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Ausgabe:

1983

Spalte:

53-56

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Lateinamerika 1983

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 1

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Über-Interpretation, die durch den Text an dieser Stelle nicht gedeckt
ist. Das hätte Luther einfacher und klarer sagen können, wie er es in
der Heidelberger Disputation und an früherer Stelle in De servo arbi-
trio (WA 18,633,7-15) auch getan hat. - Gleichwohl hat das Problem
der Unterscheidung von deus praedicatus und deus absconditus durch
Jüngels Ausführungen eine Präzisierung und Zuspitzung erfahren, die
sich als Impuls für die weitere Klärung der Vorstellungen Luthers auswirken
werden.

Diese beiden - hier nur eben skizzierten - Themenfelder wurden
ausgewählt, um Problemstellung und Argumentation E. Jüngels
exemplarisch zu verdeutlichen. Mehr als einen ersten Eindruck von
der anregenden Kraft und dem Gewinn dieses inhaltsreichen Aufsatzbandes
können diese Hinweise freilich nicht vermitteln.

Hamburg Hermann Fischer

Prien, Hans-Jürgen [Hrsg.]: Lateinamerika. Gesellschaft - Kirche-
Theologie. I: Aufbruch und Auseinandersetzung. II: Der Streit um
die Theologie der Befreiung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1981. 346 S. u. 254 S. 8' Kart. zsm. DM 54-

H.-J. Priens Standardwerk „Die Geschichte des Christentums in
Lateinamerika" (Göttingen 1978; s. meine Rez. in ThLZ 104, 1979
Sp. 270ff) hat jetzt in Form eines zweibändigen Sammelwerkes unter
seiner Federführung für den Zeitraum 1968-1979 im selben Verlag
eine höchst begrüßenswerte Fortsetzung gefunden, die dasselbe uneingeschränkte
Lob wie das erstgenannte Werk verdient. Der aus Südtirol
stammende Kapuziner Othmar Noggler beleuchtet eingangs die am
Anfang dieser Phase stehende II. CELAM-Konferenz in Medellin
1968 und deren Vorgeschichte. Er nennt Medellin das kirchliche
Jahrhundertereignis auf dem lateinamerikanischen Subkontinent,
trifft aber zugleich die wichtige, im folgenden durch viele Fakten erhärtete
Feststellung, daß diese Konferenz nur die Verdichtung und
Aufgipfelung von Erkenntnisseh und Erfahrungen war, die dort
allenthalben, mehr oder weniger ausgeformt, bereits vorhanden
waren. Ermöglicht wurde diese Entwicklung v. a. durch den Pontifi-
kat Johannes XXIII., da dieser das Aggiornamento wie die Rolle der
Orts- und Teilkirchen betonte. Wenn die Endfassung des Schlußdokuments
von Medellin auch eine Sammlung von Kompromissen darstellt
, so überwand die kath. Kirche Lateinamerikas (= LA) hier doch
endgültig ihren Kolonialstatus. Noggler wertet diese Konferenz als
frühe und einmalige Frucht des II. Vatikanums, so daß sie zum Mark-
und Prüfstein für die gesamte kath. Weltkirche wurde. Bewußt ist auf
die vollständige Wiedergabe der Verlautbarungen von Medellin wie
von Puebla verzichtet, da diese in der BRD auch sonst greifbar sind.
Dagegen werden in mehreren Beiträgen v. a. die Beschlüsse nationaler
Bischofskonferenzen - großenteils erstmalig in deutscher Übersetzung
- in sehr begrüßenswerten wörtlichen Zitaten dokumentiert.

Der um die Erhellung der Kirchengeschichte LAs besonders verdiente
, jetzt in Mexiko lebende Argentinier Enrique D. Dussel gibt
danach einen Querschnitt durch die Entwicklung der kath. Kirche in
LA von Medellin bis Puebla. Kennzeichnend für seinen wie für die
anderen Teile ist eine enge Verbindung theologisch-kirchlicher mit
Politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Fragestellungen, die
es den VIT. ermöglicht, innerkirchliche Wandlungsprozesse als Antwort
auf die als Provokation empfundenen allgemeinen Verhältnisse
in den Ländern dieses Subkontinents zu begreifen. Dadurch wird die
Analyse prägnant und realistisch, ohne daß die Eigenständigkeit
kirchlicher Entscheidungen im geringsten bestritten würde. Naturgemäß
kann über einzelne Feststellungen und Wertungen gestritten
werden, zumal die Vff. nicht in sozialistischen Ländern wohnen. Um
so mehr möchte ich unterstreichen, daß ich mit der Intention der
Wertungen und Analysen immer und mit ihrem Inhalt fast durchweg
übereinstimme. Der Blick auf die diesem Subkontinent eigenen Probleme
verdeckt auch keineswegs die Unterschiedlichkeit der politisch
-ökonomischen wie der kirchlichen Situation in den einzelnen

Ländern. Das tritt schon bei Dussel in seiner gerafften Beschreibung
der Lage in Kuba, Chile, Argentinien, Peru, Kolumbien, Mexiko und
nicht zuletzt in Brasilien zutage. Sie erfährt ihre Anreicherung und
Präzisierung in 4 länderspezifischen Fallstudien: Prien behandelt
Argentinien und Brasilien, Noggler Chile und Kuba. Besonders
Priens Analysen zeichnen sich durch ihre Prägnanz auch in gesellschaftswissenschaftlicher
Hinsicht aus. Die differenzierte Wertung des
Peronismus in Argentinien und der einzelnen Phasen des rechten
Militärregimes in Brasilien sind Kabinettstücke der Darstellung. An
Nogglers Beitrag über Chile hat mich v. a. seine Darlegung von Theorie
und Praxis der Christdemokratischen Partei mit ihrem Vorläufer
und die Erhellung der sich aus der Rezeption der kath. Soziallehre
durch eine politische Partei ergebenden Problematik fasziniert, während
mir der Blick auf die Unidad Populär wie auf die sozialistische
Revolution in Kuba in ihren einzelnen Etappen nicht von derselben
Schärfe zu sein scheint. Doch verstehe ich, daß Noggler sich hinsichtlich
Kubas offenbar bewußt Zurückhaltung auferlegt hat. Nie verfallen
die Autoren in ihren Durchblicken durch kirchliche Entwicklungslinien
in den einzelnen Ländern einem Klischee. Die Stärke aller
dieser Darlegungen besteht vielmehr nicht zuletzt darin, daß feine
Nuancen und immer neue Differenzierungen in wünschenswerter
Deutlichkeit herausgearbeitet werden. So vergessen sie beim Aufzeigen
der höchst erfreulichen Wandlung der kath. Kirche in Brasilien
nicht zeitweilige Rückschläge und die nach wie vor wirksamen
Gegensätze innerhalb der Bischofskonferenz, während andererseits
über dem unbefriedigenden Stand der kirchlichen Entwicklung in Argentinien
mutige Einzelaktionen mit ihren bis zum Martyrium reichenden
Folgen und die positiven Elemente des Wirkens der Tercer-
mundistas nicht übersehen werden. Die zurückhaltend-positive
Wertung von Verhaltensänderungen in der kath. Kirche Kubas seit
1969 ist ebenfalls voll überzeugend. Sehr willkommen ist übrigens die
besonders ausführliche, 4 Seijen füllende Dokumentation des Beschlusses
des 1. Parteitages der KP Kubas zu Kirchenfragen, weil diese
Verlautbarung besonders gründlich die marxistisch-leninistische Haltungin
diesem Problembereich darlegt.

Die Theologie der Befreiung als geistige Widerspiegelung des fundamentalen
Wandlungsprozesses der kath. Kirche LAs muß in diesem
Werk nicht noch einmal detailliert dargelegt werden, da genügend
Veröffentlichungen über sie vorliegen. Von großer theologischer
Fruchtbarkeit ist indes ein in Bd. 2 abgedruckter Vortrag von J. Se-
verino Croatto, kath. Alttestamentler in Buenos Aires, gehalten
in Bossey, über die hermeneutischen Hintergründe der Befreiungstheologie
. Seine diesbezüglichen Darlegungen sind dogmatisch recht
brisant, könnten aber unseren hermeneutischen Erkenntnisschatz beträchtlich
bereichern und Einseitigkeiten unserer bisherigen Sicht
überwinden, haben jedenfalls Anspruch auf ausführliche und vorurteilsfreie
Erörterung. Mir scheint, daß Croattos Grundintention dabei
dieselbe ist wie die, die im 16. Jh. Müntzer gegenüber Luther geltend
machte. Nach ihm enthält jeder biblische Text wie jeder relevante
Text überhaupt einen Vorrat und Überschuß an Sinn, den es fruchtbar
zu machen gilt. Man darf nicht meinen, daß diese vom Ereignis
der Offenbarung Gottes handelnden Texte dieses selbst schon ausgeschöpft
hätten, so daß es nur noch darum gehen könnte, deren Deutung
zu reproduzieren. Dies nämlich würde bedeuten, Gottes Handeln
auf die Vergangenheit einzugrenzen, während er doch von uns als
ein gegenwärtig zu unserer Befreiung handelnder Gott verstanden sein
will. Die Einbahnstraße der Aufdeckung des immer gleichen Sinnes
eines heiligen Textes sei in Wahrheit nur für den Mythos zutreffend.
Sie machte lange Zeit aus der biblischen Botschaft ein drückendes Gesetz
, pie Reproduzierung des immer Gleichen war charakteristisch
für die Schriftgelehrten zur Zeit Jesu, für die als Theologen par excel-
lence Gottes Offenbarung allein in der Thora beschlossen war, so daß
sie sich gegenüber seinem neuartigen Tun in Christus verschlossen.
Croatto tritt demgegenüber für eine wechselseitige Ergänzung von Ex-
und Eisegese ein: Neue geschichtliche Erfahrungen gewinnen den
überlieferten Texten einen bisher noch unbekannten, neuen Sinn ab.