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Ausgabe:

1983

Spalte:

683-684

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Troeltsch-Studien 1983

Rezensent:

Leuze, Reinhard

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683

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 9

684

Philosophie, Religionsphilosophie

Renz, Horst, u. Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.]:Troeltsch-Studien.
Untersuchungen zu Biographie und Werkgeschichte. Mit den
unveröffentlichten Promotionsthesen der „Kleinen Göttinger
Fakultät" 1888-1893. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd
Mohn 1982. 316 S. m. 3 Abb. gr. 8V Kart. DM 38,-.

Das Interesse am Werk und Wirken Ernst Troeltschs hat in der
letzten Zeit in bemerkenswertem Maß zugenommen. Offensichtlich
wird Troeltsch immer mehr als der Theologe erkannt, der die fundamentalen
Fragen einer Theologie der Neuzeit gestellt hat. Je mehr die
Zweifel daran wachsen, ob die auf ihn folgende Geschichte befriedigende
Antworten auf diese Fragen erbracht hat, desto größer wird die
Neigung, auf ihn zurückzugehen und sich erneut die Probleme so zu
vergegenwärtigen, wie er sie gesehen hat.

In diesem Zusammenhang kommt den hier zu besprechenden
Untersuchungen ein besonderes Verdienst zu: Sie erhellen Hintergründe
der Biographie Troeltschs, vor allem dessen erster Lebenshälfte
, und bringen aufschlußreiche Hinweise auf die Werkgeschichte.
Besonders zu erwähnen sind hierbei eine bisher unbekannte Preisarbeit
Troeltschs über den Philosophen Rudolf Hermann Lotze, die
von Horst Renz vorgestellt wird, sowie die bisher unveröffentlichten
Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde an der
Göttinger Universität 1888-1893, .die ein Licht auf die noch viel zu
wenig erforschten Anfänge der Religionsgeschichtlichen Schule
werfen. Horst Renz hat sie herausgegeben und mit einer Einleitung
versehen, während Friedrich Wilhelm Graf die theologische Kommentierung
besorgt, wobei er sich bemüht, die von Troeltsch selbst
stammenden Thesen im Kontext der ,Kleinen Göttinger Fakultät'
eingehend zu würdigen.

Die übrigen Beiträge seien hier kurz in der chronologischen Folge
aufgeführt, an der sie sich orientieren: H. Renz behandelt zunächst
die Augsburger Jahre und informiert uns dann über das Theologiestudium
Troeltschs. W. Drechsel befaßt sich anschließend mit den
Beziehungen Troeltschs zur bayrischen Landeskirche - daß Troeltsch
in München Vikar war und die Ordination zeit seines Lebens beibehalten
hat, ist ja wenig in das allgemeine Bewußtsein vorgedrungen.
F. W. Graf beleuchtet die Erwerbung der Lizentiatenwürde und die
- damit verbundene - Habilitation. Ebenso wird von ihm die kurze
Zeit in Bonn untersucht, wo Troeltsch zwei Jahre lang als außerordentlicher
Professor tätig war. R. Schieder befaßt sich mit den
Vorgängen, die zu Troeltschs Berufung nach Heidelberg führten, während
H. Bögeholz unter dem Titel .Berliner Zeitgenossenschaft' Erläuterungen
zu den Briefen Troeltschs an Friedrich Meinecke vorlegt.
Dieser Beitrag fällt aus dem Rahmen der in diesem Band enthaltenen
biographischen Studien - er wäre besser in einen zweiten Band aufgenommen
worden, der sich mit Troeltschs Heidelberger und Berliner
Zeit zu befassen hätte.

In einem zweiten Teil folgen Beiträge zur frühen Werkgeschichte:
H. Will stellt Troeltschs Erlanger Lehrer Gustav Claß vor, H. Sie-
mers erbringt den Nachweis, daß trotz der gegenteiligen Aussage
Troeltschs W. Dilthey nicht als dessen Lehrer angesehen werden
kann. Auf diese Untersuchung möchte ich ganz besonders aufmerksam
machen, da sie sich durch methodische Stringenz ebenso auszeichnet
wie durch eine brillante Argumentationsweise. Siemers beginnt
mit erhellenden Vorbemerkungen zum Schüler-Lehrer-Verhältnis
in der Theologie im allgemeinen (203), um dann sehr eindringlich
die Besonderheiten der Arbeitsweise Troeltschs zu charakterisieren
(203ff, besonders 205). Schließlich bietet dieser zweite Teil noch die
schon erwähnte Besprechung der Troeltsch'schen Promotionsthesen,
die F. W.Graf verfaßt hat.

Die hier vorgelegten Studien sind unentbehrlich für jeden, der sich
näher mit der Lebensgeschichte Troeltschs befassen möchte. Eine erst
noch zu erstellende Biographie Troeltschs wird an ihnen nicht vorbeigehen
können. Dabei stellt sich freilich das Problem, das in jeder

Lebensbeschreibung eines großen Denkers enthalten ist, ich meine die
Frage nach dem Verhältnis von Leben und Werk. Sind die verschiedenen
Daten eines Lebens äußerlich - in dem Sinne, daß die Entwicklung
des Denkens von ihnen unberührt bleiben muß, oder kann die
individuelle Eigenart solchen Denkens nur von der individuellen
Lebensgeschichte des einzelnen her verstanden werden? Man wird,
glaube ich, gut daran tun, diese Alternative so scharf zu formulieren
und sich zugleich davor zu hüten, sie im einen oder anderen Sinn eindeutig
zu beantworten. Sonst läuft man Gefahr, Details der Biographie
nur verschämt präsentieren zu können, wenn nicht ihre
Bedeutsamkeit für die denkerische Entwicklung des Theologen gleich
mitgeliefert wird. F. W. Graf, der dieses Problem deutlich sieht,
behauptet, „die Einsicht in das Daß eines biographischen Kontextes"
bleibe „theologisch gesehen trivial, solange nicht an der internen
Argumentationsstruktur einer Theologie gezeigt wird, in welcher
Weise sie aus ihrem eigentümlichen Kontext hervorgegangen ist"
(130). Zieht dieses Postulat nicht eine falsche Methodik nach sich,
insofern der Biograph sich bemühen muß, möglichst viele Daten der
theologischen Trivialität zu entreißen, indem er ihre theologische Bedeutsamkeit
aufzeigt oder, wenn das nicht geht, wenigstens als Möglichkeit
zukünftiger Forschung hinstellt? Die vielfältigen Hinweise
auf eventuell in der Zukunft zu erzielende Ergebnisse, mit denen
F. W. Graf seinen Beitrag: ,Profile: Spuren in Bonn' bereichert,
werden m. E. nur in diesem Zusammenhang verständlich. So wird
Troeltschs freundschaftliche Beziehung zu seinem Bonner Kollegen
E. Gräfe mit dem Satz kommentiert: „Was diese Freundschaft mit
dem zehn Jahre älteren Gräfe für Troeltsch theologisch bedeutete,
läßt sich gegenwärtig jedoch nicht entscheiden" (126), und selbst eine
Griechenlandreise, welche Troeltsch im März und April 1894 zusammen
mit dem Archäologen G. Loeschke unternahm, vollzieht sich
nicht vor dem Auge des konstruktiven Historikers, ohne daß der
Schleier theologischer Bedeutsamkeit über sie gebreitet würde: „Doch
läßt sich derzeit nicht genau angeben, was die gemeinsame Griechenland
-Reise mit einem der führenden deutschen Archäologen für die
Entwicklung von Troeltschs Denken inhaltlich bedeutete" (124). Wir
werden es, fürchte ich, auch in Zukunft nicht angeben können.

Während der Versuch, „Troeltschs Theologie aus ihrem biographischen
Kontext heraus zu rekonstruieren" (129), Bedenken hervorrufen
muß, befinden wir uns auf festerem Boden, wo es um die explizite
Darstellung von Troeltschs eigenen Überlegungen geht. Hier
kommt den erstmals veröffentlichten Promotionsthesen eine besondere
Bedeutung zu. Der Vergleich mit den nun ebenfalls zugänglichen
Thesen seiner jungen Kollegen erweist die systematische Kraft des
26-jährigen Predigtamtskandidaten (vgl. 282 u. a.). Schon die erste
These macht das hinreichend deutlich, deshalb will ich zum Abschluß
noch kurz auf sie eingehen: „Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche
Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion
der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des
Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen
großen Religionen, die wir genauer kennen." (299) F. W. Graf betont
in seiner Analyse mit Recht, daß es Troeltsch nicht um einen allgemeinen
Religionsbegriff geht, sondern um einen spezifischen Bezug
auf das Christentum. Aber er legt viel zu wenig Gewicht darauf, daß
dieser Bezug nicht einfach mit einer Reflexion auf die uns selbstverständlich
vorgegebene Lebenswelt erreicht werden kann, so daß eine
in diesem Sinn verstandene Theorie des Christentums ungenügend
bleiben muß. Dieser Bezug wird uns nur dann zuteil, wenn wir uns auf
einen Vergleich mit den anderen großen Religionen einlassen. Diese
,Vergleichung' vermag die Intentionen der anderen Religionen besser
zur Geltung zu bringen als eine Konstruktion der universalen Religionsgeschichte
, die von Troeltsch aus diesem Grunde abgelehnt wird.
Mit dieser These wird ein theologisches Programm formuliert, das bis
heute nicht eingelöst worden ist. Der Lizentiat des Jahres 1891 markiert
Orientierungslinien für unsere theologische Gegenwart. Darin
zeigt sich einmal mehr die Aktualität des Troeltsch'schen Denkens.
Dachau Reinhard Lcuzc