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Ausgabe:

1983

Spalte:

304-306

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Suizid 1983

Rezensent:

Haustein, Manfred

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303

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 4

304

im Stil einer „Stimmensammlung". Dazu kommen die Konzilien und
andere „lehramtliche" Äußerungen.

Die Entstehungsgeschichte des Axioms, das die neueren dogmatischen
Lehrbücherais „sententia theologicecerta" qualifizieren, wird
in den Hauptstationen vorgeführt: L altkirchliche Überzeugung ist,
daß Gottes Offenbarungshandeln in Jesus Christus kulminiert und
nicht mehr überboten werden wird, dann werden 2. „die Apostel"
ausdrücklich als „Offenbarungsempfänger in die für alle Zeiten geltende
normative Gültigkeit der Christusoffenbarung einbezogen,
schließlich 3. erst im Laufe des 19. Jahrhunderts - zu meiner Überraschung
- die explizite These entwickelt, daß die Offenbarung „mit
dem Tode des letzten Apostels abgeschlossen" sei (vor allem befördert
durch J. H. Newman, in einem Lehrbuch erstmals 1854 formuliert
von J. Perrone, S. 123). Um gleich bei dieser zugespitzten Formulierung
zu bleiben: Angesichts der neueren historischen Einsichten läßt
sich mit einem solchen (fiktiven) Datum „Tod des letzten Apostels"
die Entstehungsgeschichte der neutestamentlichen Schriften nicht
vereinbaren, so daß schon andere Autoren diese Angabe im weiteren
Sinne einer „apostolischen Zeit" verstanden. Schumacher setzt dies
fort und entwickelt eine Sicht, nach der „apostolische Zeit" (in einem
weiteren Sinn), „Zeit der Urkirche" (als normative Gründungszeit)
und „Zeit der Entstehung des Neuen Testaments" (mit dem 2. Petrusbrief
als letzter Schrift) zusammenfallen und bis ca. 150 n. Chr.
berechnet werden. Dies ist eine kleine Operation und historisch m. E.
ebenso unbefriedigend wie die frühere engere Auffassung. Mir scheint
da nur ein problematisches Theologumenon durch ein anderes ersetzt
zu sein.

Die eigentlich brisanten Fragen stellen sich im [. und im II. Teil,
d. h. zum Inhalt der These selbst. Da wird man zwar darüber belehrt,
in wieviel Fällen das „Abschluß-Axiom" eine nützliche oder notwendige
Funktion erwiesen habe, vom Montanismus bis zum Modernismus
, daß es auch von einigen protestantischen Theologen geteilt
werde, daß es neuerdings in eine lebhafte Diskussion geraten, daß es
jedoch vom 2. Vatikanum erstaunlicherweise bewußt nicht übernommen
worden sei (S. 136-140; 159). Aber auf die moderne Diskussion,
in der eben die Sache selbst befragt wird, wird nicht ausgiebig eingegangen
, was entscheidend wichtig und auch fruchtbar gewesen wäre.
Dafür werden die Meinungen nur skizzenhaft vorgeführt (J. Ratzinger
, E. Schillebeeckx, P. Stockmeier, K. Rahner u. a.), jedoch nicht
innerhalb der jeweiligen theologischen Gesamtschau ihrer Vertreter
geortet und zu beurteilen versucht, sondern an dem für Schumacher
im vorhinein festliegenden Begriffs-Raster gemessen. (Wie gut wäre
z. B. der originelle Gedanke von K. Rahner weiterzuverfolgen, daß
die irreversible „Selbstzusage Gottes an die Welt im Christusereignis"
.. . „nicht ab-, sondern aufschließt in eine unendliche Zukunft. ..",
S. 142.)

Der angelegte Raster läßt keinen neuen Denkansatz zur Entfaltung
kommen. Nach Schumacher ist lediglich zu unterscheiden zwischen
einer revelatio in actu primo (Christus und Apostel) und einer reve-
latio in actu secundo (Zuwendung der „abgeschlossenen" Offenbarung
durch die Kirche) (vgl. z. B. S. 153 Mitte!), ferner zwischen
revelatio publica und revelatio privata, Unterscheidungen, mit denen
anscheinend alle Probleme, wie des Joachimismus (S. 93ff) und des
Modernismus (S. 113IT; 117f> gelöst werden können. Die auch durch
offenkundige, mindestens indirekt korrigierte Fehlgriffe des Lehramtes
(„Lamentabili", 1907) unantastbare Überzeugung des Autors
wird wie eine Antiphon unermüdlich wiederholt. Dafür ein Beispiel:
„Der Abschluß der Offenbarung ist uns durch die Offenbarung selbst
mitgeteilt. Er bringt die Wahrheit zum Ausdruck, daß Gott über das
Christusgeheimnis hinaus keine weiteren heilsrelevanten übernatürlichen
Realitäten mehr schafft' und der Menschheit keine neuen Einzelaussagen
mehr übergibt. Wie die Offenbarung überhaupt, so ist
auch ihr Abschluß kontingent, bestimmt durch den positiven Willen
Gottes, der nicht willkürlich, wenn auch letztlich geheimnisvoll für
uns ist. Die abgeschlossene Offenbarung, die Christusoffenbarung,
wird durch die Kirche als Gottes Wort und Gnade in die Welt getragen
. Das ist seither die Weise der Kommunikation Gottes mit den
Menschen" (S. 153).

Es fehlt der Arbeit an Gespür für geschichtliche Prozesse, an einer
hermeneutischen Perspektive, ja auch an Problembewußtsein und an
spekulativer Durchdringung. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen
, den mir so sympathischen Ausdruck „Verblüffungsfestigkeit",
den wohl J. B. Metz geprägt hat, hier anzuwenden.

Vielerlei im einzelnen wäre zu diskutieren, dafür möchte ich nur
drei Bemerkungen anschließen.

1. Als Gesamteindruck hat sich mir erneut die grundlegende Problematik
des Offenbarungsbegriffs, vor allem in seinen neueren Verwendungsarten
und gemessen an der Gesamtaussage des Neuen
Testaments über den mit diesem Begriff angezielten Sachverhalt
gezeigt.

2. Es wäre nicht nur reizvoll, sondern vielleicht auch nötig, zu
untersuchen, welche Anschauungen sich im Neuen Testament selbst
zu der hier aufgeworfenen Frage finden und ob es gelingen könnte, ein
einheitliches Zeugnis des Neuen Testaments dazu aufzudecken (vgl.
etwa die Auffassungen in den Pastoralbriefen und im Johannesevangelium
).

3. Wie würde eine Arbeit mit dieser Thematik ausfallen, die sich an
dem Begriff „Evangelium" (im Neuen Testament, in der Kirchengeschichte
und Systematik) orientierte? Da wären vermutlich vorwärtsweisende
, theologisch befreiende und auch ökumenisch fruchtbare
Auskünfte zu erwarten.2

Leipzig Woll'gangTrilling

' Diese Formulierung ist eine Art Definition des Verfassers für „Offenbarung
".

2 Vgl. den Versuch des Rezensenten für einen Teilbereich: W. Trilling,
„Evangelium" in der Confessio Augustana und bei Paulus, in: Die Conf'essio
Augustana im ökumenischen Gespräch, hrsg. von F. Hoffmann und U. Kühn,
Berlin 1980.

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Reimer, C. [Hrsg.]: Suizid. Ergebnisse und Therapie. Geleitwort von
E.Ringel. Berlin-Heidelberg-New York: Springer-Verlag 1982.
XIV, 218 S. m. 8 Abb. gr. 8 DM 38,-.

Der vorgelegte Band umfaßt achtzehn Beiträge verschiedener Autoren
zur Suizidproblematik. Es handelt sich in der Mehrzahl (bei nur
vier Ausnahmen) um für den Druck überarbeitete Referate, die im
Rahmen der 16. Hamburger psychiatrisch-medizinischen Gespräche
(5. u. 6. Dezember 1980) gehalten wurden. Der Herausgeber möchte
die Veröffentlichung darum aber nicht lediglich als einen fachinternen
Konferenzbericht verstanden wissen, sondern nennt als Leserzielgruppe
alle jene, „die sich aus irgendeiner beruflichen Situation
heraus mit suizidgefährdeten Menschen befassen" (X). Daß damit
auch christliche Seelsorger inkludiert sind, kommt außer durch manche
Einzeläußerungen in der Aufnahme des Beitrages von M. Weimer
„Seelsorgerliche Probleme im Dialog zwischen Suizidenten und
Theologen" (177-190) besonders zum Ausdruck. Die Beiträge sind
überhaupt bemerkenswert frei von jedem psychiatrisch-medizinischen
Zuständigkeitsabsolutismus und betonen wiederholt die Vielfalt
dringlicher Hilfen „bis hin zum bloßen mitmenschlichen Vorhanden
- oder Verfügbarsein" (Böhme, 10), wobei Selbsthilfegruppen.
Notrufdienste wie etwa die Tclefonseelsorge usw. als „ein unschätzbares
Potential der Krisenbewältigung" (Sonneck, 111) hoch gewürdigt
werden.

Das Spektrum der Untersuchungsthemen ist recht vielfältig, worin
ein gewisser Vorzug des Sammclbandes gegenüber der monogra-