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Ausgabe:

1983

Spalte:

387-389

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Steinacker, Peter

Titel/Untertitel:

Die Kennzeichen der Kirche 1983

Rezensent:

Dantine, Johannes

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387

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 5

388

Systematische Theologie: Dogmatik

Steinacker, Peter: Die Kennzeichen der Kirche. Eine Studie zu ihrer
Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität. Berlin-New
York: de Gruyter 1982. XI, 370 S. 8' = Theologische. Bibliothek
Töpelmann, 38. Lw. 98,-.

Vf. beabsichtigt mit vorliegender Studie einen Beitrag zu einem
evangelischen Verständnis von Kirche in der Gegenwart vorzulegen.
Es geht ihm dabei um die Begründung und inhaltliche Entwicklung
der Kennzeichen der Kirche durch evangelische Theologie. Kennzeichen
sind die vier des Nicaenum. Sie geht von der Arbeitshypothese
aus: „Die Kennzeichen der Kirche, ihre Einheit, Heiligkeit
, Katholizität und Apostolizität sind evangelisch aus dem prozeßhaften
Glauben in jeweils historischer Situation zu begründen" (9).

Diese Absicht verwirklicht Vf. in zwei großen Gängen. In einem
ersten untersucht er zunächst die Lehre von den Kennzeichen bei den
neueren Autoren, wobei zurecht eine große Unsicherheit über deren
Wesen festgestellt wird, dann die Aussagen im Neuen Testament, insbesondere
der Quelle Q, das allerdings die Kennzeichen nur sachlich
gekannt, nicht bekenntnismäßig formuliert hat (101), und schließlich
die Aussagen der Reformation. Ergebnis dieser Untersuchung ist der
Nachweis der Geschichtlichkeit des Glaubens: „Der prozeßhafte
Glaube verfährt im polemischen Streit mit anderen Grundverständnissen
des Glaubens um die rechte Aneignung des Glaubens und
seiner Tradition nach dem gleichen Muster: aus dem jeweils gelebten
und begriffenen Glauben werden die Glaubensstücke begründet"
(142). In einem zweiten Gang will Vf. die Glaubensstrukturen der
Gegenwart orten und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae darstellen
. Diese Glaubensstrukturen findet er bei gegenwärtigen
Autoren, denen er jeweils einen inhaltlichen Schwerpunkt zuordnet:
H. Küng und Rechtfertigung, J. Moltmann und Trinität, W. Pannenberg
und Eschatologie. Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität
werden unter den Stichworten Rechtfertigung, Trinität und
Eschatologie im Problemhorizont der Gegenwart entwickelt und dargestellt
. Hier findet sich eindeutig der beachtliche Hauptaspekt dieser
Arbeit. Leider sind diese Überlegungen so atomistisch aneinander
gereiht, daß sie in Kürze nicht zitiert werden können. Zahlreiche
Einzeluntersuchungen sind dabei mitverwertet worden, etwa über die
Ekklesiologie des Ökumenischen Rates. Katholische Theologie wird
weitestgehend berücksichtigt. Die Hypothese scheint dem Vf. verifiziert
, daß „die Kennzeichen der Kirche... evangelisch aus dem
prozeßhaften Glauben in jeweils neuer historischer Situation zu
begründen" sind (298). Daraus ergibt sich auch, daß die „Theologie
mit der radikalen Geschichtlichkeit auch ekklesiologisch ernst
machen muß" (301) und „existentielle Skepsis als Fragehaltung"
(308).

Vf. hat mit dieser Arbeit eine für das Selbstverständnis von Kirche
heute entscheidende Frage angesprochen und sie ausführlich, unter
Aufarbeitung von sehr viel Literatur, reflektiert.

Dennoch wird die Stringenz seiner Gedankengänge nicht erkennbar
. Sie sind zwar sinnvoll aufeinander abgestimmt. Aber warum so
gedacht wird und gedacht werden muß, und nicht anders, bleibt verborgen
. Es haftet ihnen Beliebigkeit an. Was erbringen die ntl. Untersuchungen
für das Thema? was vor allem die ausführliche Studie über
Q? Die Herkunft der Nota-Lehre aus der Kontroverstheologie wird
zwar erwähnt, aber für die Arbeit nicht fruchtbar gemacht. Warum
werden gerade die Themen Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie
als Grundmotive vorgestellt, die „in der gegenwärtigen historischen
Situation in der Lage sind, die Einheit usw. der Kirche als Kennzeichen
der Kirche zu begründen"? Selbst Vf. stellt fest, er habe „nicht
belegt, sondern .behauptet', daß der gegenwärtige Glaube sich in der
Konstellation Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie auf der Basis
des Weltverständnisses ergreift" (300). Auch die Zuordnung dieser
Lehren zu den Theologen Küng, Moltmann und Pannenberg könnte
auch ganz anders durchgeführt werden. Ebensowenig wird die besondere
Funktion der Nota-Lehre erkennbar. Es kann der Behauptung,
die Hypothese sei verifiziert (298), also nicht zugestimmt werden. Es
sind beachtliche und faszinierende Überlegungen vorgetragen
worden.

Dazu kommt, daß manchen Analysen nicht gefolgt werden kann,
weil wichtige Momente nicht oder nicht ausreichend Beachtung
finden. So wurde bei der Darstellung von Luthers „Von den Konzilien
und Kirchen" die zweite Reihe der notae, die der zweiten Tafel des
Gesetzes folgen, nicht erwähnt (114 f)- Damit entgeht Vf. der Notwendigkeit
, Luther etwa als Kronzeugen für die Orthopraxie und die
Anerkennung ethischer Häresien anführen zu müssen. Gegen diese
Anerkennung ethischer Häresien verhält sich Vf. ganz allgemein
reserviert, ohne allerdings dieser Frage eine ausführliche Auseinandersetzung
zu widmen. Diese bleibt auf Fußnoten beschränkt (56f).
Auch verbannt er K. Barths Aussagen aus KD IV/3 in eine Fußnote
(33). Er übersieht, daß die Nota-Lehre gerade in Hinsicht auf die
Praxis der Kirche in der Bekennenden Kirche wieder zum Leben
gekommen ist und begnügt sich mit einer knappen und keineswegs
eingehenden Problemanzeige (7). Betreffend Melanchthon werden
nur CA und Apol berücksichtigt, nicht das übrige Werk, wodurch die
gelegentlich von diesem geforderte dritte nota: Gehorsam gegenüber
den Pfarrern, außerhalb des Blickfeldes bleibt. Bei Calvin wird in
einer Weise Ekklesiologie und Prädestinationslehre zusammengebunden
, wie es dem Bemühen Calvins, die Prädestinationslehre gerade
nicht zum allbeherrschenden Grundthema zu machen, um sich und
sie vor spekulativer Ausweitung zu bewahren, nicht entspricht. Ebenso
vermißt man wichtige Literatur, vor allem zum Thema Rechtfertigung
, wo offenbar die Arbeiten von H. E. Tödt, P. Stuhlmacher und
W. Dantine nicht berücksichtigt worden sind.

Die schwerwiegenden, an den Vf. zu stellenden Fragen sind aber
erstens: was ist der „gegenwärtige Glaube", der die Inhalte des Glaubens
begründet? Worum es geht, liegt auf der Hand: um die Geschichtlichkeit
des Glaubens wie des Ausdrucks des Glaubens. Damit
ist aber die Frage noch nicht beantwortet, denn: welche Qualität hat
dieser „gegenwärtige Glaube"? Hat er die Qualität einer Norm? oder
einer Offenbarungsquelle? Wohl nicht. Aber welche dann? Hier läßt
uns der Vf. ohne Antwort. Es ist dann auch eigenartigerweise nicht so,
daß er die Aktualität des Glaubens aus spezifischen Herausforderungen
der Gegenwart ableitet. Gelegentliche Bemerkungen, vor allem
die einleitende Skizze der heutigen Weltsituation, könnten darauf hindeuten
. Aber diesen Weg geht er nicht. Er formuliert gegenwärtigen
Glauben nicht von Herausforderungen her, sondern aus derzeit vorhandenen
theologischen Positionen.

Die Unschärfe in dieser Frage hängt möglicherweise mit der zweiten
entscheidenden Problematik zusammen: Vf. moniert zu recht, daß
weithin die Ekklesiologie von notae redet, ohne daß ausreichend
geklärt wird, was gemeint ist. Bringt er hier einen Fortschritt? Er weiß,
daß die Nota-Lehre aus der Kontroverstheologie stammt, also kritisch
-apologetische Funktion hat. Aber diese Einsicht wird nicht
fruchtbar gemacht. Daß an Hand der notae zu unterscheiden ist,
welche Kirche wahr, welche falsch ist, wird nicht beachtet. Auch
übergeht er die reformatorischen notae vorschnell als überholt und
erkennt darum auch nicht das eminent selbstkritische Potential dieser
Lehre für die Kirche. Es rächt sich wohl auch, daß er für die wohl
bedeutendste ältere Arbeit, die von E. Wolf, auch nur eine halbe, sich
mit einem Nebenaspekt befassende und ablehnende Fußnote übrig
hat (114). Die reformatorische Aussage, daß wahre Kirche nur ist, wo
das Evangelium lauter und rein gepredigt wird - und was das konkret
heißt, muß sicher in jeder historischen Situation neu ausgesprochen
werden - hat selbstkritische Relevanz, denn sie impliziert die Möglichkeit
, daß Kirche sich als falsche Kirche erweist. Die Radikalität
dieser selbstkritischen Haltung wurde erstmals in der Geschichte des
Protestantismus von Barth und seinen Freunden artikuliert. Darin
unterscheidet sich auch immer noch katholisches von reformatorischem
Kirchenverständnis (was nicht heißt, daß dieses in den
protestantischen Kirchen vorherrschend sei), daß letzteres nicht an