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Ausgabe:

1983

Spalte:

403-414

Autor/Hrsg.:

Bovon, François

Titel/Untertitel:

Israel, die Kirche und die Völker im lukanischen Doppelwerk 1983

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 6

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Israel, die Kirche und die Völker im lukanischen Doppelwerk*

Von Francois Bovon, Genf

In diesem Vortrag werde ich nicht die lukanische Ekklesiologie in
ihrer ganzen Breite behandeln, sondern drei abgegrenzte Fragenkreise,
die freilich nicht zusammengehören, mich aber zur Zeit beschäftigen
.

Die erste Frage, die - soweit ich sehe - selten gestellt wird, lautet:
Ein typisches Merkmal der lukanischen Ekklesiologie ist die Berufung
der Heiden; wie verhält sich diese Weltdimension der Kirche zum
römischen Imperialismus? Ist ein solches Verhältnis überhaupt da?
Wenn ja, wird dieses Verhältnis positiv, neutral oder polemisch
gewertet? Also kreist mein erstes Thema um den Begriff der Völker.
. Meine zweite Frage: Hat nicht die jüngere Forschung die Kontinuität
, die Lukas zwischen Israel und der Kirche herstellt, überbetont? Ist
die Gründung und das Wachstum der christlichen Gemeinde nicht
ebensoviel von der Polemik und der Abgrenzung gegenüber dem
jüdischen Volk bestimmt und bewirkt? Der Begriff Israel steht also im
Zentrum des zweiten Teiles.

Die dritte Frage lautet: Wie verhalten sich im lukanischen Doppelwerk
die Mehrzahl der Gemeinden zur Einzahl der Kirche? Präziser
gesagt: Kann man schon bei Lukas von einer universalen Kirche sprechen
, oder nur von einer weltweiten Mission? Anders ausgedrückt: Ist
der neubekehrte Mensch, sobald er in eine Lokalgemeinde eingegliedert
ist, der Meinung, in einer Weltkirche aufgenommen zu
werden? Es ist also die Kirche selbst, in ihrer lokalen und universalen
Dimension, die uns im dritten Teil beschäftigen wird.

[. Die universalistische Perspektive

Obwohl der universale Anspruch Roms erst bei Domitian seinen
Höhepunkt erreicht1, klingen schon in der klassischen Literatur der
Zeit des Augustus universalistische Akzente an. Oft sind sie in Verheißungen
aus der Urzeit eingebettet, die sich jetzt erfüllen: So verspricht
in der Aeneis die Göttin Venus dem fliehenden Aeneas einen Nachwuchs
, besonders Romulus mit einer universellen Zukunft: „Prangend
umhüllt vom gelblichen Fell seiner Amme, der Wölfin, / führt
dann Romulus weiter den Stamm: Die Mauern der Marsstadt / baut er
auf und nennt nach seinem Namen die Römer. / Diesen setze ich
weder in Raum noch Zeit eine Grenze, / endlos Reich hab ich ihnen
verliehn."2 Im vierten Band der Carmina versteht Horaz die gegenwärtige
Lage als eine Periode des Friedens und der Gerechtigkeit in
einem weltweiten und siegreichen Reich: Nachdem er in Carmina
4,14 Augustus mit der Sonne verglichen hat, fährt er fort: „Durch den
einst Latiums Namen, Italiens Macht / sich kühn erhob, der Ruhm
und der Glanz des Reichs / sich dehnte bis zum Sonnenaufgang / weithin
vom westlichen Abendlager. // Solange Cäsar Hüter der Welt ist,
stört / kein Bürgerwahnsinn, keine Gewalt die Ruh, / kein grimmer
Zorn, der Schwerter schmiedend / Städte verfeindet zum eignen
Elend."3

Weniger bekannt als dieser Weltanspruch der römischen Macht, die
durch die Regierung der Provinzen und die Anwesenheit der Armee
konkret zu spüren war, ist die Gewißheit des internationalen Ursprungs
der Stadt Rom. In den verschiedenen Versionen der Entstehung
Roms, z. B. bei Livius oder bei Dionysios von Halycarnass,
wird erzählt, daß Romulus Menschen von überall her eingeladen hat,
sich in der zukünftigen Stadt anzusiedeln. Besonders durch das Asylrecht
hat diese Politik Erfolg gehabt (Liv., 1,8; Dion. Hai., ant.
2,15,3). Bezeichnenderweise hieß bei den Römern, nach Plutarch,
Romulus, 11,2, Welt, mundus, „die runde Baugrube, die Romulus als
Zentrum für die zu gründende Stadt aushob und in die Spenden von

* Dieser Vortrag wurde auf der Tagung 1982 des EKK gehalten. Ich danke
den Kollegen herzlich, die in der Diskussion viele Anregungen gegeben
haben.

allen guten und notwendigen Dingen niedergelegt wurden, wozu jeder
neue Siedler eine Gabe aus seiner Heimat fügte"4.

Es ist möglich, daß die Verbreitung dieser Legende über den weltumspannenden
Ursprung Roms einen Weg öffnete, die jetzige
römische Herrschaft zu rechtfertigen. Die Entwicklung des Kaiserkultes
wäre eine weitere, wirkungsvollere Lösung, der bunten Vielfalt
der unterworfenen Völker eine ideologische Einheit zu verleihen .

Unter dem Kaiser Claudius ereignete sich im Jahre 48 eine harte
Diskussion irn Senat, die ihrer Struktur nach stark an die gleichzeitige
Jerusalemkonferenz erinnert: Die Führer der gallischen Völker bitten
um die Wahlfähigkeit in den römischen Ämtern, besonders im Senat.
Die neuen Verhältnisse im Reich verlangen ihrer Ansicht nach, daß
Delegierte der Provinzen alj vollgültige Mitglieder des • römischen
Senats aufgenommen und anerkannt werden. Diese Bitte löst im Senat
eine heftige Auseinandersetzung aus: Viele Patres conscripti wehren
sich dagegen (wie die pharisäische Gruppe in Apg 15) und wollen den
römischen Charakter des Senats retten. Der Princeps dagegen vertritt
in einer langen Rede6 eine Meinung, die parallel zur Haltung des
Petrus in Apg 15 verläuft, und erringt so den Sieg. Von den verschiedenen
Argumenten, die er anführt, interessiert uns eines: „Denn es ist
mir ja auch nicht unbekannt, daß die Julier aus Alba, die Coruncanier
aus Camerium, die Porcier aus Tusculum, und, um nicht erst in der
alten Geschichte nachzuforschen, aus Etrurien, Lucanien und ganz
Italien Senatoren berufen worden sind, ja endlich letzteres selbst bis
an die Alpen ausgedehnt ward, daß nicht bloß einzelne Personen, nein
Länder auch und Völker unserem Namen einverleibt würden . . . Was
anders brachte den Lacedämoniern und Athenern Verderben, so
mächtig sie auch in den Waffen waren, als daß sie die Besiegten als
Ausländer von sich ausschlössen? Dagegen war der Begründer unseres
Staates, Romulus, so einsichtsvoll, daß er an mehreren Völkern an
einem und demselben Tage Feinde und dann Bürger hatte."7

Jetzt stellt sich die Frage: Wie verhält sich die christliche vocatio
gentium zu dieser Eingliederung der Völker in die römischen Strukturen
?

Man kann vier Arbeitshypothesen aufstellen: 1) Es gäbe keine Verbindung
zwischen den zwei Phänomenen. Die christliche, besonders
lukanische Berufung der Heiden steht exklusiv in der Linie der alt-
testamentlichen Verheißungen, der Begriff xa £i)vn bei Lukas sei
immer religiös geprägt und in einem soteriologischen Kontext gebraucht
'. Die Eingliederung der Heiden in die Kirche ist rein schriftgemäß
, d. h., sie entspricht einer besonderen Auslegung von Jes,
besonders Jes 49, die ihre Wurzel hat im Novum der Botschaft Jesu,
im Ereignis der Auferstehung und in einer Tendenz der jüdischen
Synagoge, welche die universale Liebe Gottes außerhalb Israels unterstreicht
.8

2) Universalismus lag im 1. Jahrhundert in der Luft. Deshalb sei
strukturell eine Verwandtschaft da, aber sie beweist noch keine
Abhängigkeit. Beide Systeme, das römische und das christliche, seien
Konkretionen eines damaligen im Weltreich Alexanders wurzelnden
Universalismus. Der christliche Universalismus sei mindestens seiner
Form nach doch ideologisch geprägt.

3) Für Lukas wäre die Weltdimension der Mission und dadurch der
Kirche ein religiöses Gegenstück zum politischen Universalismus
Roms. Lukas wäre dann ein Vorläufer von Euseb und Prudenz9. Er
würde auf eine Harmonie zwischen Kirche und Staat hinzielen. In
dieser Beziehung würde die Verehrung des Evangelisten für die von
Dom Dupont nachgewiesene aequitas Romana10 und allgemein für
die römischen Einrichtungen eine Erklärung finden.

4) Viel diskreter als die antirömische Haltung der Johannesoffenbarung
würde der lukanische Anspruch auf alle Völker eine implizite,
aber doch spürbare Polemik gegen den römischen Imperialismus