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Ausgabe:

1983

Spalte:

306-307

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Henseler, Heinz

Titel/Untertitel:

Selbstmordgefährdung 1983

Rezensent:

Haustein, Manfred

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 4

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Leipzig Manfred Haustein

phischen Darstellung liegt. In einer vom poimenischen Interesse Theorien. Allzuoft bleibt aber die Frage offen, wie sich die mit wissenbestimmten
, im übrigen wertungsfreien Auswahl sei auf folgende Bei- schaftlichen Methoden gewonnenen Einzelergebnisse umsetzen
träge hingewiesen: Selbstmordverhütung: Wissenschaft oder Caritas? lassen in praktische und tätige Hilfe für den Selbstmordgefährdeten",
(K. Böhme); Sucht und Suizid (W. Feuerlein); Depression und Suizid so betrifft dies leider in relativer, lediglich durch einige Beiträge etwas
(W. A. Scobel); Ehepartnerverlust als Risikofaktor für den Selbst- abgemilderten Weise auch den vorgelegten Beitragsband. Konkrete
mord (J. Bojanovsky); Zur Problematik von Suizidversuchen bei Kin- Therapie- und Interventionsberichte gibt es kaum, was zumal in einer
dem und Jugendlichen (K.-U. Nöhring); Zur Alterssuizidalität - Lite- psychiatrisch-medizinischen Veröffentlichung verwundert, vielleicht
raturergebnisse und psychotherapeutische Behandlungsansätze sogar skeptisch stimmt und im Blick auf den ins Auge gefaßten Leser-
(H. Radeb'old und G. Schlesinger). Wiederholungen von grundlegen- kreis bedauert werden muß.
den Forschungsergebnissen, wie sie sich bei einer Referatssammlung
schwerlich ganz ausschließen lassen, halten sich in Grenzen und sind
für den Nichtfachmann im Sinne nachdrücklicher Einprägung möglicherweise
sogar vorteilhaft.

Zu den wiederholt referierten, seelsorgerlich relevanten empi- ,_, . u . „, . _ . ... . _ „ . . _..
— . n r , ■■ ■ -„.,., , , „ . . , . Henseler, Heinz, u. Christian Reimer [Hrsg.]: Selbstmordgefährdung,
nschen Befunden gehört zweifellos der Tatbestand, daß es s.ch bei Zur Psychodynamjk und psychotherapie. Stuttgart: frommann-
suizidanten ganz uberwiegend um isolierte, desintegnerte Menschen holzboog 1981. VIII, 190 S. 8° = problemata, 93.
handelt, die verschieden ursächlich aus den bergenden Zusammenhängen
gefallen sind. Ganz in diesem Sinne heißt es im Geleitwort Suizidanten oder - direkter, bedrohlicher, nicht durch em Fach-
Prof. Dr. Erwin Ringels: „Untersuchungen über die den Suizidhand- fremdwort distanziert - Selbstmörder gehen uns hart an - als Tote,
lungen und Krisen zugrundeliegenden Motive lassen sich im wesent- eben noch „Gerettete", oder bereits im potentiellen Vorstadium, das
liehen immer auf das Problem der Vereinsamung, der inneren und sich abzeichnet. Christian Reimer nennt sie in seinem Eröffnungsbeiäußeren
Isolierung zurückführen." (VI) Immer wieder wird, empi- trag in diesem Sinne „Aufreißer". Es gehört zur Charakteristik dieser
nsch belegt, auf eine „signifikante Korrelation" zwischen Einsamkeit, Veröffentlichung, daß sie ganz unbeschadet ihrer Wissenschaftlich-
sozialer Isolation, Verlust der Geborgenheit, Störungen im mit- keit etwas von solcher Betroffenheit erkennen läßt, die sich in formenschlichen
Kontakt und dem Suizid verwiesen, woraus für die seel- sehender und therapeutischer Zuwendung manifestiert. So begegnet
sorgerliche Suizidprophylaxe und die Nachbetreuung von Suizidan- man in den Beiträgen kaum jener distanziert-objektivierenden Art
ten die Dringlichkeit einer auf Integration ausgerichteten Seelsorge von Berichterstattung und Faktensammlung, die im Kern wohl man-
(integrierende Seelsorge) folgt, wobei vor allem der Verankerung in ches mit Abwehr zu tun hat und gerade in der Suizidliteratur nicht seltner
(therapeutischen) Gruppe besondere Bedeutung zukommt. ten ist. Der Pfarrer, der in vielfältiger Weise mit dem Selbstmord und
Wenn G. Sonneck fordert, „alle jene Personen, die üblicherweise mit der Selbstmordgefährdung konfrontiert wird, in Seelsorge und Bera-
Menschen insbesondere in Krisensituationen zu tun haben", was für tungsarbeit, durch Bestattungen, Gesprächen mit Angehörigen usw.,
Pfarrer, Pastorinnen und kirchliche Sozialarbeiter zweifelsohne kann aus dem vorgelegten Band reichlich Einsichten, Verständniszutrifft
, „sollten ein gehöriges Wissen über potentielle Suizidgefähr- hilfen und Verhaltenseinweisungen entnehmen, die ihm dafür hilf-
dung und dem Umgang mit solchen Menschen haben" (110), so kann reich sind. Allerdings muß er vieles, sofern die Aufsätze nicht aus
man dies nur nachdrücklich unterstreichen. Die Veröffentlichung seinem beruflichen Kontext stammen, zu übertragen wissen,
'eistet in dieser Richtung einen gewissen schätzenswerten Dienst. So ist etwa manches aus dem Beitrag Christian Reimers „Zur Pro-
Obwohl durch eine intensivierte Weiterbildungsarbeit der Kirchen in blematik der Helfer-Suizidant-Beziehung: Empirische Befunde und
den letzten Jahren in dieser Hinsicht deutliche Fortschritte zu ver- ihre Deutung unter Übertragungs- und Gegenübertragungsaspekten"
zeichnen sind, besteht aufs Ganze gesehen noch immer ein erheb- (1-27), worin der Vf. der Frage nachgeht, „warum es so oft zwischen
liches Desiderat, das die anspruchsvolle Berufsbezeichnung Seelsorger Suizidanten und Helfern zu emotionalen Spannungen kommt" (24),
erheblich anfragt. Zu den Kenntnissen, die hier unabdingbar sind, obwohl der christliche Seelsorger dabei nicht ausdrücklich im Blickgehören
vor allem der häufig ausgewiesene Zusammenhang zwischen winkel ist, ohne weiteres auch für diesen betreffend und belangvoll. Es
Suizid und Autoaggression (wobei es vor allem darum geht, Einsich- sind z. B. eben nicht nur „manche Ärzte" „mit narzißtischen Anten
in die Art ihrer Entstehung und Auflösung zu gewinnen!) sowie sprächen derart ausgestattet, daß ihr bemerkenswerter Einsatz sie
zwischen Suizidalität und Narzißmus (narzißtische Krisen ... poten- besonders verletzlich macht" (8), auch im Pfarrerberuf siedeln unge-
l'ell suizidauslösend, Weimer, 188). M.Weimer (Theologe und wohnlich viele narzißtische Persönlichkeiten-warum das so ist, kann
Mediziner) betont in seinem Beitrag u. a. die Dringlichkeit einer Um- hier nicht entfaltet werden -, deren hohe Kränkbarkeit störend, blok-
schaltung in der Suizidseelsorge von der Psychologie des „Schuldigen kierend, unter Umständen verhängnisvoll in die Beziehung mit den
Menschen" auf die Psychologie des „Tragischen Menschen", was, zumindest zeitweilig stark bemühungsresistenten Suizidanten ein-
obwohl praktisch viel dafür spricht, in dieser grundsätzlichen wirkt, was freilich bei immer bewußterem Selbstverhalten nicht so
Pauschalität erhebliche theologische Probleme aufreißt, die vom Vf. bleiben muß.

kaum schon zureichend reflektiert und beantwortet sind. Von den Der Band enthält neun Beiträge zu speziellen Aspekten der Suizida-
v'elfältigen vermittelten empirischen Daten soll wenigstens auf eine lität. Autoren sind außer den Herausgebern Friedrich Balck. Volker
besondere statistische Häufung der Suizidgefährdung für Helfer- Jenisch, Ilona Koppäny, Robert Friedrich Marten und Walter A. Sco-
herufe, deren Ursachen als einigermaßen aufgehellt angesehen werden bei. Eine gewisse Besonderheit eignet Walter A. Scobels engagiertem
können, und eine bedingte Dammfunktion von Religiosität (etwa 109) Aufsatz „Suizid - Freiheit oder Krankheit?" (82-112), in dem ersieh
hingewiesen werden. mit dem kulturgeschichtlichen Wandel der ethischen Suizidwertung
Was den Untertitel des Bandes - Ergebnisse und Therapie - betrifft, auseinandersetzt und in philosophisch-lebensanschauliche Grundfra-
so liegt inhaltlich der Akzent allerdings ziemlich einseitig auf den vor- gen vordringt. Dabei konstatiert er in deutlicher Kritik Zusammenfegend
mittels der Befragungsmethode und der Statistik erzielten hänge mit der aus der christlichen Tradition erwachsenen ethischen
Peststellungen (etwa März-/Novembergipfel, Wochenende als häu- Verurteilung des Selbstmords und der bis heute verbreiteten emotione
Suizidzeit usw.), während der Therapieaspekt eher unterrepräsen- nalen Verfemung und Negierung der Suizidanten, die deren Gefährden
ist. Wenn K. Böhme in seinem Eröffnungsbeitrag (3) schreibt: dung verstärkten. In kritischer Zuspitzung verweist er u. a. auf die sitt-
"Wissenschaftliche Veröffentlichungen über Ergebnisse der Selbst- liehe Absurdität, „daß aktives Töten anderer im Namen der gerechten
m°rdforschung konfrontieren uns in einer kaum noch überschau- Sache (z. B. des Antikommunismus; Korea- und Vietnam-Krieg)
hären Weise mit Zahlen, Fakten, Statistiken, Interpretationen und moralisch besser und höher eingestuft, anerkannter und selbstver-