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Ausgabe:

1983

Spalte:

634-635

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Ising, Dieter

Titel/Untertitel:

Das Ideologieproblem in der Theologie Paul Tillichs 1983

Rezensent:

Ising, Dieter

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 8

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der Publikationen Tersteegens und der Autoren, die Einfluß auf seine
Entwicklung ausgeübt haben. Er ordnet sie sehr gewissenhaft und
zeigt dabei großen Scharfsinn. Dadurch wirft er neues Licht auf diejenigen
geschriebenen und gedruckten Schriften.Tersteegens, die bisher
ungenügend verwendet wurden. Man kann an Tersteegens Unparteiischer
Abriß christlicher Grundwahrheiten (1724) und an seine
Anweisung und Beschreihuni; einiger geistlicher Bücher denken, die
zwischen 1730 und 1733 entstanden sein sollen. Letztgenanntes
Dokument gibt eine tiefe Einsicht in die Themenkreise, mit denen
Tersteegen sich in den Jahren, die zu seiner religiösen Reife führten,
befaßt hat. Anhand dieser Schriften skizziert HofTmann die Charakteristik
seiner Bekehrungserfahrung: Durchbruch der Klarheit über die
Heilsordnung, nämlich Berufung, Buße, Glauben, Wiedergeburt, Heiligung
, Gebet, Früchte im Lebenswandel. Es handelt sich um einen
Prozeß, dessen Resultat, die Religion der Reife, sich immer weiter vertieft
. Danach geht HofTmann ausführlich ein auf die Kriterien und
Attribute der Religion der Reife und ihre Integration im Leben
Tersteegens. Zum Schluß stellt er fest, daß der zeitliche Abstand von
45 Jahren zwischen seiner Bekehrung 1724 und seinem Tode 1769
nichts Wesentliches an der Strukluricrung der Vorstellungswelt und
des Glaubensbildes Tersteegens verändert hat. Seine wertvolle Studie
wird abgeschlossen mit einigen Auseinandersetzungen über das Gottesverhältnis
im Leben Tersteegens. Er war Mystiker; dennoch ist es
ihm gelungen, die Distanz in der Gottesgemeinschaft und in der
mystischen Einheit zu bewahren.

Ohne etwas von der hohen Qualität der Arbeit Hoffmanns abmarkten
zu wollen, möchte ich zum Schluß zwei kritische Bemerkungen
machen.

1. Mit Recht ist Hoffmann der Meinung, daß der bedeutungsvollste
Faktor im Bereich der religiösen Traditionsbildung die Erziehung im
Elternhaus sei. Aber in dieser Hinsicht lassen die Quellen ihn fast ganz
im Stich. Die sogenannte Alte Lebensbeschreibung, die älteste Biographie
, ist erst nach dem Tode Tersteegens von einem seiner Freunde
verfaßt worden. Sie enthält eben über seine Jugendjahre in Moers sehr
wenige Berichte, auf Grund deren man die Einflüsse des Elternhauses
auf seine religiöse Entwicklung analysieren könnte. Von einigem Einfluß
von seiten seines Vaters kann kaum die Rede gewesen sein.
Als dieser am 11. September 1703 verstarb, hatte Gerhard sein sechstes
Lebensjahr noch nicht ganz vollendet. Man kann nur ahnen,
welche direkten Einflüsse dieses Ereignis auf den Jungen gehabt hat
und in welcher Weise das Verhältnis zu seiner Mutter und ihr Einfluß
auf seine religiöse Entwicklung dadurch bestimmt wurde. Die bisher
bekannten Quellen enthalten darüber keinerlei Mitteilung. Soweit
mir bekannt, schreibt er in den aulbewahrten Briefen niemals über
seinen Vater und seine Mutter. Hoffmann ist sich bewußt, daß Aussagen
über die Entwicklung der religiösen Persönlichkeit Tersteegens
während seiner Jahre in Moers teilweise den Charakter von Annahmen
haben. Persönlich möchte ich statt „teilweise" lieber „hauptsächlich
" schreiben. Man hat den Eindruck, daß Hoffmann in dieser
Hinsicht vornehmlich durch die von ihm benutzten modernen religionspsychologischen
Theorien und nicht von den zur Verfügung
stehenden Quellen inspiriert wurde.

2. Hoffmann widmet dem Einfluß von Theresia von Avila auf
Tersteegen keine Aufmerksamkeit. Es ist das Verdienst W. Zellers
gewesen, daraufhingewiesen zu haben. Giovanna della Croce hat darüber
ausführlich geschrieben (1979). Offensichtlich ist diese Untersuchung
HofTmanns Aufmerksamkeit entgangen. Sic stellt m. E. einen
wesentlichen Beitrag für die Tersteegen-Forschung in bezug auf Tersteegens
religiöse Entwicklung dar.

Zusammenfassend möchte ich mit Dankbarkeit zumal den Wert
und die hohe Qualität der Untersuchung Hoffmanns unterstreichen.
Auf ihre Ergebnisse hat die weitere Tersteegen-Forschung Rücksicht
zu nehmen.

Dricbcrgcn Cornclis Pieter van Andel

Referate über theologische
Dissertationen in Maschinenschrift

Es besteht Veranlassung, daraufhinzuweisen, daß die Theologische
Literaturzeitung nach wie vor Autorreferate zu theologischen Dissertationen
veröffentlicht. Die Verantwortung der promovierenden Einrichtung
bleibt dadurch erhalten, daß ihre Genehmigung Tür den
Abdruck vorliegen muß.

Ising, Dieter: Das Ideologieproblcm in der Theologie Paul Tillichs.
Diss. Tübingen 1979. 243 S.

Die dem Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität
Tübingen als Inaugural-Dissertation vorgelegte Arbeit untersucht die
Äußerungen des frühen und späten Tillich zum Thema der Ideologie
und Ideologiekritik und weist nach, daß sich aus den zahlreichen verstreuten
Bemerkungen Tillichs zum Ideologieproblem eine ausgeführte
Ideologielehre gewinnen läßt, die im Einklang mit Tillichs
Ontologic steht. Zu diesem Zweck werden nicht nur die expliziten,
sondern auch implizite Äußerungen Tillichs zum Thema berücksichtigt
; es wird gefragt nach dem Kontext, in den hinein Tillich das
Ideologieproblem stellt. So läßt sich neben einer genauen Ideologiedefinition
auch der Ort von Ideologie und Ideologiekritik innerhalb
seiner Theologie ermitteln. Ein Vergleich der frühen und späten
Bemerkungen Tillichs zum Ideologieproblem macht die Gemeinsamkeiten
, aber auch die Differenzen zwischen beiden deutlich. Darauf
wird Tillichs Entwurf die von Erich Fromm konzipierte Ideologielehre
und Ideologiekritik gegenübergestellt. Abschließend zeigt ein
Vergleich der Tillichschen Position mit ideologickritischen Äußerungen
von Vertretern der heutigen politischen Theologie die Bedeutung
der Ideologielehre und -kritik Tillichs für die gegenwärtige Diskussion
.

Der frühe Tillich versteht unter Ideologie eine Begriffsbildung, die
mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, weil sie - mit dem Blick auf
die gegenwärtigen gesellschaftlichen Machtverhältnisse-die Absolutsetzung
einer vergangenen oder gegenwärtigen Wirklichkeit verschleiert
. Tillichs Ontologic zufolge ist „Wirklichkeit" gekennzeichnet
durch einen unbedingten Seinsgrund, der sich im bedingten Sein
manifestiert, indem er bedingte Gestaltungen aus sich heraus setzt und
diese mit unbedingtem Gehalt erfällt. Zu dieser „tragenden" tritt die
kritische Funktion des Unbedingten: Der Seinsgrund wird von Tillich
dynamisch gedacht; er offenbart sicfi in immer wieder neuen Gestaltungen
und erweist damit die Endlichkeit aller seiner Schöpfungen.
Absolutsetzung von Bedingtem ist daher Widerstand gegen die Dynamik
des Unbedingten, den Tillich ebenfalls als Scinsstruktur betrachtet
und als „dämonisch" bezeichnet. Eine solche Verabsoluticrung
eines Bedingten liegt vor, wenn man ein Bedingtes mit dem Unbedingten
gleichsetzt, aber auch, wenn das Unbedingte geleugnet und nur das
Bedingte als wirklich anerkannt wird. Aus der Definition der Ideologie
als Verschleierung dieser Absolutsetzung wird somit ihr Ort innerhalb
der Ontologie Tillichs deutlich; es zeigt sich, daß Tillich Ideologie
nicht nur anthropologisch (Machtstreben. Angst vor dem Neuen),
sondern letztlich ontologisch begründet. Die vorliegende Untersuchung
erläutert diese grundsätzlichen Erwägungen an Hand von
Tillichs Aufweis von Ideologien im Verhältnis des Christentums zu
anderen Gruppen der Gesellschaft und innerhalb des nicht-religiösen
Sozialismus.

Auch die Kritik und Überwindung von Ideologien ist für den frühen
Tillich im unbedingten Seinsgrund und damit ontologisch fundiert:
Erkenntnis des Unbedingten („gläubiger Realismus") ist gebunden an
die Offenbarung des Seinsgrundes und - auf der Seite des Menschen -
an ein gläubiges Sich-crgreifcn-lasscn von dieser Tiefcnschichr des
Seins. Das Unbedingte, das mit dem Sein auch die Geschichte trägt
und bewegt, leuchtet vor allem in den geschichtlichen Höhepunkten,
den „Kairoi", auf; der frühe Tillich erlebt die Jahre nach 1918 als