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Ausgabe:

1983

Spalte:

774-775

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Neumann, Johannes

Titel/Untertitel:

Grundriß des katholischen Kirchenrechts 1983

Rezensent:

Micskey, Koloman N.

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773

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr.10

774

2) Mit Recht verankert Plathow seine Untersuchung geschichtlich
im deutschen Kirchenkampf. Diesem wird ein selbständiger, wenngleich
kurzer Teil (B) gewidmet (S. 61-103).

Die geschichtstheoretisch und theologisch zentralen Sätze dieses
Teiles finden sich meines Erachtens auf S. 99f: „Mit dem politischen
Umbruch von 1918 zerbrach für die evangelische Kirche zum einen
die Personalunion von Summepiskopat und Staatsoberhaupt in der
Gestalt des Monarchen; damit war der oberste Bischof abgeschafft, so
daß die evangelische Kirche des tragenden Fundaments ihres Verfassungsbaus
entbehrte. Zum anderen betrieb die Revolutionsregierung
mit den Kulturministern Haenisch (SPD) und Hoffmann (USPD) eine
konsequente Trennungspolitik von Kirche und Staat, was vor allem
auch mit der Einstellung aller staatlichen Zuschüsse für die Kirchen
verbunden war."

Die kirchengeschichtliche Bedeutung der Sachverhalte und Ereignisse
, auf die diese Sätze hinweisen, hätte m. E. nahegelegt, die
gesamte Untersuchung konsequent und durchgehend historisch
durchzuführen und die pastoraltheologischen, rechtstheologischen
und dynamischen Überlegungen in das Gefüge eines im Ganzen
geschichtswissenschaftlichen Planes einzubauen.

Immerhin ist Plathow zu danken, daß er die Verankerung der kirchlichen
Lebens- und Visitationsordnung in den Ereignissen des Kirchenkampfes
deutlich gezeigt hat.

3) Vielleicht erweist sich für spätere Zeiten als verhängnisvoll, daß
gerade die Schwäche des Kirchenrechtes für die Hitlerpartei und die
Deutschen Christen das unmittelbarste Mittel gewesen ist, ihre evangeliumsfeindliche
Ideologie vom „arisierten Christentum" in der
Kirche durchzusetzen. Denn wie ein Reflex gegen diese Kirchenpolitik
entstand nach 1945 die starke Tendenz, mit großem Aufwand
den alten Bestand der Kirchen abzusichern bzw. die dazu notwendig
scheinenden Rechtstheorien in ziemlicher Variabilität auszudenken.
Rühmenswerte Anstrengungen auf den ersten Blick, aber mit der Neigung
behaftet, den Widerstreit zwischen Gewißheit und Sicherheit zu
überspielen. i

So haben wir heute eine ganze Fülle von Texten zu Fragen der
kirchlichen Lebens- und Visitationsordnung vor uns. Geht aber dabei
nicht jene Einsicht verloren, die zum Beispiel Schlink so formuliert
hat: „Eine Kirchenordnung hat als solche keine schöpferische Kraft.
Sie kann nicht Leben erwecken. Sie kann nicht Geistesgaben austeilen
.. ." (Der Ertrag des Kirchenkampfes? 1947, S. 6*1)? Jedenfalls
zeigt die Arbeit Plathows den grundlegenden Widerspruch in jedem
Versuch reformatorischer Kirchen, ihr Leben mit Hilfe von
Ordnungstexten zu regeln, auf. Die Reformation eröffnete eine religiös
-revolutionäre Erneuerung der Christenheit kraft des Ereignisses
unverfügbarer Gnade und Heilsgewißheit. Diese Erneuerung zerbrach
jahrhundertealte Ordnungen und Lehren, die unfähig waren, sie in
sich aufzunehmen. Kann nun die Kraft dieser revolutionären kirchlichen
Erneuerung mit Hilfe von Ordnungsstrukturen bewahrt bleiben
? Ist der Wille, sie mit Hilfe von Ordnungen zu bewahren, Ausdruck
der Treue zur Reformation? Oder ist dieser Wille, sind diese
Ordnungen verantwortlich für die „Abneigung gegen jedes Ordnungsdenken
und gegen Ordnungen überhaupt" (Plathow, S. 11) im protestantischen
Raum?

Es ist Plathow zu danken, uns auf diesen Widerspruch durch eine
gewissenhafte Arbeit erneut aufmerksam gemacht zu haben. Die
Arbeit ist ein wertvoller Beitrag zu jenem herrschaftsfreien und evangelisch
verbindlichen Dialog zwischen kirchlichen Organen und der
kritischen Theologie in der Polarität von Heilsgewißheit und vernünftiger
Realitätsprüfung; in diesem Dialog gewinnt die reformatorische
Christenheit immer wieder eine ihrer fundamentalen Sprachstrukturen
.

Wien Koloman N. Micskey

Neumann, Johannes: Grundriß des katholischen Kirchenrechts.

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981. XVII. 375 S.
8 Kart. DM 97,-.

Faszination, hervorgerufen durch die einzigartige geschichtliche
Mächtigkeit des Gegenstandes und durch dessen imponierende
rechtslogische Gradlinigkeit, eine Faszination, die in Spannung gehalten
wird durch eine überaus scharfe kritische Einstellung Neumanns
zum katholischen Kirchenrecht - das ist das Spezifische der wissenschaftlichen
Grundstruktur dieses Buches, wodurch es seinen besonderen
Reiz und hohen Wert erhält.

Die Basis von Neumanns Kritik am kanonischen Recht ist seine
religiöse Wertung des Freiheitsraumes, der durch den grundrechtsgeprägten
modernen Staat gesichert wird. Dieser Freiheitsraum wird
theologisch gedeutet als eine Dimension des Kommens des im NT
bezeugten Reiches Gottes.

Neumann formuliert diesen für seine Darstellung und Kritik des
katholischen Kirchenrechts zentralen Sachverhalt (Überschrift: Der
moderne Staat als Träger und Wahrer des Rechts, S. 16) in folgender
Weise: „Der fürstliche Absolutismus wurde abgelöst durch den
modernen Verfassungsstaat. In ihm soll das Recht nicht mehr in erster
Linie der Durchsetzung (fürstlicher) Herrschaft, sondern dem Schutz,
sowohl des Staates als auch der Bürger vor jeglicher Willkür dienen.
Er ist seinem Ideal nach vor allem ein Rechtsstaat".

„Folgerung für das kanonische Recht: Wenn das kanonische Recht
eine wirkliche /{«'/if.vordnung sein und als solche heute ernstgenommen
werden will, muß es sich an den Ideen und mit den Maßstäben
des modernen Verfassungs- und Rechtsstaates messen lassen. Das
Argument, es handle sich dabei um eine Rechtsordnung ,eigener Art',
eine ,von Gott gestiftete Satzung', ist eine ideologische Schutzbehauptung
... sie würde das kanonische Recht lediglich der wissenschaftlichen
Diskussion entziehen und ihm das Ansehen einer wirklichen
Rechtsordnung rauben." (S. 16f) Neumanns Position steht in dieser
Frage der Küngschen nahe; Küng erblickt im Freiheitsraum des
Rechtsstaates einen religiösen Wert, den die Theologie zu schützen
hat, da sie auch entscheidende Hilfe vom Rechtsstaat gegen das regressive
Kirchenrecht erhält.)

Die vorher zitierte Konditionalformulierung Neumanns ist freilich
insofern realitätsfremd, als das Selbstverständnis der Rechtsträger des
katholischen Kirchenrechtes ein solches kritisches Messen des kanonischen
Rechts an den Ideen und mit den Maßstäben des modernen
Rechtsstaates zumindest in der Theorie ausschließt. Faktisch freilich
gibt es, besonders seit dem zweiten Vatikanum, Vorstöße des Umden-
kens in dieser Richtung. Aber diesem Umdenken stehen erhebliche
Schwierigkeiten entgegen. Denn „Reformen religiöser Rechtsformen
sind besonders schwierig, weil das jeweils geltende Recht ebenso wie
die Gerechtigktitsvorstellung als ein für alle Mal von Gott gegeben
begriffen werden". „Deshalb kann religiös begründete Ordnung, auch
wenn sie einem aufgeklärten Rechtsverständnis und einem entwickelten
Gerechtigkeitssinn total widerspricht, leicht zur Sicherung auch
ungerechter Macht gebraucht werden. Der Verweis auf rationale
Erwägungen für ein humanes Recht und eine der Würde des Menschen
entsprechende Gerechtigkeit vermag nicht gegen die Feststellung
aufzukommen, daß eine bestimmte Ordnung von der Gottheit
unveränderlich in der bestehenden Form erlassen worden sei." (S. 6)
Ein solcher Verweis „wird als Glaubensabfall und Aufstand gegen die
Gottheit selbst denunziert" (ebd.). Neumann charakterisiert das von
dieser Grundanschauung geprägte Recht als „eine archaische Ordnung
", „die von der wesenhaften Einheit zwischen geistlichem und
weltlichem Bereich geprägt ist". „Dem Menschen der Gegenwart tritt
somit im kanonischen Recht nicht nur eine sehr alte Ordnung mit ehrwürdiger
Tradition vor Augen, sondern auch ein archaisches, voraufgeklärtes
Rechtssystem, das Zeugnis einer feudal strukturierten, vorindustriellen
Gesellschaft." (S. 30 Aber dieses archaische, vom Denken
vorfeudaler und feudaler Zeiten bestimmte Kirchenrecht gehört
zu den auch in unserer Gegenwart geltungsextensivsten Rechtssyste-