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Ausgabe:

1983

Spalte:

41-43

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lindt, Andreas

Titel/Untertitel:

Das Zeitalter des Totalitarismus 1983

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. I

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Etappe der Straßburger Täufergeschichte beschäftigt sich Marc
Lienhard im letzten Referat: «Les autorites civiles et les anabap-
tistes: Attitudes du magistrat de Strasbourg (1526-1532)» (196-215).
Er weist nach, daß die erstaunlich große Toleranz des Straßburger
Rates durch ein differenziertes Verhalten gegenüber den einzelnen
Täuferpersönlichkeiten und durch die Berücksichtigung der jeweiligen
Situation möglich wird. Vor allem aber bemühte sich der Rat nur
auf die täuferischen Lehren zu reagieren, die sich auf das städtische
Gemeinwesen störend oder gefahrbringend auswirkten (Eidverweigerung
, Pazifismus, Ablehnung politischer Ämter usw.). Mit einer englischen
Zusammenfassung des Aufsatzes von Klaus Deppermann
über „Melchior Hoffman und das Straßburger Täufertum" (veröffentlicht
in „Umstrittenes Täufertum" s. o.), einem Nachtrag zu den
Täuferakten von 1529 (durch Rodolphe Peter), dem Katalog zur Ausstellung
über die Straßburger Täuferbewegung im 16. Jahrhundert
von Jean Rott und einer Bibliographie schließt der gut ausgestattete
Bd. ab.

Berlin Siegfried Bräuer

Kirchengeschichte: Neuzeit

Lindt, Andreas: Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische Heilslehren
und ökumenischer Aufbruch. Stuttgart-Berlin-Köln-
Mainz: Kohlhammer 1981. 264 S. gr. 8° = Christentum und Gesellschaft
, 13. Kart. DM 39,-; Lw. DM 49,-.

Dem Charakter der Reihe „Christentum und Gesellschaft" entsprechend
geht das von dem Berner Kirchenhistoriker Andreas Lindt vorgelegte
Buch über die Zeit zwischen 1917 und 1945 betont und
schwerpunkthaft auf die politische Entwicklung ein, mit der sich Kirchen
und Christenheit in der „Epoche des Faschismus" in Europa
konfrontiert sahen. Die einleitenden Überlegungen zum Epochenverständnis
(S. 10-16) zeigen, daß der Autor keineswegs auf geschichts-
theoretische Reflexionen verzichtet, diese vielmehr- übrigens auch in
den Verlaufs- und ereignisgeschichtlichen Duktus der Darstellung
sonst - verständnisfördernd und anregend einzubeziehen weiß. Einem
generalisierenden Epochenverständnis im Blick auf den Faschismus
hält Lindt in historischer Konkretion die Tatsache entgegen, „daß der
.Faschismus' in den Jahrzehnten, wo er vor allem in Deutschland und
Italien triumphierte, anderswo . . . politische Randerscheinung blieb
oder, wo er im Zweiten Weltkrieg durch die Besatzungsmacht etabliert
wurde, immer das Stigma der Fremdherrschaft trug" (S. 1 I).

In den geschichtsmächtigen Traditionen der englischen, amerikanischen
und französischen Revolution sieht er ebenso wie in der „Herausforderung
durch die Russische Revolution von 1917" Gegenkräfte
gegen den Faschismus auf dem Plan, die dessen in die Katastrophe
führenden Generalangriff bannten. Von der Substanz dieser neuzeitlich
-menschenrechtlichen Tradition eines liberalen Demokratieverständnisses
mit progressiv-sozialkritischer Grundierung ist der histo-
riographische Standort des Verfassers umrissen. Die prägende Bedeutung
der Religiös-Sozialen der Schweiz, wie sie seit seiner zeithistorischen
Untersuchung „Leonhard Ragaz. Eine Studie zur Geschichte
und Theologie des religiösen Sozialismus", Zollikon 1957 deutlich ist,
findet auch in der von wachem, verantwortlichem Geschichts-
hewußtsein bestimmten Gcschichtsinterprctation des vorliegenden
Buches eine konzeptionelle Entsprechung.

■ n diesem Zusammenhang verwundert es freilich, daß trotz artikulierter
Einschränkung, die „allzu simple Gleichsetzung von Faschismus
und Kommunismus unter dem Oberbegriff des Totalitarismus"
könne mit guten Gründen kritisiert werden (S. 14), Titel und Konzeption
einer komparativen Totalitarismustheoric verpflichtet bleiben,
die selbst in der westdeutschen Forschung immer stärker zurücktritt,
wenngleich durchaus auch - so von K. D. Bracher - weiterhin an ihr
'estgchaltcn wird (vgl. Bericht über die Versammlung deutscher
Historiker in Würzburg. 26. bis 30. März 1980. Stuttgart: Klett 1982,

S. 159-171). Und Karl Barth, dessen zeitgeschichtlich relevantes Einstellungsverhalten
eine einfühlsame positive historiographische
Wertschätzung erfährt, hat in der Nachkriegskontroverse mit Emil
Brunner u. a. vehement gegen eine theologische Rezeption der Totali-
tarismusdoktrin votiert.

Die in sieben Kapitel gegliederte Arbeit, deren Subdisposition sich
gleichermaßen bestechender Klarheit und Aussagekraft erfreut, hebt
mit dem „Bolschewismus als Bedrohung und Herausforderung" an
und schildert „Russische Revolution und Russische Kirche" (1.) wie
„Der Kommunismus und die westliche Christenheit" (2.). Hier
werden die Konfliktsituationen - bei derQuellenlagc und den vielfach
heterogenen Aussagen der verwendeten Forschungsliteratur im Fak-
tologischen wie bei der Motiverheliung verständlicherweise mitunter
zurückhaltend - aufgewiesen und die Dramatik nachgezeichnet, die
den Geschehnissen innewohnt bis hin zu dem im Schlußkapitel VII
über die Kriegszeit geschilderten Ausgleich im Vaterländischen Verteidigungskrieg
, wo die Russische Orthodoxe Kirche sich als nationale
Defensivkraft erwies und die Anerkennung Stalins erfuhr. Dort wird
übrigens auch die Herausforderung der Christenheit durch Faschismus
und „totalen Krieg" im europäischen Kontext ins Visier genommen
und auch die Resistenzfunktion der Kirchen in von Hitler-
dcutschland besetzten Ländern informativ skizziert. Daß u. a. auch
(z. B. „3. Die Christen in Deutschland und Hitlers Mordaktionen",
S. 213ff, und „4. Aufstand des Gewissens: Christliches Ethos im
innerdeutschen Widerstand", S. 2l9ff) der deutsche Kirchenkampf
im Krieg thematisiert wird, soll hier nur eben angemerkt werden. Es
wird auch - wie durchweg - das Einstellungsverhalten des Vatikans
wie andererseits auch des Ökumenischen Rates der Kirchen kundig
beschrieben. Hatte das Kap. III („Katholizismus in der ,Epoche des
Faschismus'") die vatikanische Politik im Italien Mussolinis durchaus
kritisch gesehen und auch die Tatsache in Rechnung gestellt, daß
Stände-staatliche Affinitäten der päpstlichen Soziallehre damals im
Blick auf ein konservatives Faschismusmodell unübersehbar waren,
so wird auch die Entwicklung in Frankreich und Osterreich („Christlicher
Ständestaat in Österreich") in dieses Spektrum einbezogen.

Kap. IV bis VI sind den Themen „Christentum in der Weimarer
Republik", „Hitlers Machtergreifung und die Kirchen" und „Kirchliches
Christentum im Totalstaat Adolf Hitlers" gewidmet. Der Autor
zeigt großes Einfühlungsvermögen in die deutschen Verhältnisse. Sein
verläßlicher Überblick über die zeithistorisehe Literatur, die in gezielt
exemplarischer Auswahl herangezogen und verarbeitet wird, läßt ein
Bild von der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich" in kirchengeschichtlicher
Perspektive entstehen, das einen informativen
Durchblick bietet. Der Verdichtungsgrad konkreter Sachverhalte
macht dabei niemals den Eindruck des Kompakten. Protestantismus
und Katholizismus werden in gut durchgegliederter Periodisicrung
gleichermaßen thematisiert und regen mit ihrer besonderen Problematik
in den jeweiligen Phasen zum kirchenhistorischen Vergleich
an. Die sich in der Letztphasc der Weimarer Republik anbahnende
Konfrontierung mit dem NS-System und die mit der Machtübernahme
Hitlers einsetzende Peripetie auch im Einstellungsverhalten
der Kirchen gegenüber dem Nationalsozialismus wie auch die bald
einsetzenden Enttäuschungs- und Konfliktsituationen werden auf
neuester Literatur- und Quellenbasis abgehandelt. Die geschichtlichen
Möglichkeiten, die Kräftekonstellationcn und auch die
Motivationshintergründe werden zeitgeschichtlich ausgelotet und bei
der kritischen Beurteilung in Rechnung gestellt. Wandlungsprozesse,
Koordinationsphasen werden aufgewiesen, auch übergreifende Zusammenhänge
verdeutlicht. Im Blick auch auf die 1936 von O. Dibe-
lius verfaßte und von M. Niemöllcr veröffentlichte Flugschrift „Die
Staatskirche ist da!" wird gezeigt, wie sich in der Bekennenden Kirche
„die theologischen und ekklcsiologischen Ansätze von Barth und
Dibclius in der Abwehr des Hitlerschen Staatskirchentums zusammengefunden
" haben: „Nach 1945 hat dann das erneute Auseinandertreten
der beiden Ansätze den weiteren spannungsreichen Weg des
deutschen Protestantismus nicht unwesentlich geprägt" (S. 181). Das