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Ausgabe:

1983

Spalte:

271-273

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Seeliger, Hans Reinhard

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte - Geschichtstheologie - Geschichtswissenschaft 1983

Rezensent:

Stöve, Eckehart

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271

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 4

272

Kirchengeschichte: Allgemeines

Seeliger, Hans-Reinhard: Kirchengeschichte - Geschichtstheologie -
Geschichtswissenschaft. Analysen zu Wissenschaftstheorie und
Theologie der katholischen Kirchengeschichtsschreibung. Düsseldorf
: Patmos 1981. 292 S. 8' = Patmos Paperback. Kart. DM
36-.

Auf der Rückseite des Einbandes heißt es: „Die Arbeit versucht,
den ,wissenschaftstheoretischen Rückstand' der Kirchengeschichte
aufzuarbeiten, und entwickelt einen eigenständigen Lösungsvorschlag
zum wissenschaftstheoretischen Status der Kirchengeschichte als Geschichtswissenschaft
im Rahmen der Theologie." Der ambitionösen
Verlagsanzeige entspricht eine ausnehmend breite Palette umfangreicher
Materialien aus dem weiten Bereich geschichtlicher Theoriediskussion
, das in 3 Kapiteln ausgebreitet wird. Das 1. Kapitel: „Kirchengeschichte
- Die Grundlagendiskussion der letzten dreißig Jahre"
bringt in einem ersten Teilabschnitt A einen Überblick über programmatische
Äußerungen katholischer Kirchenhistoriker unseres Jahrhunderts
zum Selbstverständnis ihrer Disziplin. Dabei wird deutlich,
daß nach einer Phase theologisch-ekklesiologischer Kritik am „Positivismus
" der Kirchengeschichtsschreibung zu Beginn unseres Jahrhunderts
neuerdings wieder stärker auf dem empirischen Charakter
der Disziplin gegen theologische Überfremdungen insistiert wird
(Poulat, Alberigo, Conzemius, Antiseri). Wie der Verfasser diese Entwicklung
einschätzt, bleibt unklar. Offensichtlich will er den sich bei
diesen Positionen abzeichnenden Hiatus zwischen Empirie und
Theologie durch ein integratives Konzept überwinden: „Es entsteht
zudem der Eindruck, daß es sich Antiseri bei der Lösung der sprachanalytischen
und wissenschaftstheoretischen Probleme etwas zu
leicht macht. In jedem Fall aber gilt: Die Kirchengeschichte muß erst
einmal an diese Art der Diskussion herangeführt werden" (S. 34; vgl.
auch die Zusammenfassungen am Ende des 1. und 2. Kapitels, S. 106
u.S. 138).

Bevor auf die „Lösung", die der Verfasser seinen Fachkollegen
empfiehlt, eingegangen wird, sei noch kurz auf den weiteren Aufbau
des Buches eingegangen. (Eine ausführliche Erörterung der Darstellung
erübrigt sich, da kein eigenes Analyseinstrumentarium eingeführt
wird, das die verschiedenen und zum Teil ganz unterschiedlichen
Positionen auf eine bestimmte Problemstellung hin zu profilieren
vermöchte. Die Autoren kommen selbst in mehr oder weniger
repräsentativen Passagen zu Wort; die Kritik überläßt der Verfasser
der einschlägigen Sekundärliteratur, wobei er sich selbst bescheidene
Zurückhaltung auferlegt. Daß so bei der Breite und Fülle des Materials
bündelnde Gesichtspunkte nicht entstehen können, liegt in der
Natur der Verfahrens.) Im 1. Kapitel schließen sich an den bereits
erwähnten Teilabschnitt A über die methodische Selbstreflexion
katholischer Kirchenhistoriker noch zwei weitere Teile an: ein Abschnitt
B diskutiert ekklesiologische Konzepte der Dogmatik im Blick
auf eine eventuelle gegenstandsbezogene Präzisierung der Kirchengeschichtsschreibung
(„Materialobjekt"); der abschließende Teil C
bringt eine erste Einführung in methodische Fragestellungen der
Historiographie („Formalobjekt"). - Es folgt dann ein kürzeres
2. Kapitel „Geschichtstheologien", in dem moderne protestantische
und katholische Theologien nach ihrer Zuordnung von „Heilsgeschichte
" und „Weltgeschichte" (Weltgeschichte als Inbegriff historisch
-kritisch rekonstruierbarer Vergangenheit) befragt werden. Das
Fazit lautet: „Fest steht nun einstweilen Folgendes: Wird von einem
Methodendualismus ausgegangen, so ist es kaum möglich, die
genannten, gefährlichen Klippen einer (bloß) subjektiven Gläubigkeit
zu umschiffen;...". - Im 3. Kapitel: „Theorie der Geschichtswissenschaft
" wird an einigen ausgewählten prominenten Beispielen ein
Überblick über die neuere theoretische Diskussion zu geben versucht,
wobei die Frage nach Voraussetzung und Grenzen historischer Aussagen
eine besondere Berücksichtigung erfährt.

Ein kurzes 4. Kapitel: „Zusammenfassung" enthält dann nach

einer Skizzierung der Defizienzen aller bisherigen Bemühungen um
eine Präzisierung der historiographischen Leistungsfähigkeit den
eigenen Lösungsvorschlag: „Die Lösung sehe ich nun darin, statt Voraussetzungen
und Topiken zu bedenken, verstärkt die Seite der Pragmatik
zu beachten, das Stiefkind der bisherigen Grundlagenüberlegungen
. Es soll damit der fällige Schritt von der theoretischen zur
praktischen Vernunft auch in der Geschichtswissenschaft getan werden
." „Das aber heißt: Der Ausarbeitung einer Korrespondenztheorie
der Wahrheit muß im Rahmen der Kommunikations- und Handlungstheorie
verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, während
bisherige Konsensustheorien oder systemtheoretische Wahrheitstheorien
abzulehnen sind." Zu den Folgerungen zählen auch solche Einsichten
: „In der Geschichtswissenschaft gibt es keine Abbildungsobjektivität
, keine ,reine' Vergangenheit, sondern jede erklärende Geschichte
ist eine ad hoc zu einer temporalen Einheit organisierte
Beschreibung eines früheren Ereignisses im Lichte eines späteren: dies
ist ein nicht abschließbarer und zur Eindeutigkeit zu bringender Prozeß
, ...". Solche Unabschließbarkeit berge eine „kritische Kraft", die
sich „immer wieder gegen abgeschlossene Systeme des Wissens"
sträube (S. 235). Der Ort solcher ständiger Revision sei im „Kommunikationszusammenhang
Kirche" gegeben (S. 236).

Sodann wird auch „die Aufgabe für die systematischen Fächer
angegeben": Ereignisse zu erzählen, bevor sie geschehen seien: „apokalyptische
Geschichten", „Geschichten vom Erbarmen Gottes mit
allen Menschen" etc. (S. 236). „Der Kirchenhistoriker allein kann
zwei Textsorten, die seiner geschichtswissenschaftlichen Geschichten
und die jener theologischen Geschichten, kontrastierend miteinander
kombinieren; ... Es beginnt dann die Geschichte"(wieder Singular!]
von innen heraus zu leuchten, es blitzen jene ,echten historischen Bilder
' auf, die in der Geschichte nur mehr sinnvoll sind, wenn sie Gott
den Erlöser indizieren, der unseren zerbrechlichen Zusammenhang
von Plausibilitäten aufsprengt." (S. 237). Hier liege die fundamentaltheologische
Aufgabe des Kirchenhistorikers: „sich Geschichte so vor
Augen zu führen, wie der Mensch sie zu fassen vermag . ..: unab-
schließbar, theoretisch fragil, ohne die Möglichkeit, Hoffnungen zu
deduzieren, zugleich aber ohne die Erzählung von Hoffnung unerträglich
" (ebd.).

Probleme im Zusammenhang der Frage nach der theologischen
Dimension der Kirchengeschichte beginnen dort, wo der Verfasser
endet: bei der Verortung der Kirchengeschichtsschreibung in den
„Kommunikationszusammenhang Kirche". Wer ist diese Kirche? Ist
es die verfaßte Kirche, bzw. genauer die verfaßten Kirchen? Solche
Fragen führen unausweichlich zum Problem des Pluralismus verschiedener
Wahrheitsansprüche, denen entsprechend verschiedene
Geschichten zugeordnet sind. Zwar läßt sich spiritualistisch eine Einheitjenseits
der Vielfalt historisch gewachsener kirchlicher Institutionen
konstruieren - was in der Geschichte immer wieder geschehen ist
-, doch handelt es sich bei diesen spiritualistischen Konstrukten
gerade nicht um historisch rekonstruierbare Kommunikationsgemeinschaften
, sondern um Ideale jenseits historisch-konkreter Realität
. Gerade das Aussparen solcher Überlegungen verleitet dazu, daß
bestimmte dogmatisch tabuisierte ekklesiologische Modelle, die sich
in ihrem Wahrheitsanspruch historischer Kritik gar nicht stellen, hinter
der Fassade eines unverfänglichen Kommunikationsbegriffs „fröhliche
Urständ feiern" (vgl. z. B. W. Brandmüller, AHC 9 [1977], 423:
„Geraten geoffenbarter Glaube und wissenschaftliche Forschung in
Konflikt, war entweder die Interpretation des Glaubensinhalts oder
das Ergebnis der Forschung unzureichend."). Die Bevorzugung von
auf transzendentale Einheitsstiftung abzielenden Theoriekonzepten
aus dem breiten Spektrum gegenwärtig diskutierter geschichtstheo-
retischer Modelle wie das von H. M. Baumgartner indiziert zumindest
eine Neigung des Verfassers zu Einheitskonzepten, die solchem dogmatischen
Wahrheitsanspruch entgegenkommen.

Das Abklingen des Bedürfnisses nach theoretischer Grundlagenklärung
in der Geschichtswissenschaft überhaupt und in der Kirchengeschichte
im besonderen, das der Verfasser in der Einleitung konsta-