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Ausgabe:

1983

Spalte:

513-515

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Das Zeitalter der industriellen Revolution 1983

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 7

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Erfurt ihren Niederschlag. Sie reichten von der katholischen Barocktheologie
, die Augustinus Gibbon in Erfurt vertritt, und der evangelischen
scholastischen Theologie des 17. Jh., über die Akademie-
Begründungen des frühen 18. Jh., in deren Folge eine Akademie
Nützlicher Wissenschaften 1754 in Erfurt entstand, bis zur Aufklärungsphilosophie
, die führende Köpfe des 18. Jh. wie Carl Friedrich
Bahrdt, Friedrich Justus Riedel und Christoph Martin Wieland
1769 in Erfurt vortrugen.

Sicher war es keine Glanzzeit. Aber die Eigentümlichkeit Erfurts als
einer konfessionell gemischten Universität sorgte immer dafür, daß
etwas geschichtlich Bemerkenswertes vorging. Erwähnenswert sind
u. a. der mißlungene Versuch Gustav Adolfs, 1631 eine evangelische
theologische Fakultät einzurichten; die Ausschließung der Jesuiten
von der Universität und der Wiederaufschwung der Augustiner und
Schöttenbenediktiner als Lehrer der Theologie und Philosophie des
17. Jh.; und die verfehlte Neuordnung der Universität im Geist der
Aufklärung durch den Kurfürsten von Mainz in den Jahren 1768 und
1777. Trotzdem blieb Erfurt von der geistigen Erneuerung der Aufklärung
nicht unbewegt, und der Hauptteil von Kleineidams Darstellung
betrifft diese Zeit. Er zeigt vor allem, wie die Aufklärung
„nicht nur die Philosophie, sondern auch die Theologie ergriff und
hier eine Umformung durchsetzte, die das innerste Gefüge der Theologie
. . . aufsprengte". Vf. hat mit der vorliegenden Arbeit ein Glanzstück
wissenschaftlicher Detailforschung über die Ausstrahlung der
Aufklärung in die kleine Welt der damaligen Universitäten vorgelegt
.

Wenn wir die vier Bände dieser Arbeit betrachten, müssen wir sie
als eine meisterhafte Leistung würdigen. Kleineidam versteht es stefs,
eine Institution mit ihren komplizierten Strukturen. Verhälnissen und
Entwicklungsphasen als lebenden und wachsenden Organismus zu
schildern. Er nimmt sowohl die subtilen Einflüsse einzelner Persönlichkeiten
als auch die Wellen großer geistlicher Bewegungen wahr,
und malt ein sehr lebendiges Bild der Wechselwirkung aller persönlichen
, sozialen und politischen Kräfte innerhalb der Welt der Universität
. Das Ganze gleicht einem Freskenzyklus. Zugleich aber ist es
mit den vielen Listen der Professoren und Promovierten, mit den
wichtigen Kurzbiographien Studierender und Lehrender der Universität
Erfurt ein wertvoller Quellentext zur Geschichte der deutschen
Universitäten.

Cambridge K. W. Scribner

Crcschat. Martin: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das

Christentum vor der Moderne. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz:
Kohlhammer 1980. 242 S. gr. 8' = Christentum und Gesellschaft,
11. Kart. DM 34,-.

Von der Zielstellung der Reihe, die die „Geschichte des Christentums
im Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung von den
Anfängen bis zur Gegenwart" erfassen und „die Binnensicht einer sich
nur auf sich selbst konzentrierenden »Kirchcn«-Gcschichtc ebenso
wie die dogmatischen Fesseln abstrakter Sozialtheorie" sprengen will,
ist auch der Entwurf M. Greschats geprägt. Das 19. Jahrhundert wird
kirchengeschichtlich unter dem Grundaspekt der Umformungskrisc
gesehen, die durch die industrielle Revolution ausgelöst wurde. Der
Enlwicklungszusammenhang der Ende des 18. Jahrhunderts von
Großbritannien ausgehenden Industrialisierung ist. übernational erfaßt
und national im Blick auf die englischen, belgischen, französischen
und deutschen Verhältnisse dargestellt. Ökonomische Trends
und ihre sozialen und soziomentalen Auswirkungen auf spezifisch
geprägte kirchliche Bevölkerungsschichten werden detailliert aufgezeigt
. Historische Existenzbesonderheiten und auch frömmigkeits-
und theologiegeschichtlich bedingte Reaktionsweisen der verschiedenen
Konfessionen, Denominationen, Einzelgruppen und sozial-
reformerisch relevanten Einzelgestalten auf die sozialen Folgeprobleme
der industriellen Revolution werden aufgewiesen. Das sozio-
ökonomische Kalkül ist in analytischer Korrespondenz mit kirchen-
und frömmigkeitsgeschichtlich bedingten Sachverhalten stets präsent.
Der weite sozialgeschichtliche Horizont des Verfassers und das sorgsam
differenzierende Eingehen vor allem auch auf Randströmungen
und Outsiders des offiziellen Kirchentums tragen zu einer facettenreichen
Darstellung bei. Der vom Autor konstatierte Mangel an Darstellungen
, die die Reaktionen der europäischen Kirchen auf den
Industrialisierungsprozeß im 19. Jahrhundert über die nationalen und
konfessionellen Grenzen hinaus anschaulich machen, ist tatsächlich
ein Desideratum. Insofern bietet das Buch eine historistisch vermittelte
Fülle von Informationen und Erkenntnissen zur christlichen
Sozialgeschichte des anglikanischen, katholischen und evangelischen
Kirchentums in Großbritannien und dem Kontinent zwischen 1780
und 1914 und ist darum in der kritischen Diskussion zu Recht als
„eine Pionierleistung auf dem Gebiet einer sozialgeschichtlich vermittelten
Kirchengeschichtsschreibung im europäischen Horizont"
bezeichnet worden (K. Nowak, ThZ Basel, 38, 1982 S. 123).

Die durch den je spezifisch erfolgenden Übergang von der Agrar-
gesellschaft zur Industriegesellschaft ausgelösten Entfremdungser-
scheinungen vom herkömmlichen Kirchentum, die für Gebildeten-
schichten schon in der Aufklärungszeit konstatiert werden, nun aber
breitere Massen erreichen, und die unterschiedlichen Reaktionsweisen
der Kirchen auf diese destabilisierenden Phänomene einer
bisher weitgehend selbstverständlichen Volkskirchlichkeit werden
aspektreich erhellt und beschrieben. Die überdurchschnittlich extensiv
ausgeschöpfte und verarbeitete Literatur sozialgeschichtlich relevanten
Charakters trägt zu dieser konkreten Informationsfülle bei;
vereinzelt begegnen auch Ambivalenzen des Urteils (vgl. S. 19 mit
S. 21: Frage der sozialen Einbindung anglikanischer Geistlicher).
M. Greschat hält eine mehr phänomenologisch orientierte, empirisch
-induktive Darstellungsweise für fruchtbarer, als vorhandene
Theorieansätze zu bestätigen oder gar eine „in sich stimmige Mono-
kausalität" zu entfalten (S. 10). Auch auf forschungsgeschichtliche
Absetzung der eigenen Position von den klassischen Entwürfen eines
Max Weber und Ernst Trocltsch wird verzichtet.

Was die deutschen Verhältnisse betrifft, so wird in Rechnung
gestellt, daß die vertane Chance kirchlicher Einigung nach 1848 den
protestantischen Landeskirchen nicht den nötigen Rückhalt in einem
Kirchenbund bot, der sie befähigte, selbständiger gegenüber ihren
Staaten und Monarchen zu handeln. Durchweg wird unzeitgemäßer
Paternalismus in der kirchlichen Sozialprogrammalik diagnostiziert.
Gewehrt wird indes auch einer einseitigen Überschätzung der sozialen
Aktivitäten in der katholischen Kirche, obschon ihr gleichzeitiger
Kampf um kirchliche Selbständigkeit ihr günstigere Voraussetzungen
für ein sinnvolles Sozialengagement bot als dem landesfürstlich
stärker beherrschten Protestantismus.

Das kritische Räsonncmcnt des Verfassers zielt auf das Manko, daß
das Kirchentum im 19. Jahrhundert den gesellschaftlichen Wandel als
Signatur der Neuzeit verkannte und die pluriforme mobile Gesellschaft
mit überholten Sinnangeboten normieren wollte. Angesichts
des Integrationsverlustes, den die Kirchen hinzunehmen hatten, der
indes nicht schlechthin ein Funktionsvcrlust des Christentums war,
gilt die kirchcnoffiziclle Rechristianisicrungsprogrammatik nicht nur
als faktisch erfolglos, sondern prinzipiell unmöglich (S. 235). Die
Frage nach der realhistorischen Bedeutung des kirchlichen Sozialengagements
im Rahmen der politisch und gesellschaftlich begrenzten
Möglichkeiten wie auch die Frage nach dem Orientierungs- und EfTi-
zienzwert christlicher Sozialutopien wird nicht ausdrücklich thematisiert
. Dabei hat ja doch der komplexe Emanzipationsprozeß mit
seiner Dynamik, seinen Widerständigkeiten und Rückfällen naturgemäß
auch die Kirchen als gescllschaftsintcgricrtc Faktoren mit
erfaßt. Insofern sollte auch-die sozialgeschichtlich orientierte Historiographie
dieser Epoche den Sinngehalt des gesellschaftlichen Wandels
gesamtprozessual auf die kirchengeschichtlichen Phänomene beziehen
und sich bei ihnen nicht mit defizitären Kategorien begnügen.