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Ausgabe:

1983

Spalte:

744-746

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gnilka, Joachim

Titel/Untertitel:

Der Philemonbrief 1983

Rezensent:

Suhl, Alfred

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 10

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besaß" und deshalb darauf achten mußte, „sein Vorhaben nicht durch
unzutreffende Einzelheiten zu verraten" (S. 149; Hervorhebung von
mir). Dies leuchtet freilich kaum ein: Kenntnisse über das Thessalonich
seiner Zeit durfte der Verfasser ja gar nicht nennen, da er sein
Schreiben ja als den paulinischen Thess (nicht einmal als ,,2Thess")
konzipiert hatte. Mit Recht stellt Trilling fest, der Abstand zu Paulus
sei bei 2Thess größer als bei den Past; der Ausdruck napaddaeiq in
2,15 zeige, daß der Apostel „als Begründer und Vermittler von Überlieferungen
" verstanden werde (S. 155).

In einem forschungsgeschichtlichen Überblick behandelt P.-G.
Müller den Paulinismus in der Apg (S. 157-201). Er definiert ihn
„vom literaturanalytischen Standpunkt aus" als „systematisierende
Rezeption der Paulustradition", d. h. dieser Prozeß sei keineswegs als
solcher schon als negativ zu bewerten (S. 162). Einsetzend bei F. C.
Baur schildert Müller zunächst die Geschichte der „Frühkatholizismus
-Hypothese", dann die Paulusbilder der vorkritischen
Apg-Exegese (von Irenaus bis zur Gegenwart), der „Tendenzkritik"
(zu der auch Vielhauer gerechnet wird) und der redaktionsgeschichtlich
arbeitenden Apg-Exegese. Müllers Ziel ist am Schluß klar ausgesprochen
: Die „kontroverstheologische Problematik nachreformato-
rischer Konfessionalisierung" dürfe nicht ins NT zurückprojiziert
werden, weil „damit die frühesten Traditionsträger und ihre Textzeugnisse
entwertet werden". Die erkennbaren Spannungen dürften
nicht aufgehoben werden, denn sie gehörten „zum Wesen und zur
Funktion des Kanons, so wie dieser spannungsvolle Kanon der Schrift
von der einen Kirche verantwortet wurde und zur Einheit der Kirche
hinführen will"(S. 201).

Das Thema „Paulinismus in der Apg" selbst wird abschließend von
K. Löning erörtert (S. 202-234). Er zeigt mit guten Gründen, daß
„Lukas aus der Perspektive eines nachpaulinischen Heidenchristentums
auf das Wirken des Paulus zurückblickt", und zwar vermutlich
von Ephesus aus; für Lukas sei „die Identität der heidenchristlichen
Kirche in der Asia von der Wahrung ihrer ursprünglichen Paulinizität
abhängig" (S. 208f; vgl. S. 232: „Die Kirche, deren Glaubwürdigkeit
Lukas erweisen will, [ist] ohne Paulus nicht verständlich"). Paulus
werde in der Apg als der Missionar gezeichnet, der die Heiden zum
Heil, die Juden in die Verstockung führt (S. 213); der Verfolger Jesu
repräsentiere zunächst „das Nein des offiziellen Judentums zum
Evangelium", durch seine Berufung werde er dann „in Person zur
Widerlegung der Position, die er einst verkörperte" (S. 214). Damit sei
er „den lukanischen Zwölf Aposteln in gewisser Weise sogar an Bedeutsamkeit
überlegen" (S. 215). Die Frage der lukanischen Rezeption
paulinischer Theologie behandelt Löning an einem negativen
und einem positiven Beispiel: Die Areopagrede sei für den Vergleich
mit Rom 1 ungeeignet, da es in Apg 17 gar nicht um die Möglichkeit
natürlicher Gotteserkenntnis gehe; die Anspielungen in V. 24-29
seien vielmehr als milieugerechtes Stilmittel eingesetzt wie sonst die
Septuagintismen (S. 22 lf). Die Rechtfertigungslehre sei dagegen das
von Lukas als paulinisch angesehene theologische Thema, wie 13,38f
aber auch Kap. 15 zeigten. Allerdings betrachte Lukas die Rechtfertigungslehre
nicht als zeitlos gültige Lösung soteriologischer Probleme,
„sondern als die unverzichtbare Basis zur Lösung neu entstehender
Fragen" (S. 231).

Der ganze Band zeigt, bei allen Differenzen zwischen den Autoren
im Detail, ein Konzept von großer Geschlossenheit: Die Paulusrezeption
im frühen Christentum wird - teils unausgesprochen (so bei
Merklein, Trilling und Löning), teils programmatisch betont (so vor
allem bei Lohfink und Müller) - als konsequente und legitime Fortsetzung
paulinischer Ansätze und zugleich als Einstieg in das („früh"-)
katholische Traditionsprinzip dargestellt; die protestantische Frage
nach dem ,Kanon im Kanon' und nach dem kritischen Potential, das
die paulinische Theologie darstellt, wird als im Grunde sachfremd
übergangen. Es scheint, als sollte das Problem, wie die historisch faßbare
Paulusrezeption in der ältesten Kirche systematisch-theologisch
zu bewerten sei, auch von der evangelischen Forschung aufgenommen
werden; es könnte sonst geschehen, daß sich die reformatorische Berufung
auf Paulus und seine Theologie eines Tages einfach als „exegetisch
überholt" erweist.

Bethel Andreas Lindemann

1 Zu Papias und vor allem zur Gattung seines Werks vgl. jetzt U. Körtner,
Papias von Hierapolis. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Christentums,
Diss. Bethel 1982, vor allem S. 138-218. Nach Körtner stellt das Papiaswerk
gattungsmäßig eine Verbindung von Evangelium und Kommentar dar; seine
Polemik richte sieh wahrscheinlich gegen Nikolaiten (Apk 2,6.15) in Kleinasien
, keinesfalls aber gegen Paulus.

Gnilka, Joachim: Der Philemonbrief. Freiburg-Basel-Wien: Herder
1982. XIV, 96 S. gr. 8' = Herders Theologischer Kommentar zum
Neuen Testament, 10,4. Lw. DM 32,-.

Auch dieses kleine Werk des bekannten Münchener Ncutestament-
lers zeugt von der großen Gelehrsamkeit und Belesenheit seines Verfassers
. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen und
sprachlichen Vergleiche mit der Profan-Gräzität machen neben der
ausführlichen Berücksichtigung der Forschungsgeschichte und zwei
größeren Exkursen über „Haus, Familie und Hausgemeinde"
(S. 17-33) und „Die Sklaven in der Antike und im frühen Christentum
" (S. 54-81) zweifellos das Besondere gerade dieses Kommentars
in der Reihe der im Zusammenhang mit den neu erscheinenden oder
neu aufgelegten Kommentarreihen wachsenden Untersuchungen
über diesen kleinsten Paulusbrief aus. Wer sich zum Thema Hausge-
meinde kurz und übersichtlich über [. den kulturellen Horizont
(S. 17ff: eine Gegenüberstellung der Struktur von Haus und Familie
bei den Griechen, Römern und Juden), 2. den frühchristlichen Standpunkt
(S. 24ff: die Rolle des Hauses bei Jesus, in der frühesten Mission
, hier insbesondere bei Paulus, Leben und Funktion der Hausgemeinde
mit Erwägungen über die soziologische Zusammensetzung
der paulinischen Gemeinden sowie die Form des religiösen Lebens im
Haus und schließlich den allmählichen Übergang von der Haus- zur
Ortsgemeinde in den Spätschriften des Neuen Testaments bis weit
hinein ins zweite Jahrhundert), 3. Archäologisches (S. 29ff: die verschiedenen
Typen des antiken Hauses mit Größenangaben) sowie 4.
theologische Folgerungen (S. 31 ff: Erwägungen über die Unterschiede
in der gesellschaftlichen Struktur zwischen damals und heute und die
daraus zu ziehenden Konsequenzen) informieren will, wird mit Gewinn
nach diesem Band greifen. Dasselbe gilt für den zweiten großen
Exkurs, der unter Heranziehung zahlreicher Titel der Sekundärliteratur
kenntnisreich und präzise informiert über 1. die Lage des Sklaven
(S. 54ff: mit einem Versuch, die Sklaverei zu definieren, einer Behandlung
der unterschiedlichen Terminologie für den Sklaven sowie
der verschiedenen Formen der Versklavung und einer kurzen Geschichte
der Sklaverei, Andeutungen über das Sklavenrccht, die verschiedenen
Formen der Freilassung, die Rolle des Sklaven im religiösen
Kult nebst Erwägungen über das dem Sklaven mögliche Familienleben
), 2. antike Sklaventheorien (S. 61 ff: mit einem knappen Referat
über Äußerungen verschiedener Philosophen, die Andeutungen der
Komödie und die besondere Stellung der Sklaven im Judentum zur
Zeit Jesu), 3. die Geschichte der Forschung (S. 65ff: mit sehr präzisen
Ausführungen über die unterschiedlichen Tendenzen der Forschung
u.a. im 19. Jahrhundert und im heutigen Osteuropa, wobei freilich
eine so bemerkenswerte Arbeit wie die von S. Scolt-Bartchy [First-
Century Slavery in 1 Corinthians 7,21, Missoula 1975] über die konkrete
Lage der Sklaven nicht berücksichtigt, sondern erst S. 74
Anm. 11 1 - und auch hier nur in polemischer Abgrenzung - erwähnt
wird), 4. die Sklavenflucht (S. 68ff: mit Erwägungen über die Gründe
zur Sklavenflucht. Begleitumstände der Flucht, Formen der Sklavenverfolgung
, Bestrafung entflohener Sklaven, Hilfsmöglichkeiten für
einen entlaufenen Sklaven) sowie 5. die Sklaven im frühen Christentum
(S. 71 ff: mit sehr informativen Auskünften über die Rolle der
Sklaven in der Predigt Jesu sowie bei Paulus und in der veränderten