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Ausgabe:

1983

Spalte:

45-47

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter

Titel/Untertitel:

Vision und Visionsliteratur im Mittelalter 1983

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 1

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wird-bei aller terminologischen Ähnlichkeit-besonders an drei Stellen
greifbar: der persönliche Gottesbegriff mit seinen Auswirkungen,
"God is not unconscious of the soul's quest for Hirn, but actively
engaged on the soul's behalf in her quest"; die Beziehung der Seele zu
Gott, die nicht auf einer natürlichen Verwandschaft oder gar inneren
Göttlichkeit der Seele, sondern auf dem bleibenden Abstand zwischen
Schöpfer und Geschöpf ruht; dieser Abgrund wird überwunden von
Gott her durch seine Menschwerdung und zeigt sich - auch bei den
Vätern - in der inneren Dunkelheit, die der Gottesbegegnung zu eigen
bleibt; das dritte ist die Auffassung der moralischen Tugenden, die im
Piatonismus "essentially purificatory", im Christentum aber darüber
hinaus Früchte des Geistes sind. Hinzu wird noch in einem Schlußabschnitt
der ecclesiologische Charakter der christlichen Mystik herausgearbeitet
. "The Fathers still readily use Piatonist language but it is
transfigured by the context in which they use it."

Die Arbeit ist in jeder Hinsicht vorzüglich und könnte zu einem
Lehr- und Lese-Buch patristischer Mystik werden. Drei Schlußbemerkungen
dienen nicht der Kritik, sondern der Situierung und
vielleicht auch späteren Ergänzungen. Die biblischen Grundlagen der
christlichen Mystik sind ausgespart; eine Auseinandersetzung mit
ihnen würde die Fehlinterpretationen von A. v. Harnack bis zu. A.-J.
Festugiere noch deutlicher markieren. Über die „gelebte" (und nicht
nur gelehrte) Mystik - in Liturgie und Gebet, in Schriftlesung und
Wüstenaskese - könnte man weitaus mehr sagen; Louth beschränkt
sich auf das intellektuelle Gerippe der patristischen Doktrin und breitet
deshalb deren platonische Ahnen überaus breit aus. Zuletzt ist es
die Frage, die von den Spezialisten anscheinend noch nicht eindeutig
beantwortet wird: Wie weit ist die von Louth vorgelegte Origenes-
Deutung nicht noch zu sehr die der griechisch-orthodoxen Tradition,
wo Origenes in der Weiter-Deutung des Euagrios gelesen wird?

Doch diese Fragen gehen nicht an die Substanz. Dringend ist zu
wünschen, daß diese Arbeit nicht nur Fachgelehrten, sondern einem
weiten Leserkreis in deutscher Sprache zugängig wird. Der knappe
aber deutliche Index von Namen und Begriffen wäre dabei zu übernehmen
, die Auswahl-Bibliographie aber müßte für deutschsprachige
Verhältnisse neu zusammengestellt werden.

München ' Josef Sudbrack

Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter.

Stuttgart: Hiersemann 1981. VII, 288 S. gr. 8° = Monographien zur
Geschichte des Mittelalters, 23. Lw. DM 180,-.

Die erweiterte Stuttgarter Habilitationsschrift (1978) untersucht die
Quellen von zahlreichen Gesichtspunkten aus. Eine chronologische
Tabelle der wichtigeren Visionäre nennt 170 Texte (13-23), an die
sich noch eine Tabelle literarischer Visionen und Traumdichtungen
anschließt (24-28). Die Begriffe Vision, Erscheinung sowie Übergangsformen
, Traumvisionen und Traumerscheinungen, dazu die
mittelalterlichen Vokabeln visio, revelatio, excessus, extasis, raptus
und somnium werden definiert (29-53), ein Exkurs über die Mystik
schließt sich an (53-56). Zum Problem der Fälschungen sagt Dinzelbacher
: „Solange keine ernsten Verdachtsmomente auftauchen, hat
jeder Text, der sich als Schilderung eines echten Erlebnisses ausgibt,
den Anspruch, als Zeugnis erfahrener Wirklichkeit betrachtet zu
werden, auch wenn diese eine damals und noch mehr heute sehr unalltägliche
Wirklichkeit ist" (64). Literarische Visionen und Traumvisionen
betrachtet D. als Stilmittel, für das sich Kriterien anführen
lassen: Konsequenzlosigkeit des Traumes im Leben, fehlende seelische
Erschütterung und Wahrheitsbeteuerung u. a. (75). Wer nach
diesen ausführlichen systematischen Vorbemerkungen nun endlich
e'nen Einstieg in die herbe Schönheit mittelalterlicher Visionen erhofft
, wird enttauscht. Die Weichen werden anders gestellt. Dem Ka-
P'tel „Die Typisierung der mittelalterlichen Visionen" (78-89)
kommt zentrale Bedeutung zu. Zunächst nennt D. einige Möglichkeiten
: In der Literaturwissenschaft wird die poetische, die politische

und die kontemplative Vision unterschieden; Augustin kannte neben
der visio corporalis auch eine visio spiritalis und eine visio intellectua-
lis; Ernst Benz sprach von Bestätigungserlebnissen, prophetischen
Visionen, Lehrvisionen und Traumvisionen. Historische und soziologische
Gesichtspunkte sind bisher nicht an die Visionen herangetragen
worden (88).

D. will nach folgendem Fragespiegel analysieren: „Inhalt, Bilderwelt
, Verhältnis des Visionärs zum Raum, Verhältnis zur Zeit, Beziehung
zu Personen, Form (Eintreten der Ekstase, Aktivität oder Passivität
des Visionärs, Ruhe und Bewegung, Sinnlichkeit und Gefühl,
Realität und Allegorie), Funktion (Anforderung oder Gnadenerweis
an den Visionär, Bedeutung der Vision in seiner Lebensgeschichte,
Intention in bezug auf die Mitmenschen)". Dazu sollen Fragen nach
der sozialen Herkunft und Stellung des Visionärs zu einer „Phänomenologie
dieser Schauungen" und endlich zu einer „Typenbildung"
führen (89). Die folgenden Kapitel erfüllen das gestellte Programm:
„Die visionären Räume" mit den Abschnitten Hölle, Fegefeuer, Paradies
, Himmel, Mischformen, symbolische Räume, irdische Räume
(90-120); „Der Visionär und der Raum" mit den Abschnitten plastische
und erfahrene Raumerfahrung, Ruhe und Bewegung, emotionelle
Reaktionen (121-140); „Der Visionär und die Zeit" (141-145);
„Der Visionär und die Personen der anderen Welt" mit den
Abschnitten Distanz und Nähe, verbale Kommunikation, gemeinsames
Handeln, fordernde und schenkende Visionen (146-168);
„Allegorie und Allegorese der visionären Bilder" mit den Abschnitten
Allegorien und Personifikationen, Allegorese (169-184); „Die Vision
im Leben des Visionärs" mit den Abschnitten spontanes und erwartetes
Auftreten, Auswirkungen der Vision im Lebensweg des Sehers
(185-209); „Von den Funktionen der Vision" mit den Abschnitten
„Der Einzelne und die Gemeinschaft als Empfänger der Offenbarung"
und „Pro-domo-Visionen" (210-222); „Zur Soziologie der Visionäre
" (223-228).

Seine Ergebnisse faßt D. in^einer Tabelle zusammen, zu der er vorher
bemerkt: „Die phänomenologische Untersuchung verschiedener
Aspekte der mittelalterlichen Vision hat zur Bildung zweier Typen geführt
, deren jeweils häufigste Verteilung zwei ineinander übergehende
Perioden konstituiert: frühes und hohes Mittelalter bis zum beginnenden
13. Jahrhundert (I) und hohes sowie spätes Mittelalter ab etwa der
Mitte des 12. Jahrhunderts (II)" (229). Es ist beeindruckend, wie viele
Gesichtspunkte D. in der einen oder anderen Epoche vorwiegend
einordnen konnte: Im Typ I sind die Visionäre vorwiegend Männer
und Ordensangehörige, im Typ II Frauen, die erst später einem Orden
beitreten; das Auftreten der Visionen geschieht plötzlich (I) oder ist
erwartet und erbeten (II); die Anzahl der Visionen ist auf eine (oft
längere) konzentriert (I) oder es sind mehrere (oft kurze) nach II. Die
Reaktion des Visionärs ist nach I der Beginn eines neuen frommen
Lebens, nach II die Bestärkung im bereits eingeschlagenen frommen
Lebensweg; der Inhalt der Visionen betrifft Fegefeuer, Hölle, Paradies
und Himmel im Typ I, Himmel, symbolische Räume und Christus im
Typ II; die Erlebnisart ist nach I „öfter fordernd als schenkend, intensiv
, alle Sinne affizierend", nach II „schenkend, blaß abstrakt, mehr
zum Intellektuellen tendierend". Die Raumschilderung ist plastisch
detailliert, betrifft mehrteilige, konstante Räume (I), dagegen undifferenziert
, ohne Einzelheiten in einteiligen veränderlichen Räumen (II).
Das Verhalten im Raum ist in I aktiv, sich bewegend, emotionell auf
den Raum reagierend, in II passiv, ruhig, gefühlsneutral dem Raum
gegenüber. Die Personenbeziehung ist distanziert in I, intensiv in II;
die Dauer der Visionen ist in I „sehr kurz bis mehrere Wochen", in II
„sehr kurz bis mehrere Tage". Das Geschaute wird in I als Realität
verstanden, in II als allegorisch Auszudeutendes. Diese „zwei klar
dominierenden Visionstypen" verteilen sich zeitlich: „Während I
vom sechsten bis zum zwölften Jahrhundert stetig durch mehr und
längere Beispiele vertreten ist, um danach rapide zu einem eher vereinzelten
, namentlich auf Italien beschränkten Phänomen zu werden,
ist II in der Zeit vor diesem Jahrhundert nur selten vorhanden, um
dann in weitester Verbreitung aufzutreten" (232). Abschließend stellt