
besprochen.

Das Werk ist hauptsächlich chronologisch geplant, und der zweite
Band enthält Schriften aus den Jahren 1520—1522, mit Schwerpunkt
auf den wichtigen Reformationschriften von 1520: Von den guten
Werken, An den christlichen Adel. De captivitate. De übertäte chri-
stiana, dazu kommen: Grund und Ursach aller Artikel. . . und Contra
Latomum, beide 1521, und schließlich die sogenannten Invocavit-
Predigten von 1522.

Wie schon im ersten Band festgelegt, bietet der Text grundsätzlich
die diplomatisch genaue Wiedergabe der Erstdrucke, mit Berücksichtigung
auch der Handschriften, wo sie noch vorhanden sind. '

Jede Schrift ist mit einer kurzen Einleitung versehen, die die Entstehungsgeschichte
, den Textbestand usw. behandelt. Aus diesen Einleitungen
kann man u. a. erfahren, wie dramatisch die Umstände um
die Entstehung dieser Schriften oft gewesen sind.

Luthers eigene Kapazität als Verfasser wie auch die Effektivität der
damaligen Bücherproduktion kann nur Staunen erwecken. Durch
briefliche und andere damalige Notizen kann oft genau festgestellt
werden, wann eine Arbeit angefangen wurde und wann sie von der
Druckerei fertiggestellt wurde. Bei der ersten hier edierten Schrift.
„Von den guten Werken", haben die beiden Herausgeber, Hans-
Ulrich Delius und Rudolf Mau. in dieser Weise den „Produktionsplan
" nachträglich festgestellt: Ende März 1520 fing Luther die
Niederschrift an; das Manuskript wurde dann Stück für Stück an die
Druckerei geliefert, und schon Anfang Juni desselben Jahres lag das
Buch fertig vor. In einem Brief vom 13. Mai heißt es. daß Luther hoffe,
das Manuskript endlich bald abzuschließen. Wie die Herausgeber
bemerken, muß dann der Drucker mit Luther Schritt gehalten haben,
so daß der Druck schon Ende Mai fertig war. In diesem Fall liegt heute
noch das eigenhändige Manuskript Luthers vor (jetzt Bibliothek der
polnischen Akademie zu Gdansk). Wo es sachlich motiviert ist, haben