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Ausgabe:

1983

Spalte:

695-697

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Mette, Norbert

Titel/Untertitel:

Kirchlich distanzierte Christlichkeit 1983

Rezensent:

Lück, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 9

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2 Luther versucht, „die christologische Begriffsbildung auf die konkreta der
Aussage festzulegen und jede Verwendung von abstrakten Konklusionen zu
vermeiden" (25).

1 Z. B. im Zusammenhang mit Luthers Neigung, zeitliche Fixierungen in
bezug auf Christus zu negieren (28).

' Ineinander von Ämter-, Zwei-Naturen- und Ständelehre.

s Die entsprechende Aussage bei Ratschow: „Geschieht es aber, daß Jesu
Gottesereignung einem Menschen vollmächtig, real und akut wird, dann wird
dieser Gott akut, und nicht etwa Jesus! Jesus, so muß man überspitzt sagen,
erübrigt ,sich' als die Ereignung Gottes, die in seiner Person geschieht" (260).

Religions- und Kirchensoziologie

Mette, Norbert: Kirchlich distanzierte Christlichkeit. Eine Herausforderung
für die praktische Kirchentheorie. München: Kösel
1982.203 S. 8 Kart. DM 24,80.

Mette, katholischer Pastoraltheologe in Münster, legt als „Vorüberlegungen
zu einer praktisch-theologischen Kirchentheorie" (10) Aufsätze
vor, die in fortlaufenden Kapiteln einander zugeordnet sind.
Sein Thema, die kirchlich distanzierte Christlichkeit, wird anderorts
unter dem Stichwort der Volkskiche verhandelt. Mette fragt sowohl
soziologisch als auch theologisch nach dem Bestand, der Stabilität
sowie Transformationen von Volkskirche und nach einem dem Sachverhalt
Volkskirche bzw. distanzierter Chrjstlichkeit angemessenen
kirchlichen Handeln. Unbefriedigend ist ihm die Alternative von
Volkskirche und Gemeindekirche. Die historische Begriffsbestimmung
von Volkskirche fuhrt zurück im Protestantismus bis zu
Schleiermacher. Die inhaltliche Füllung des Begriffs sowie dessen
jeweilige Hochschätzung oder Geringschätzung war je nach Zeitumständen
unterschiedlich. Festzustellen ist im großen und ganzen:
Volkskirche ist kein theologischer Begriff. Auch als deskriptive Kategorie
taugt er nicht viel; weshalb Mette denn auch lieber von der
kirchlich distanzierten Christlichkeit spricht. Dennoch entzündet
sich an dem Begriff Volkskirche immer wieder der Disput. Die Befürworter
sehen hier die Möglichkeit zu breitester kirchlicher Einflußnahme
. Die Gegner und Befürworter einer Gemeindekirche sehen in
der Volkskirche nur ein totes Traditionschristentum, eine Betreuungskirche
. In dieser Auseinandersetzung ist für Mette wichtig, daß
Kirche nie und nimmer einfach nur den Status quo festschreiben darf.
Seine Forderung: „Kirche nicht länger als Veranstaltung für das Volk
zu organisieren, sondern als Bewegung der Betroffenen zu realisieren"
(32). Kirchliche Praxis muß differenziert werden. Nur so wird dauerhaft
die Weitervermittlung des Christentums gelingen.

Soziologisch gesehen hat die Volkskirche starke juristische Stützen.
Das ist eindeutig. Umstritten dagegen sind die Auslegungen der statistischen
Befunde (Teilnahmezahlen usw.). Dabei kommt es ganz
offensichtlich auf den jeweiligen Standpunkt an: Aus welcher Erwartungshaltung
heraus wird interpretiert, der Erwartung der Kirchenleitung
oder der der Mitglieder? Es ist nicht zu leugnen: Die Lehre der
Kirche und der Glaube der Mitglieder weichen voneinander ab. Aber
wie ist der Trend? Läßt sich nicht doch eine Entwicklung zur inneren
und äußeren Distanzierung der Mitglieder von der Kirche erkennen?
Der Soziologe sieht hier, daß im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen
Differenzierung der Lebenswelt auch Kirche und Kirchenmitgliedschaft
einen anderen Stellenwert bekommen. Die Religiosität
braucht nicht mehr unbedingt die institutionelle Verankerung. Auf
der anderen Seite kann man beobachten, daß theologische Normen
dieser komplexer werdenden Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden.
Im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung kann es geschehen,
daß Christlichkeit nur noch mit Kirchlichkeit gleichgesetzt wird. Das
ist aber eine Engführung, die zwangsläufig zu so etwas wie einer
Christlichkeit außerhalb der Kirche führen muß. Vor zwei Gefahren
ist zu warnen: Vor dem Versuch zur Vereinheitlichung einerseits,

diese würde das Christentum letztlich ersticken, und dem religiösen
Wildwuchs andererseits.

Theologisch gesehen ist klar, daß es keine Volkskirche im Sinne
einer Angebots- und Betreuungskirche geben kann ohne lebendige
Zellen. Es muß also schon Gemeinde geben. Darüber hinaus aber
muß eine Umgangsform mit den Distanzierten entwickelt werden, die
sowohl theologisch verantwortet ist, als auch den Bedürfnissen der
Distanzierten gerecht wird. Da nun reichen die herkömmlichen
Gemeinden nicht aus. Es muß zur Bildung von einer Vielfalt von
Gruppen kommen. Grundsätzlich müßte gegenüber der bisher vorherrschenden
„retardierenden Pastoral" eine „produktive Pastoral"
gefördert werden, die mit der „Ungleichzeitigkeit der christlichen
Religion produktiv" (100) umzugehen versteht. Die Bewegung der
Basisgemeinden ist hier verheißungsvoll. Allerdings wäre es auch illusorisch
zu meinen, daß sich Kirche nur noch in Gestalt von kleinen
Gruppen und Gemeinden organisieren ließe. Will Kirche nicht zur
Sekte werden, muß sie in „multidimensionaler Präsenz" in unserer
komplexen Gesellschaft erkennbar und erfahrbar sein (106). Dazu gehört
auch die ortsgebundene Kirchengemeinde nach wie vor.

Es scheint der Eindruck der Marginalisierung des Christentums
oder Kirche in unserer Gesellschaft vorzuherrschen. Aber ist dabei
schon berücksichtigt, welches Verhältnis die Menschen heute zur
Religion haben? Ist Kirche als Organisation wirklich der adäquate
Ausdruck von Religion? Kann man sich mit einer Organisation identifizieren
? Müßte es dazu nicht sehr viel mehr Bewegungen und Gruppen
geben? Was ist außerdem überhaupt religiös zu nennen? Ist es nur
das, was die Kirchen anzubieten haben? Oder ist es nicht die ganze
Problematik der Identitätsfindung des modernen Menschen, die Sinnsuche
usw.? Die Kirche müßte dann bemüht sein, eine öffentliche und
rationale Diskussion über die religiöse Dimension zu führen und
„Verhaltensmuster für eine glaubwürdige christliche Praxis anzubieten
" (141), Rahmenbedingungen für eine so weit verstandene und
theologisch verantwortete Volkskirche wären dann: „universale Solidarität
zu praktizieren und zugleich Partei zu ergreifen für die Schwachen
" (149). So begegnet man bei Mette immer neu zwei Forderungen
, der Forderung nach „Differenzierung" und der Forderung nach
„Elementarisierung". Differenzierung bezieht sich auf die verschiedenen
Sozialformen, Elementarisierung bezieht sich mehr auf die
Inhalte. Vieles muß hier erst noch aufgespürt werden.

Verwirrend ist bei dem Buch, daß in immer neuen Anläufen oft nur
mit einigen Abweichungen immer wieder dasselbe gesagt wird. Das
liegt an der Entstehung des Bandes aus verschiedenen Aufsätzen. Ob
man es nicht der Klarheit halber besser bei einer Sammlung belassen
hätte? Man sieht einen Evangelischen fasziniert davon, daß bei den
Katholiken dieselben Sachverhalte - wenn auch mit anderen Bezeichnungen
- diskutiert werden wie in der protestantischen Theologie.
Das leidige Kirche-Welt-Problem etwa findet sich in der „Pastoral der
konzentrischen Kreise" (82). Aufpassen muß man auch bei der Begrifflichkeit
. Was im katholischen Bereich „Evangelisation" und
„evangelisierende" Kirche ist, hat nichts mit evangelikaler Volksmission
zu tun, sondern entspricht der Begrifflichkeit von „missionarischer
" Gemeinde bzw. Kirche im evangelischen Bereich. Sehr nützlich
und hilfreich sind die Darstellungen der verschiedenen religionssoziologischen
und pastoraltheologischen Ansätze sowie Forschungsergebnisse
hinsichtlich der kirchlich distanzierten Christlichkeit.

Sehr wichtig scheint mir an dieser Arbeit zu sein, daß hier konsequent
versucht wird, auch theologisch zu denken und zu argumentieren
. Beeindruckend dabei ist, wie Mette versucht, dem binnenkirchlichen
Getto zu entkommen. Seine Aufforderung an Theologie
und Kirche, sich auch verantwortlich zu wissen angesichts kommenden
religiösen Wildwuchses, kann man nur unterstreichen. Christentum
und Kirche dürfen sich nicht einfach heimlich aus der Verantwortung
in Sachen Religion herausstehlen, die sie Jahrhunderte lang
fraglos wahrgenommen haben. Daß hierzu in der Gegenwart nicht
mehr ein kirchliches Lehramt ausreicht, macht Mette deutlich, wenn
er Kirche fordert als Bewegung der Betroffenen. Man kann sich wün-