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Ausgabe:

1983

Spalte:

289-291

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Böckerstette, Heinrich

Titel/Untertitel:

Aporien der Freiheit und ihre Aufklaerung durch Kant 1983

Rezensent:

Schleiff, Hans

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 4

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der bloßen Vernunft" (1793), die religionsphilosophisch wichtigsten
Abschnitte aus der „Kritik der praktischen Vernunft" (1788), den
ersten Teil von „Der Streit der Fakultäten" (1798) sowie aus Kants
Nachlaß alle das Thema Religion unmittelbar betreffenden Arbeitsund
Vorlesungsnotizen Kants: Reflexionen zur Religionsphilosophie
(die sich über den Zeitraum der sechziger bis neunziger Jahre erstrek-
ken). Zugrunde liegt der Text der von der Preußischen Akademie der
Wissenschaften herausgegebenen Ausgabe von Kants gesammelten
Schriften (Berlin 1910ff). Dieser Ausgabe ist eine ausführliche Einleitung
der Herausgeberin (S. 9-90) sowie ein kurzer Anhang Erläuterungen
(S. 411-416), der die wichtigsten historischen Daten zu den
vier Textkomplexen enthält, beigegeben.

Es sei noch kurz einiges zur Einleitung gesagt. Sie skizziert einerseits
Kants Auseinandersetzung mit Gottesbegriff, Gottesbeweisen und
Unsterblichkeit der Seele aus der Zeit vor den im Text gebrachten
Schriften aus Kants Spätwerk, andererseits gibt sie eine Leitorientierung
zum Verständnis der gebrachten Texte, die zugleich den Zusammenhang
mit Kants Philosophie überhaupt andeutet. Sie hebt ein
Doppeltes hervor: Kants kühne Polemik gegen „Religionswahn" und
..Afterdienst", d. h. gegen ein Kirchentum der Kultgesetzlichkeit, der
..Institutionen als Selbstzweck" (S. 14) und von Glaubensstatuten, das
Unvernünftiges (Wunder) und als inhuman und unmoralisch Empfundenes
(erbliche Sündhaftigkeit, stellvertretende Genugtuung,
Opferung von Gottes Sohn) auf Offenbarungsautorität hin zu glauben
gebietet, sowie Kants Polemik gegen „knechtische, demütige Gemütsart
, Frömmelei und Andächtelei" wie besonders im Pietismus
(S. 57).

Andererseits vermerkt Martina Thom Kants Pragmatismus („als
ein realistischer Denker . ..", S. 57, im Wissen um die „widersprüchliche
Natur des Menschen" und zur Stärkung seines Kampfes gegen
den „Hang zum Bösen", S. 51), daß um der Volkerziehung willen und
zur Befestigung der Moral dem Volk die Religion - und die christliche
als besonders angemessen (S. 65ff) - erhalten bleiben müsse, sofern die
„der Vernunft der Menschen wirklich gemäß" sei und „aus moralischem
Bedürfnis aufgestellte Ideale" (S. 50) wie Gott und Unsterblichkeit
der Seele als bloße (unbeweisbare) Postulate kenne und damit
ganz auf den Zweck der „Moralisierung der gesellschaftlichen Zustände
" (S. 12) zurückgeführt werde. So hat die Religion „ihre positive
Funktion für eine Moralisierung der Menschheit" (S. 42). Sie ist eine
"Stütze der Pflichterfüllung" (S. 76).

Vor dem Leser steht Kant als Anwalt der Aufklärung und Verkünder
einer freiheitlichen Denkweise auch in der Religion, der aber doch
kein „Gottesleugner" sein wollte: „Das Dasein der Gottheit ist nicht
bewiesen, sondern es wird postuliert" (In den Reflexionen zur Religionsphilosophie
, S. 400).

Kurz geht M. Thom auch auf die „Wirkungen der Religionsphilosophie
Kants", vor allem in seiner Zeit selbst, ein. Die Reaktion der
späteren und heutigen protestantischen Theologie auf Kants Reli-
g'onskritik bleibt freilich außer Betracht.

Eine verdienstvolle und wertvolle Kant-Ausgabe.
Berlin Hans-Georg Fritzsche

Böckerstette, Heinrich: Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung
durch Kant. Stuttgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog 1982.453
S. 8- = Problemata, 89.

In> 1. Teil seines Buches zeigt Vf., daß seit der frühen Neuzeit das
geistige und politische Leben des europäischen Kulturraumes zwar
Zunehmend von einem Freiheitsbewußtsein erfaßt wurde, daß man
aber bei der Realisierung der Freiheit auf verschiedene Irrwege geriet.
Exemplarisch werden drei Sackgassen der Entwicklung vorgestellt:
WO Von der Entdeckung der schöpferischen Subjektivität des Menschen
bei Nicolaus von Cues führt eine Linie über den Leib-Seele-

Dualismus bei Descartes zum französischen Materialismus einerseits,
in dem der Mensch als Maschine bezeichnet wird, zum Pantheismus
Spinozas andererseits, in dem der Mensch wie jedes andere Ding als
ein Attribut Gottes verstanden wird. In beiden Gestalten des Monismus
ist die Freiheit des Menschen verlorengegangen. (2.) Leibniz hatte
in bisher nicht gekannter Freiheit den Bereich der erfahrbaren Welt in
Gedanken überstiegen und nach ihrem Bedingungsgrund gefragt. Von
seiner Erklärung, daß diese Welt von Gott verwirklicht wurde, weil sie
die vollkommenste aller möglichen Welten ist, führt eine Linie zu
Christian Wolff, der die Vervollkommnung zur Aufgabe des einzelnen
Menschen wie des Staates erhob und in ihr das Glück entdeckte. Ein
ethisches Gut war damit vorgegeben, das für den anderen auch ohne
dessen Zustimmung und M itarbeit erstrebt werden konnte. Im „aufgeklärten
Absolutismus" sorgte der „Landesvater" für die Beglückung
seiner Untertanen, ohne nach deren Willen zu fragen. Im „Wohlfahrtsstaat
" akzeptierte der Bürger seine Entmündigung. (3.) Hobbes
erklärte in seinem „Leviathan" zum ersten Mal den Staat als ein
Kunstwerk des Menschen und nicht als eine göttliche oder natürliche
Gegebenheit. In einem Vertrage geben die Menschen ihre Freiheit an
einen Souverän ab. Rousseau gelang es, im so verstandenen Staate die
Freiheit des einzelnen zu bewahren, indem er den Bürger für fähig
erklärte, den Willen der Gemeinschaft sich anzueignen. Die Gemeinschaft
kann aber auch Zwang ausüben, wenn Menschen sich noch
nicht mit dem Herzen dem Gemeinwillen übergeben haben. Von da
ist es nicht mehr weit bis zu Robespierre, der Tugend mit Terror
verband und im Namen der Freiheit die Freiheit vernichtete.

Im 2. Teile wird Kant als der Überwinder dieser Verirrungen vorgestellt
. „Kants Begründung des Menschenrechts der Freiheit in der
Menschenwürde ist ideologiekritisch im eigentlichen Sinne, da sie
jede Kritik, die sich im alleinigen Besitz der Wahrheit wähnt, selbst
wiederum der Kritik aussetzt. Kant ist der Philosoph der Endlichkeit"
(S. 32). Das wird zunächst an Kants theoretischer Philosophie veranschaulicht
: Nach Kants „Kopernikanischer Wende", durch die die
Strukturen der Gegenstandswelt im Subjekt, d. h. in der schöpferischen
Spontaneität des Menschen selbst, verankert werden, verliert
die Materie ihren unabhängigen Substanzcharakter und ist nur noch
„eine Art der Bezogenheit innerweltlicher Dinge" (S. 236). Die Natur
wird total mathematisiert. Der Mensch kann so aber nicht zum Ganzen
der Welterkenntnis vordringen, da er synthetisierend an das Zeit-
kontinuum gebunden bleibt. In den regulativen Ideen kann das Unbedingte
zwar gedacht, aber nicht begriffen werden. Im Vergleich zu
einem denkbaren göttlichen Verstand, durch dessen Vorstellung die
Gegenstände zugleich hervorgebracht würden, ist menschliches
Erkennen auf eine Vorgabe bezogen, welche der Mensch - in der
Spontaneität Gott ähnlich - als „principium originarium" zu Objekten
(Erscheinungen) gestaltet (S. 298). In der praktischen Philosophie
wird daher im Wissen um die Begrenztheit des Menschen zwischen
Recht und Tugend unterschieden. Im Recht wird mit mathematischer
Genauigkeit jedem das Seine bestimmt, die Tugend aber bleibt der
Kontrolle entzogen. Kants „Kopernikanische Wende" in der praktischen
Philosophie bestand darin, daß er den Standpunkt des „onto-
logischen bonum" verließ und den „guten Willen" zur neuen Bezugsmitte
des sittlichen Handelns machte (S. 311). Als Ausdruck der sittlichen
Forderung ist er unableitbar, er bietet aber die Grundlage für
alle Ableitungen. In der Autonomie ist die Würde des Menschen
begründet. Der Rechtsstaat erhält somit das Ziel, ein ethisches Gemeinwesen
zu werden, in dem die Würde des Menschen ganz gewahrt
wird. „Der Rousseausche Traum einer neu qualifizierten Gesellschaftsordnung
von freien und nicht entfremdeten Menschen klingt
hier an. Aber im Gegensatz zu Rousseau und seinem Jünger Robespierre
ist Kant davon überzeugt, daß dieser Traum politisch nicht
durchsetzbar ist" (S. 3410- In einem abschließenden Kapitel unter
dem Titel „Die Preisgabe der kritischen Position Kants" wird die folgende
philosophische Entwicklung von Hegel über den Materialismus
, den Positivismus und den Historismus bis hinein in die den ganzen
Menschen erfassenden verschiedenartigsten Denksysteme unseres