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Ausgabe:

1983

Spalte:

466-467

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kretschmer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Psychoanalyse im Widerstreit 1983

Rezensent:

Neidhart, Walter

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 6

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liehen Überlegungen: ein Verfahren, das sich - predigttheologisch
gesehen - durchaus auch anders fassen läßt.

Beim Studium der beiden Bände ist dem Rezensenten aufgefallen,
daß in den Literaturangaben Autoren aus der DDR fast ausschließlich
nur dann Erwähnung finden, wenn ihre Publikationen in Lizenzausgaben
oder Sammelwerken in der Bundesrepublik vorgelegen haben.
So finden die Predigthilfen von EPM und ZdZ keine Beachtung. Diese
Beobachtung ist unter verlegerisch-wirkungsgeschichtlichem Aspekt
interessant. Ist sie Folge vom Großangebot des Büchermarktes? Oder
eignet sich die in besonderem Maße situationsbezogene Arbeit von
Predigthilfsliteratur wenig zur gegenseitigen Anregung? Oder bleibt
hier noch ein Kapital zur Förderung geistlicher Gemeinschaft und
homiletischer Bereicherung ungenutzt?

Berlin Christian Bunners

Zerfaß, Rolf [Hrsg.]: Mit der Gemeinde predigen. Beispiele - Berichte
- Überlegungen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn
1982. 143 S.8

Der erste Teil des Buches enthält die auf der Arbeitsgemeinschaft
Katholischer Homiletiker 1980 in München gehaltenen Vorträge
samt einem Gesprächsprotokoll, der zweite Teil „Modelle" aus der
Praxis, bei denen jeweils auf eine Situationsbeschreibung die Dokumentation
der Verkündigung folgt. Als Voraussetzung für eine Predigt
, die sich nicht nur an die Gemeinde richtet, sondern mit ihr
zusammen geschieht, fordert J. B. Metz „Nachfolge als Gemeindeprinzip
", und damit eine Reformation „in Richtung basisgemeind-
licher Initiativen". R. Schloz will dagegen die im volkskirchlichen
Raum vorhandene Pluralität „im konziliaren Prozeß" durchhalten,
um Verständigung darüber zu erzielen, wie die verschiedenen Erfahrungen
im Licht des Evangeliums zu begreifen sind. R. Zerfaß betont
die Bedeutung der Diakonie für die Predigt und den Verlust des Gemeindebezugs
als eine Ursache der Predigtkrise. Seine praktischen
Vorschläge kommen dem basisgemeindlichen Ideal nahe und führen
zu Konsequenzen in Aus- und Weiterbildung.

Der Materialteil bietet ein buntes Bild der Möglichkeiten dafür, wie
konkrete Verkündigung aus dem Leben mit der Gemeinde erwachsen
kann.

E.W.

Welzig, Werner [Hrsg.]: Predigt und soziale Wirklichkeit. Beiträge zur
Erforschung der Predigtliteratur. Amsterdam: Rodopi 1981. III,
193 S. 8" = Daphnis, Bd. 10 Heft 1.

Germanisten, Volkskundler und Theologen untersuchen katholische
und evangelische Predigten vorwiegend des 18. Jahrhunderts
danach, wie sich in ihnen die soziale Wirklichkeit widerspiegelt.
Günter Hess analysiert unter diesem Aspekt die Leichenpredigten
für Kaiser Karl VII. (1745). Elfriede Moser-Rath schildert das
..Familienleben im Spiegel der Barockpredigt". Franz M. Eybl interpretiert
eine anschließend abgedruckte ländliche Jakobuspredigt von
Martin Resch OSB (1698) sozialgeschichtlich. Wolfgang Sommer
vergleicht die Obrigkeits- und Sozialkritik in Regentenpredigten von
Polykarp Leyser d. Ä. und Johann Arndt. Den geographischen Horizont
erweitern Laszlö Makkai: „Römisch-katholische und kalvi-
nistisch-reformierte Predigt zur Zeit der ungarischen Aufklärung"
sowie Italo Michele Battafarano: „Der arme Lazarus und der reiche
Prasser. Theorie und Praxis der Predigt in Italien von Musso bis
Campadelli". Die 1980 auf einem Symposion der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften und des Adalbert-Stifter-Instituts gehaltenen
Vorträge zeigen dem Theologen mit einer Fülle interessanter
Details, wie wichtig die Geschichte der Predigt für die Geschichte der
Frömmigkeit und damit der Christenheit überhaupt ist.

E. W.

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Kretschmer, Wolfgang: Psychoanalyse im Widerstreit. München-
Basel: Reinhardt 1982.190 S. 8°. Geb. DM 29,80.

Schöpf, Alfred: Sigmund Freud. München: Beck 1982. 244 S. m.
10 Abb. 8° = Beck'sche Schwarze Reihe, 502: Große Denker.
Leben, Werk, Wirkung. Kart. DM 19,80.

Der Tübinger Psychotherapeut W. Kretschmer will mit seinem
Buch einen Wunsch verwirklichen, den er noch vom alten Ed. Spranger
gehört hat: „Man müßte doch die Psychoanalyse widerlegen!" So
klagt er denn S. Freud an, daß er den Menschen mit Begriffen und
Kategorien aus der Mechanik erklären wolle, daß er einen materialistischen
Determinismus lehre und daß er ein Alibi für verantwortungsloses
Handeln liefere. Er habe ein dekadentes Interesse für das
Abnormale und Kranke und für das Sinnlich-Triebhafte, Schmutzige
im sexuellen Bereich. Er nähre unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit
die lüsterne Neugierde seiner Leser, leugne den Primat
des Geistigen und die ursprüngliche Echtheit der Religion. Die Lehre
von der Sexualität des Kindes sei eine. Fehlkonstruktion. Wenn es
überhaupt Sexualität im Vorschulalter gäbe, dann nur bei tief gestörten
Kindern.

Zur Erklärung des Phänomens Freud bietet Kretschmer - erstaunlicherweise
- eine psychoanalytische Deutung: Freud sei mit seinem
eigenen Elternkonflikt nicht fertig geworden, habe lebenslänglich
unter einem sexuellen Komplex mit starker Triebhaftigkeit gelitten
und, kompensierend dazu, eine skrupulös-moralische Willenshaltung
entwickelt. Hinter dem lebenslänglichen Interesse Freuds am Thema
Religion analysiert Kretschmer „den prophetischen Charakter, den
Freud sich und seiner beruflichen Aufgabe zuweist, auch wenn er
davon verständlicherweise nicht spricht". Kretschmer vermutet, daß
„die religiöse Frage Freud hinterrücks beherrscht und verfolgt hat und
daß er sie ständig abwehren mußte". Aus Enttäuschung über das
eigene Leben und aus dem damit verbundenen Groll gegen Kultur
und Religion und aus dem Wunsch des Juden, die Christen für ihre
antisemitischen Gemeinheiten zu bestrafen, habe Freud die Rolle des
„Mephistopheles des 20. Jahrhunderts" übernommen. Ja, der Vf. bezieht
in diese absurde Sicht der Dinge nicht nur die Psychoanalyse,
sondern auch den Marxismus ein.

Kurz: „Das Reich der Psychoanalyse hört immer da auf, wo die
Kultur beginnt." Und „die Gruppe der Freud-Schüler, die schließlich
nach dem Ausscheiden aller kritischen und selbständigen Geister
übrig blieb, ist nichts anderes als ein Pfuhl von Geltungssucht, Perversität
und Aggressivität gewesen".

Das Niveau der „Widerlegung von Freud", die hier betrieben wird,
dürfte mit diesen Kostproben gekennzeichnet sein. Viele Kritiken
sind Tiefschläge unter die Gürtellinie - oder erinnern an den Huftritt
gegen einen toten Löwen. Kretschmer schreibt gegen Freud, als ob
dessen Schriften im letzten Jahr erschienen wären. Offenbar weiß er
nichts von der Interpretation von Texten in ihrem zeitgeschichtlichen
Zusammenhang, auch nichts von den ernsten Auseinandersetzungen
verschiedener Philosophen mit Freud. Er hat verschiedene Theorien
Freuds eindeutig falsch verstanden, doch es lohnt sich m. E. nicht, dies
im einzelnen nachzuweisen.

Ein kritisches Streitgespräch mit Freud muß nach meiner Meinung
jede Generation wieder neu führen. Freud „zu widerlegen" halte ich
für unnötig und für kurzschlüssig - ähnlich wie wenn man Marx oder
Nietzsche widerlegen wollte. Die großen Denker der Geschichte
werden jeweils durch diese selber korrigiert und weitergeführt.

Wie man mit Freud auf einem andern Niveau kritisch umgehen
kann, zeigt das Buch des Würzburger Philosophen Schöpf. Schon daß
diese Arbeit im gleichen Jahr in der Reihe „Große Denker" erschien,
ist wie eine Gegendemonstration gegen Kretschmers Pamphlet. Für
Schöpf sind Psychoanalyse und Philosophie durch ihr gemeinsames
Thema, das Bewußtsein, aufeinander angewiesen und kommen nicht