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Ausgabe:

1983

Spalte:

428-429

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Broer, Ingo

Titel/Untertitel:

Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes 1983

Rezensent:

Schenk, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 6

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sehen Plato und Mose? Man zögert auch, das Urteil zu übernehmen,
daß das ganze Werk des Josephus eine Apologie des jüdischen Volkes
darstellt, vielleicht weil es sich eben allzu gut in eine Sicht einfügt, die
im Spannungsfeld von Monotheismus und Politik die Basis jüdischer
Existenz erblickt. Daß auch unter diesem (mir verengt erscheinenden)
Gesichtswinkel faszinierende Aspekte sichtbar werden, zeigt ein
Glanzstück des ganzen Bandes: die Analyse der Or Sib (211-217). Wie
sehr ganze Bücher ihren jüdischen Charakter behalten haben (besonders
III—V), wird paradigmatisch an Or Sib III dargestellt, wo Geschichtsdeutung
, Apologie und politische Polemik miteinander verschlungen
sind.

Der entgegengesetzten Seite der durch den Titel bezeichneten
Dreiecksbeziehung, dem Verhältnis von Christen und Juden, ist der
dritte Hauptteil des Werkes gewidmet (219-321). Er führt nach einer
die Fragestellung präzisierenden Einleitung (222-228) und einem
rechtsgeschichtlich-politischen Abriß (229-234) vom Neuen Testament
über die Apostolischen Väter und die Apologeten bis zu den
großen Theologen des beginnenden dritten Jahrhunderts Irenaus,
Tertullian, Hippolyt und den Alexandrinern. Daß dabei Justin die besondere
Aufmerksamkeit des Vf. gilt, wird man nicht überraschend
finden, wenn man mit der hier rezipierten Sicht N. Hyldals vertraut
ist, der Justin als Fortsetzer des Lukas auf höherer (nachgnostischer)
Stufe verstehen lehrte. Am Ende erscheint der mit deutlicher Sympathie
gezeichnete Origenes, der als jenseits der Alternativen von heilsgeschichtlichem
oder spekulativem System stehend charakterisiert
wird. Bei ihm sei der Vielfalt der biblischen Aussagen, auch über die
Juden, Rechnung getragen.

Überhaupt treten bei der Behandlung der altchristlichen Schriftsteller
die Linien, die die theologische Bewertung bestimmen, in aller
Deutlichkeit heraus. Schon beim Blick auf die Auseinandersetzung
des Judentums mit der Umwelt war Erik Petersons berühmte Formel,
die den „Monotheismus als politisches Problem" kennzeichnet, aufgenommen
und dann mehrfach wiederholt worden (9, 140f, 218).
Jetzt wird das Zentrum der christlich-jüdischen Beziehung auf diese
Frage zurückgeführt: „Was geschieht, wenn der jüdische Monotheismus
von den Christen zwar aufgenommen, aber christologisch bzw.
trinitarisch korrigiert wird?" (219) Alles läßt sich von da aus freilich
nicht deduzieren. Es geht nicht minder auch um den Anspruch auf
den Kanon des Alten Testamentes (etwa in der Konfliktebene, die
durch Marcion und Justin benannt ist) und die Unterscheidung zwischen
„Israel" und dem Judentum (eine Differenzierung, die bereits
im Neuen Testament angelegt und bei Justin - vgl. 277 ff - entfaltet
wird), aber auch um das Verständnis von Geschichte (das sich zuletzt
bei Irenäus und Hippolyt als Schlüsselfrage erweist).

Der Vf., der noch weitere Stationen beleuchtet, bietet eine Formel
an, die ihm so wichtig ist, daß er sie gleichfalls mehrfach reproduziert:
Wo keine Heilsgeschichte, da auch kein Judenproblem. (298 über
Theophilus von Antiochien, ähnlich 292 über Tatian, 317 über Clemens
). Doch will dies bei einem Autor wie Conzelmann nicht als positives
Kriterium gewertet werden, zeigt es doch allenfalls das Problem
an - die Geschichtlichkeit der Christusoffenbarung -, aber nicht dessen
in der Sicht des Vf. theologisch angemessene Lösung. So steuert
der Abschnitt (und das Gesamtwerk) auf das Bekenntnis des Theologen
Conzelmann zu: „Von Interesse zwischen Juden und Christen ist
nur die Glaubensfrage. ... Unter dieser Bestimmung können die
Juden keine besondere eschatologische Kategorie sein; unter ihr sind
alle Menschen, Christen und NichtChristen, Gott unmittelbar konfrontiert
... einfach als Menschen, d. h. als Sünder, die vor Gott des
Ruhmes mangeln... alle in gleicher Weise durch den Glauben gerechtfertigt
, was Paulus in Rom. 3,30 in dem Bekenntnis fundiert, daß
ein Gott ist" (322).

Aber wird nicht gerade dort der eine Gott als der bekannt, „der die
Beschneidung aus dem Glauben und die Unbeschnittenheit durch
den Glauben rechtfertigen wird", und damit in geschichtlichen
(vielleicht doch in „heilsgeschichtlichen") Kategorien gedacht? Man
muß besorgt sein, daß wir bei allem leidenschaftlichen Insistieren des

Vf. auf einer Theologie des Wortes hier doch wieder auf eine indivi-
dualethisch-humanitaristische Position zurückgeworfen werden, die
sich angesichts der Wirklichkeit des Israel kata sarka als unzureichend
und im Letzten unangemessen erwiesen hat. Wer so dem
Theologen Conzelmann im Entscheidenden nicht zu folgen vermag,
wird dem Historiker dennoch uneingeschränkten Dank wissen. Die
Qualität dieses Werkes erweist sich auch darin, daß man es gleichsam
gegen den Strich lesen und nutzen kann. So wird es fraglos die zahllosen
kurzlebigen Diskussionsbeiträge unserer Zeit überdauern und
noch lange als ein Maßstäbe setzendes Opus gelten.

Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

Broer, Ingo: Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes.
Ein Beitrag zur Theologie des Evangelisten Matthäus. Stuttgart:
Katholisches Bibelwerk 1980. 144 S. 8° = Stuttgarter Bibelstudien,
98. Kart. DM 25,80.

Der Siegener Neutestamentier grüßt seinen Lehrer A. Vögtle zum
70. Geburtstag mit einer Ausarbeitung seiner Position, die er fünf
Jahre zuvor schon in einem Aufsatz vorgestellt hatte: Die Antithesen
und der Evangelist Mattäus. Versuch, eine alte These zu revidieren,
BZ 19, 1975, 50-63. Mit der „alten These", die so alt gar nicht ist, ist
die durch Albertz und Bultmann herrschend gewordene (jedoch schon
bei Dobschütz und Weinel sich findende) Unterscheidung von primären
, überbietenden (toraverschärfenden) Antithesen (1., 2., 4.), die
man auf Jesus selbst zurückzuführen sich anschickte, und den drei
demgegenüber sekundären Antithesen, die toraaufhebend seien, gemeint
. Diese Unterscheidung ist unberechtigt, weil die Redaktionali-
tät der Antithesenform bei allen sechs Antithesen der Bergpredigt
nachgewiesen werden kann (so mit Stauffer, Berger, Hasler, Suggs,
Lührmann), und weil in der Sache die 6 Gegenüberstellungen von Mt
5,21 ff allesamt durch das Schema „Nicht erst - sondern schon"
gekennzeichnet sind, es somit eher um eine „Vorverlagerung der
Scheidelinie zwischen Gut und Böse" geht (S. 75-113 vgl. S. 63). Die
Bezeichnung „Antithesen" ist somit eine irreführende Klassifikation.
Falsche Worte machten auch hier ein falsches Denken. Die fälschlich
sogenannten „Antithesen" sind vielmehr Exemplifikationsgruppen,
die nach dem Überbietungs- oder Vorverlagerungsschema gebildet
sind. Das alles ist überzeugend begründet und im dauernden Gespräch
mit der Forschung vorgeführt. Forschungsgeschichtlich kann ich
nicht umhin anzumerken, daß damit genau das Matthäusbild bestätigt
ist, das H. J. Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie
, 21911, S. 497-515, schon als das redaktionelle Konzept des Mt
herausgearbeitet hatte (einschließlich der Redaktionalität der rahmenden
Formel S. 504 mit Pfleiderer, Loisy, J. Weiß, Nicolardot).

Als Hauptteil der Arbeit ist dem eine Exegese von Mt 5,17-20
vorangestellt (S. 11-74 - Broer hätte es seinen Lesern didaktisch
vielleicht leichter gemacht, wenn er diesen Teil - so wie es Holtzmann
einsichtig tat - nachgeordnet hätte, da er nicht bei allen Lesern die
Kenntnis seines Aufsatzes voraussetzen kann). Der Skopos wird richtig
dahingehend bestimmt, daß „das Treueverhältnis zur Tora für das
Christentum, nicht aber für das Judentum in seinen Repräsentanten
kennzeichnend ist" (S. 62). Wenn hier Bedenken aufkommen, so liegen
sie nicht auf der sachlichen, sondern auf der methodologischen
Ebene: Broer geht diachronisch von einer literarkritischen Analyse
jedes einzelnen Verses statt synchronisch von der Gesamtstruktur des
Segments aus. Er ist sich methodisch aber dessen bewußt, so daß er
S. 64f beim Übergang zur Gesamtstruktur selbst auf diesen naheliegenden
Einwand hinweist. Dennoch erscheint die Strukturherausarbeitung
-eben weil ihre Erfassung zu spät einsetzt - nicht voll gelungen
zu sein. Statt syntagmatisch-präzisester Relationen dominieren
hier intuitive Metaphern (betont, Ton tragen, Gewicht tragen, besonders
betont, gewichtiger, stärkeres Gewicht: S. 66-69). Immerhin werden
methodologische Erörterungen, die ins Grundsätzliche gehen,
eingestreut (S. llff zur Literarkritik;"S. 64ff Die kommunikative