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Ausgabe:

1983

Spalte:

343-344

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brown, Raymond Edward

Titel/Untertitel:

The critical meaning of the Bible 1983

Rezensent:

Lohse, Eduard

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Seite 1

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343

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 5

344

Dessen ungeachtet verweisen die Baha'i immer wieder mit Nachdruck
auf die Authentizität' ihrer Schriften und machen ironischerweise
gerade den anderen Religionen den heftigen Vorwurf der Schriftver-
fälschung." (S.259)

Kapitel 8 „Das ,Eiserne Zeitalter' des Sawqi Efendi" schildert die
Entwicklung des Baha'ismus unter dem „Hütertum" (1921-1957).
Diese Periode wird als neue Ära gewertet, die durch „Organisierung
und der dogmatischen Begründung der Lehre" gekennzeichnet ist
(S. 318). Auf dem Hintergrund der Charakterisierung des Baha'ismus
als „Rechtsorganisation" - Recht ist hier theonomes Recht - erhält
die sehr ausführliche und kenntnisreiche Darstellung der „Verwaltungsordnung
" der Bahäi (Kap. 9) besonderes Gewicht. Hier leistet
der Vf. Bahnbrechendes. Seine Kenntnisse der Interna bilden dafür
zweifellos die Voraussetzung.

Das abschließende 10. Kapitel „Der Baha'ismus in der Gegenwart"
informiert über Verbreitung, aktuelle Entwicklungen, Zielstellungen
und Ansprüche. Schwerpunkte sind Themen wie der „Bahäi-Welt-
staat; der Gläubige in Gemeinschaft und Umwelt; Absolutheitsan-
spruch und Toleranz; der Baha'ismus im Widerspruch von Propaganda
und Wirklichkeit". Es kommt zu einer engagiert kritischen
Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Führung auf der Grundlage
persönlicher Erfahrungen des Vf., der dennoch die Botschaft
Baha'ullahs durchaus anerkennend würdigt (S. 431). Die Führung der
Bahäi bewertet er „als ein autoritäres Machtinstrument, das sich mit
Hilfe von ungedeckten utopischen Zukunftsidealen letztlich selbst
herausstellen und an die Spitze einer Weltregierung hervorarbeiten
will" (S. 414). Auch sonst geht er an vielen Punkten mit der Organisation
scharf ins Gericht und bescheinigt ihr - entgegen ihrem Anspruch
- „formal und inhaltlich" Intoleranz (S. 416). Diese und andere
Urteile bedürfen der weiteren wissenschaftlichen Diskussion.

In mehrfacher Hinsicht nützlich und weiterführend ist das umfangreiche
Literaturverzeichnis. Punkt V, Allgemeine Religionswissenschaft
, ist allerdings ausgesprochen schwach und nicht auf dem neueren
Stand. Ein Register erleichtert ebenso wie eine Karte des Vorderen
Orients mit den für die Bewegung wichtigen Orten die Orientierung.
Trotz der „Bemerkungen zur Transkription" (S. 13-15) wird vermutlich
ein „größerer Leserkreis" mit der wissenschaftlichen Umschreibung
der zahlreichen orientalischen Namen und Wörter Schwierigkeiten
haben, ein Problem, das auch anderwärts immer wieder
auftritt.

Wer sich über den Baha'ismus umfassend informieren und kritisch
auseinandersetzen will, wird zu der vorliegenden Publikation greifen.
Sie gibt zudem zahlreiche Anregungen für weiterführende und vertiefende
wissenschaftliche Spezialuntersuchungen.

Halle (Saale) Helmut Obst

Bibelwissenschaft

Brown, Raymond E: The Critical Meaning of the Bible. New York-
Ramsey: Paulist Press 1981. X, 150 S. 8°.

Als einer der führenden amerikanischen Neutestamentier lehrt der
Vf. dieser überaus anregenden Schrift am Union Seminary in New
York und weiß sich zugleich seiner römisch-katholischen Kirche fest
verbunden. Wie kritische Wissenschaft und kirchliche Loyalität miteinander
in Einklang zu halten sind, führt er beispielhaft vor, indem er
in einigen Variationen die Grundthese entfaltet: Die Anwendung der
historisch-kritischen Bibelinterpretation ist zwingend geboten, weil
sie, wenn sachgemäß vorgenommen, eine fundamentale theologische
Einsicht freilegt - daß nämlich Gottes Wort von Menschen bezeugt
und deshalb jeweils unter den Bedingungen von Zeit und Umwelt seiner
Zeugen gesprochen wird (S. 28f). Hieraus folgt zwingend die
Erkenntnis, daß die biblischen Schriften nicht frei von Irrtum sind, sowohl
im Blick auf historische oder naturwissenschaftliche Angaben

als auch hinsichtlich theologischer Urteile (S. 15f u. ö.). Erst wenn
diese jeweilige Bedingtheit der biblischen Botschaft deutlich in den
Blick genommen ist, kann auch die eigentliche Tiefe ihrer Wahrheit
erfaßt werden.

Diese grundlegende These muß der Vf. gegen mancherlei innerkatholische
Kritik verteidigen - sowohl gegen distanzierte Zurückhaltung
, die ohnehin der Bibel nicht die ihr gebührende grundlegende
Bedeutung zuzuerkennen bereit ist, als auch in Abwehr mancher Verdächtigungen
, die von ultrakonservativen Kreisen der theologischen
Wissenschaft entgegengehalten werden. Liberalistische Gleichgültigkeit
hier, fundamentalistische Engführung dort - Vorgänge, wie sie
sich seit längerem in den protestantischen Kirchen vollziehen, finden
nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ihre vergleichbaren Erscheinungen
in der katholischen Welt, besonders in den Auseinandersetzungen
in den .USA. Insofern sind die besonnenen und stets umsichtig
begründeten Darlegungen, die der historisch-kritischen Bibelinterpretation
die ihr unabweislich gestellte Aufgabe, aber auch die ihr eigene
Würde zuerkennen, durchaus geeignet, sich auch in Auseinandersetzungen
, die sich nach wie vor in unserem Bereich vollziehen, als hilfreich
zu erweisen.

Der Vf., der in reichem Maße von evangelischer Bibelwissenschaft
gelernt hat, erklärt jedoch mit Nachdruck, daß nach seinem Urteil
angesichts der vielfach auseinanderstrebenden Tendenzen bibelwissenschaftlicher
Studien die Bedeutung eines kirchlichen Lehramtes
größer denn je zuvor ist (S. 37). Dieses Lehramt hat jedoch der Bibelwissenschaft
keine Fesseln anzulegen und ihr nicht enge Grenzen zu
ziehen, wohl aber - geleitet vom Heiligen Geist - Entscheidungen in
Fragen des Glaubens und der Sitte zu fällen (S. 38). Ausgestattet mit
allem Rüstzeug historischer Kritik und theologischen Urteils, stellt
damit der Vf. seinen evangelischen Gesprächspartnern die entscheidende
Frage, um deren Beantwortung es im gegenwärtigen ökumenischen
Dialog geht. Dabei wird diese Frage nicht in polemischem Sinne
formuliert, sondern in dem Bemühen, im gegenseitigen Verstehen einander
näherzukommen und weitere Schritte in Richtung auf wachsende
Einheit der Kirche zu tun.

Welchen Beitrag hierbei gerade die Bibelwissenschäft leisten kann,
zeigt der Vf. auf, indem er die Frage nach der Entstehung des kirchlichen
Amtes eingehend erörtert (bes. S. 124-146, vgl. auch S. 76-78).
Am Anfang der Geschichte stand eine Vielfalt von Gemeindeordnungen
, die jedoch bei allen Unterschieden stets darauf bezogen waren,
daß es Formen der Leitung und Aufsicht geben mußte. Erst gegen
Ende des 1. Jh. n. Chr. bildete sich das Modell Bischof - Presbyter -
Diakon heraus, das dann bei Ignatius von Antiochia klar ausgeprägt
vorliegt und sich in der Folgezeit allgemein durchsetzt. Sieht der
katholische Theologe in dieser kirchengeschichtlichen Entwicklung
das Walten des Heiligen Geistes am Werk (S. 146), so kann er doch
verstehen, daß in anderen Überlieferungen andere Formen von Leitung
der Gemeinden ausgebildet wurden. Gemeinsam aber muß in der
heutigen ökumenischen Debatte die Zustimmung dazu sein, daß die
Aufgabe der episkope unabweislich jeder Kirche gestellt ist. Gerade
indem der Vf. als Mitglied der Ökumenischen Kommission für Glauben
und Kirchenverfassung diesen Gedanken so einprägsam formuliert
hat, konnte er dem weiteren Dialog in die Zukunft weisende
Impulse vermitteln. Evangelische Theologie ist dadurch herausgefordert
, aber auch bereichert und zu neuem Nachdenken angeregt. Denn
angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die das Zweite Vatikanische
Konzil in der römisch-katholischen Kirche ausgelöst hat, stellt
der Vf. mit Recht die Frage, in welchem Maße denn evangelische
Theologie und Kirche heute zu reformatorischer Erneuerung willens
und fähig sind (S. 119-122). Sich um eine Antwort auf diese Frage zu
bemühen, sind aufmerksame evangelische Leser dem Vf. schuldig, der
stets in großer Fairneß urteilt und bezeugt, wie kritische Betrachtung
der Bibel dem gemeinsamen Bemühen dient, die befreiende Kraft der
Wahrheit zu erfahren.

Hannover Eduard Lohse