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Ausgabe:

1983

Spalte:

760-764

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Sauter, Gerhard

Titel/Untertitel:

Was heißt: nach Sinn fragen? 1983

Rezensent:

Gerber, Uwe

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr.10

760

phischen Systems, speziell seiner Ästhetik, vorlegt: Schleiermachers
Musikphilosophie.

Die Arbeit beginnt mit einer Untersuchung der drei bedeutendsten
Frühschriften Schleiermachers („Reden über die Religion" 1799,
„Zwei unvorgreifliche Gutachten" 1804 und „Weihnachtsfeier"
1806), in denen er sich über die Musik in einer mehr locker poetischen
als streng philosophischen Weise äußert.

In den „Reden" hatte Schleiermacher zuerst die enge Verwandtschaft
von Religion und Musik behauptet. Wahre Musik ist für ihn
nicht Sprache der Empfindung schlechthin, sondern Sprache der religiösen
Empfindung. Daher stellt Schleiermacher fest - was bis heute
stark umstritten ist -, die Musik habe aus innerer Notwendigkeit ihre
größten Werke auf religiösem Gebiet hervorgebracht. Damit will er
sich freilich nicht gegen die säkulare Musikpraxis wenden, sondern
gegen die Vernachlässigung der Kirchenmusik zu seinerzeit.

Durch die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einsetzende Proklamation
des Palestrinastils als des eigentlichen Kirchenmusikstils ist
Schleiermacher beeinflußt worden. Für ihn entfernt sich textausdeutende
Musik (wie sie beispielsweise für Bachs Vokalschaffen
typisch ist) ebenso vom Ideal vollkommener Musik wie etwa die
Werke der Wiener Klassik mit ihrem Themendualismus und deren
Polarisierung im Sonatensatz. Gemessenheit soll den strengen und
heiligen Stil im Gegensatz zum leichten und geselligen Musizierstil
auszeichnen. Darum kann Schleiermacher vor den zu seinerzeit neumodischen
symphonischen Meßvertonungen, die zum Tanze reizten,
nur warnen (125).

Scholtz faßt die Ansichten Schleiermachers in dem Satz zusammen,
„Musik sei eine unverzichtbare Mitteilungs- und Darstellungsform
christlicher Religion, diese der angemessene außermusikalische oder
besser ,transmusikalische' Grund und Inhalt der Musik; Musik und
Religion kämen in dieser Verbindung beide zu ihrer Vollendung"
(45). Daran hat Schleiermacher auch in seinen späteren Ästhetikvorlesungen
- trotz einiger Modifikationen - festgehalten. Er stellt u. a.
die Behauptung auf, daß die Mehrstimmigkeit erst im Christentum
ausgebildet werden konnte wegen des dort ausgebildeten Gemeinschaftsbewußtseins
, das Männer und Frauen aller Altersschichten
umschloß. Schleiermacher weiß offenbar nicht, daß die von ihm als
Paradigma genannten gemischten Chöre (119) zu seiner Zeit noch
keine hundert Jahre alt waren und daß die christliche Musik weit
mehr als ein Jahrtausend nur die Einstimmigkeit kannte und pflegte!

Der Hauptteil der Arbeit ist „Schleiermachers Musikdenken im
Rahmen seines philosophischen Systems" gewidmet (57-150), unterteilt
in die Abschnitte „Der Ort der Kunst", „Der Ort der Musik",
„Die Musik als spezifische Kunsttätigkeit" und „Der Gehalt der
Musik".

Musik als Wissenschaft (neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie
ein Gebiet des Quadrivium) wurde im ausgehenden 17. Jahrhundert
mehr und mehr den Disziplinen des Trivium (Grammatik,
Rhetorik und Dialektik) zugerechnet, ehe dann im 18. Jahrhundert
die Affektenlehre zunehmend das musiktheoretische Denken
bestimmte. Affekte können jedoch für Schleiermacher weder Ursprung
noch Gegenstand der Musik sein. Eine Erregtheit kann zwar
den Anstoß für Musik geben, aber erst die beruhigte Leidenschaft
macht eine Äußerung in Tönen möglich. „In seiner historischen
Situation ist es allgemein unglaubhaft geworden, daß aus der Kenntnis
der menschlichen Affekte und der ihnen entsprechenden musikalischen
Mittel gemütsbewegende Musik und große Kunst entstehen
könne. Deshalb geht er vom Selbsteinsatz der Subjektivität aus, die in
der Kunst allerdings nicht unmittelbar Leidenschaften oder etwa Erlebnisse
mitteilt, sondern die Affekte verarbeitend zur Kunsttätigkeit
übergeht." (93)

Grundsätzlich verfügen alle Menschen über die Fähigkeit, eine
Erregung in Musik umzusetzen - ähnlich wie allen Menschen die
Bildproduktion eigen ist (etwa im Traum), obwohl nur wenige es vermögen
, diese innere Produktion auch äußerlich zu gestalten (99).

Gegen Kant nimmt Schleiermacher in seiner Ästhetik den Begriff

des Vollkommenen wieder auf. Er fällt damit aber nicht in eine dogmatische
Metaphysik zurück, wie es ihm von Neukantianern vorgeworfen
wurde, sondern er postuliert, daß „die Elemente in der Musik
als freie Produkte der künstlerischen Phantasie zugleich auf ihren
Grund, auf die Seele des Menschen und auf die Natur und auf deren
Korrespondenz verweisen und so das innige Verhältnis von Geist und
Natur ausdrücken" (117).

Schleiermacher hat sowohl in seiner Theologie als auch in seiner
Philosophie das Gefühl zum Ausgangspunkt genommen. Obwohl er
in den Ästhetikvorlesungen später lieber von dem „bewegten Selbstbewußtsein
" (statt Gefühl oder Stimmung) sprach, haben doch
Eduard Hanslicks „siegreiche Mauerbrecher gegen die verrottete Gefühlsästhetik
" („Vom Musikalisch-Schönen", Leipzig 1854) (131)
auch Schleiermachers Musikphilosophie aufgebrochen. Scholtz verteidigt
Schleiermacher, indem er versucht, seine divergierenden
Äußerungen - einerseits macht der seelische Gehalt, andererseits die
künstlerische Verbindung der Töne die Musik zur Kunst - zu harmonisieren
, wobei er auf die „Identität der einen individuellen Vernunfttätigkeit
" hinweist (133), die sowohl die Affekte zur Stimmung als
auch den Laut zum Ton reinigt (ebd.). Schleiermachers Musikästhetik
ist keine Inhalts-, wohl aber eine Gehaltsästhetik. Der eigentliche
Wert eines Kunstwerks hängt davon ab, mit welchem Grad von Vollkommenheit
das Äußere dem Inneren entspricht (135).

Zur Hermeneutik Schleiermachers weist Scholtz darauf hin, daß er
nicht den Gedanken der Integration vergangener Kunstepochen
kennt, wie Hegel ihn vertritt. Ein Kunstwerk, auch ein Musikstück,
das den Kontext seiner geschichtlichen Welt verloren hat, ist nur noch
eine Gestalt, die ihren Gehalt verloren hat. Kunst - auch Musik -, die
ihren Namen verdient, bedarf zum Verständnis keiner Kunstlehre,
„sondern setzt nur diejenige .hermeneutische' Fähigkeit voraus, die
jedes Kind im Spracherwerb zur Anwendung bringt" (142).

Von Anfang an läßt Scholtz keinen Zweifel daran, daß die vorgelegte
Arbeit nur bedingt einen unmittelbaren aktuellen Bezug aufweisen
kann, daß es aber trotzdem wichtig ist, einmal eine Musikphilosophie
zu untersuchen, die nicht von einem Musikwissenschaftler
, sondern von einem Philosophen stammt, noch dazu von einem,
der den Mangel an Musikalität zu seinen „Naturmängeln" rechnen
mußte. Die vorgelegte Arbeit gibt zahlreiche Denkanstöße - die mitunter
gerade dann fruchtbar werden können, wenn man die Position
Schleiermachers nicht zu seiner eigenen machen kann.

Berlin Christoph Albrecht

Systematische Theologie: Allgemeines

Sauter, Gerhard: Was heißt: nach Sinn fragen? Eine theologischphilosophische
Orientierung. München: Kaiser 1982. 186 S. 8° =
Kaiser-Traktate, 53. Kart. DM 18,-.

Die These lautet: „Sie (Sinnfrage) gilt vor allem als die entscheidend
religiöse Frage, im Religionsunterricht wie in der Sorge um
Kranke, Leidende und Sterbende. Aber je länger desto mehr bin ich
überzeugt, daß die Sinnfrage weit davon entfernt ist, die Frage nach
Gott neu zu wecken, wie es seit Jahren hingestellt wird. Ich habe sie
eher als eine Götzenfrage verstehen lernen müssen." (S. 7) Und zwar
deswegen, weil über der Frage nach dem Sinn-Ganzen übersehen
wird, daß „die Sinnhaftigkeit eines Geschehens, eines Erlebens, einer
Handlung mit diesem Faktum selbst empfangen wird, so daß nun das
Fragen nach der .rechten Zeit' in der Einheit von Gottes Handeln und
unserem Leben anheben kann", und daß umgekehrt nicht „vorweg
ein Gesamtsinn definiert wird, der so fromm wie nur denkbar klingen
mag, aber dem Menschen diese konkrete Frage abnimmt, weil die
Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt durch ein Sinngefüge
geregelt erscheint." (S. 165) Man wird an die Debatten um Anknüp-